Schöne Beine - Die erste Staffel der Strudlhofstiege in 12 Folgen
Indianerkrapfen statt Brandteigkrapfen
von Eva Maria Klinger
Wien, 31. Dezember 2007. Gert Voss' virtuose Brandteigkrapfen-Szene in Thomas Bernhards "Ritter Dene Voss" hat eine lässige Nachfolge: Christian Dolezals komödiantische Indianerkrapfen-Szene in der Comedy-Version der "Strudlhofstiege". Als Stadtflaneur aus reicher Industriellenfamilie, der seine Womanizer-Begabung schon als Gymnasiast erkennen lässt, schleppt er eine Straßenbekanntschaft in ein für seine Indianerkrapfen berühmtes Café ab. Simultan verzehrt er zehn Krapfen, umgarnt das Mädchen, indem er ihr den von der süßen Fülle klebrigen Finger begehrlich in den Mund steckt und brilliert dabei noch mit einer historischen Erläuterung des Einhorns, die Vorwand für den Kaffeehausbesuch war.
Eine nicht nur kulinarisch köstliche Szene. Vor Blümchentapeten auf abgewetztem Sofa und in voluminösen Fauteuils geht die Wiener Jeunesse d'Oré ihren vorwiegend heterogeschlechtlichen Neigungen nach, weshalb sich am Ende alle irgendwann und fallweise sogar auf der titelgebenden Strudlhofstiege begegnet sind.
Sie sind alle noch unter uns
Das von Andreas Beck vor einem Monat neu eröffnete Wiener Schauspielhaus hat sich der lebenden Autorenschaft verschrieben, ein ästhetisches Programm, mit dem die Spielstätte in den 1980er Jahren unter Hans Gratzer schon einmal zur Kultstätte zeitgenössischer Theaterliteratur aufgestiegen war. Heimito von Doderer, Säulenheiliger der österreichischen Literatur nach 1945, ist der einzige tote Autor, der in dieser Spielzeit zugelassen ist.
Der Anlass zum Ausriss war ein geographischer. Das reiche Personenarsenal der 1951 erschienenen "Strudlhofstiege" lebt, liebt und lügt im Umkreis derselben, wo sich auch das Schauspielhaus befindet. Mit der 12-teiligen Aufführung im Stil einer schrägen Sitcom erweist das Theater dem genius loci eine Reverenz und beweist einem heutigen Publikum, dass sie alle noch unter uns sind: die despotischen Väter, die liebes- oder auch nur vergnügungssüchtigen Damen, die verantwortungslosen Verführer und die faden Ehemänner.
Ein feingliedriges Sittengemälde
Doderer zeichnet auf 900 Seiten in einer komplizierten Konstruktion ein Sittenbild der besseren Wiener Gesellschaft vor und nach dem Zusammenbruch der Monarchie. Teile der Handlung spielen 1911, andere zwischen 1923 und 1925. Weder wird chronologisch erzählt, noch bietet der Standpunkt des Erzählers einen Anker, denn dieser blickt allwissend Jahrzehnte später zurück und erzählt gewissermaßen Bruchstücke seiner Erinnerung.
Diese für einen Roman reizvolle Konstruktion verhalf dem damals 55-jährigen Autor zu einem spät gezündeten Durchbruch – aber Bühnentauglichkeit kann man dem Werk wahrlich nicht attestieren. Seitenlang verliert sich Doderer in Personenbeschreibungen, Schilderungen von Stadtlandschaften, Kaffeehäusern, Wetter- und Gefühlslagen.
Erhöhtes Vergnügen
Erste Schutzherrin des maßlosen Vorhabens, diesen Roman in zwölf Folgen doch zu inszenieren, ist Daniela Kranz, die nicht nur die 75-Seiten-Portionen pro Folge dramaturgisch aufbereitet, sondern mit ihrer Inszenierung der Exposition die Latte gleich hoch legte. Spielstil und Erzählweise können sich in den nächsten elf Folgen krass verändern, weil elf verschiedene Jung-RegisseurInnen am Werk sein werden – eine Brutstätte für Regie-Nachwuchs.
Vier Schauspieler erzählen bei Kranz das wienerische Gesellschaftsgemälde mit erfrischender Spielfreude. Neben dem erwähnten Christian Dolezal als René Stangeler, spielt Johannes Zeiler den Major Melzer, jenen liebenswürdigen, aber etwas beschränkten Einzelgänger, den seine Entschlusslosigkeit vor den Katastrophen, die die anderen heimsuchen, bewahrt.
Beide Herren und die jungen Damen Angela Ascher (Etelka Stangeler, Renés in der Flirtkunst ebenbürtige Schwester) und Marion Reiser (das Flittchen Editha Pastré) übernehmen in dem verästelten Gesellschaftspanorama auch weitere Rollen, was das Vergnügen erhöht.
Nur wer das Unmögliche wagt, kann es auch erreichen. Nach der vom Publikum bejubelten Premiere hält man das Unmögliche sogar für möglich.
Schöne Beine
1. Folge von "Die Strudlhofstiege" in 12 Folgen nach Heimito von Doderer
Regie: Daniela Kranz, Ausstattung: Elke Gattinger. Mit: Angela Ascher, Christian Dolezal, Marion Reiser, Johannes Zeiler.
www.schauspielhaus.at
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
meldungen >
- 20. Januar 2023 Löwen der Theaterbiennale Venedig 2023
- 20. Januar 2023 Schauspieler Werner Riemann gestorben
- 20. Januar 2023 NRW-Haus unterstützt Theater-Wiederaufbau in Beirut
- 20. Januar 2023 Defizit beim Sorbischen National-Ensemble
- 20. Januar 2023 Parchim plant Theater-Neueröffnung für Mai 2023
- 18. Januar 2023 Kleist-Förderpreis an Elisabeth Pape