Schuld und Sühne - Martin Laberenz inszeniert Dostojewski im Centraltheater Leipzig
Raskolnikows Kopfkino
von Tobias Prüwer
Leipzig, 20. Dezember 2012. Um kurz vor den jahresendzeitlichen Festivitäten und dem Verfassen guter Vorsätze noch fix über "Schuld und Sühne" zu sinnieren, lud die Skala in Leipzig ein. Regisseur Martin Laberenz inszeniert textlich gar nicht so frei nach Dostojewski, zeigt sich aber erstaunlich leichtfüßig in der Umsetzung und Wahl der Mittel.
Eine positive Überraschung ist bereits die Bühnengestaltung. Die Zuschauer starren zunächst auf eine Art weißen Kubus, der den Blick aufs Bühneninnere verwehrt. Von der Decke herabhängende, halbtransparente Plastikplanen grenzen diese ab, erst später wird der White Cube geöffnet, bevor die Zuschauer nach der Pause sogar selber im vollkommen leeren Geviert Platz nehmen. Das Spiel beginnt mit einem Prolog auf der Bierbank, die direkt gegenüber der ersten Zuschauerreihe aufgebaut ist. Drei Darsteller kommen herein, nehmen auf dem Brett Platz. Das Trio stopft Kassler mit Kartoffeln und Gürkchen in sich hinein, schmatzt und grunzt, übergibt sich fast. Dichter am Publikum hätten diese ersten Minuten nicht vergehen können. Sieh da: ein Mensch.
Eng am zusammengestrichenen Text
Als die drei das Wort ergreifen, wird rasch klar, sie geben zusammen Rodion Romanowitsch Raskolnikow, jenen elenden Jura-Studenten, aus dessen Kopfkino der „Schuld und Sühne“-Stoff im Wesentlichen besteht: Der nicht überführte Mörder zweifelt an seiner Herrenmenschenideologie und geht an der auf sich geladenen Schuld fast zugrunde. Seine Zerrissenheit zwischen Gewalttat – sie wird als hübsch-groteskes Schattenspiel auf die Vorhangplane projiziert – und Gewissensbissen wird so plastisch. Statt innerem Monologisieren gedeiht sein Kampf mit sich selbst, der Konflikt des selbststilisierten Genies mit dem faktisch ganz gewöhnlichen Menschen Raskolnikow zum facettenreichen Dialog.
Um allzu viel Psychologisieren ist es in der Inszenierung im Gegenteil zu Dostojewski ohnehin nicht bestellt. Sie nimmt den russischen Romancier zwar beim Wort, verzichtet aber auf dessen ausladendes Tiefenlot. Der zusammengestrichene Text, ein paar weitere Beschneidungen hätte der Abend vertragen können, ist die Basis für ein unkonventionelles Sprechtheater-Stationendrama. Dessen Rückgrat bilden die sechs hervorragenden Darsteller, die auch dann konzentriert und sicher spielen, wenn sie zwischen Zuschauerbeinen balancieren. So schmieren selbst die intimen Momente nicht ins Peinliche ab.
Kein Mucks über die russische Seele
Nur manchmal fallen die Schauspieler aus der Rolle – wenn sie es sollen. Doch wirken solch kleine, aber nicht aufdringliche Theateranspielungen weniger aufgesetzt als man sie aus anderen Leipziger Inszenierungen kennt. "Ich brauche dieses ganze Theater nicht", heißt es einmal, als gen Schluss nicht nur die vierte Wand, sondern alle anderen drei Plastikabgrenzungen gleich mit dran glauben müssen – gemeint ist aber ein amouröses Tamtam. Und wenn ein Protagonist mit Blick aufs Publikum eine Landschaft als verstörend beschreibt, die immer einen kalten Eindruck auf ihn hinterlassen habe, als von stillem Geist beseelt, lässt sich das mit einem Lachen verschmerzen.
Es ist die Leichtigkeit, mit der Martin Laberenz seine Figuren durch die eigentlich vielschichtige Geschichte führt, die überrascht. Dabei konterkariert die historische Kostümierung der Darsteller den kulissenlosen Bühnenraum und den spärlichen Requisiteneinsatz, was man als ironischen Fingerzeig auf eine zu naturalistische Inszenierungspraxis deuten mag. Vom oft gewohnheitsmäßig abgespulten Lamentieren über die schwermütige russische Seele gibt es auch keinen Mucks. Darunter leidet das empathische Spiel keineswegs, das Abstreifen des Lokalkolorits legt vielmehr den thematisch zeitlosen Kern um das mörderische Potential des Menschen und die Banalität des Bösen frei. Statt in Dostojewskis Epilog über die moralische Auferstehung Raskolnikows durch seine Christianisierung zu enden, schließt sich hier der Handlungskreis im leeren, nun völlig ausgelöschten Bühnenquadrat mit einem Zurück zu Kassler und Gürkchen.
Schuld und Sühne
nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewski
Regie: Martin Laberenz, Konzeptionelle Mitarbeit: Christoph Wirth, Ausstattung: Peter Schickart, Musik: Friederike Bernhardt, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Manolo Bertling, Edgar Eckert, Sebastian Grünewald, Ingolf Müller-Beck, Linda Pöppel, Birgit Unterweger.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause.
www.centraltheater-leipzig.de
Sonst verwende Martin Laberenz oft eine ähnliche Formsprache wie René Pollesch, referiert Stefan Keim im Deutschlandradio Fazit (20.12.2012). "Doch diesmal gibt es keine Livevideos, nicht die Nahaufnahme einer Kamera, sondern körperliche Nähe zum Publikum." Nach der Pause säßen die Zuschauer sogar eine halbe Stunde lang auf der Spielfläche. Außerdem agierten die Schauspieler nicht ganz überdreht. "Da ja auf der Bühne Hysterie inzwischen in der Maßeinheit Pollesch gemessen wird, könnte man sagen: Über weite Strecken bewegt sich die Aufführung ungefähr bei 0,5 Pollesch." Laberenz gebe in seiner recht geradlinigen Erzählung des Stoffs keine eindeutigen Hinweise, dass es hier auch um die Frage gehe, warum sogenannte Amokläufer töten. "Das kann sich das Publikum selbst denken." Die Zuschauer würden schon gefordert, denn in den Nebenhandlungen um Raskolnikows Schwester, ihren Liebhaber und die aufopferungsvolle Prostituierte Sonja den Überblick zu behalten, sei nicht leicht. Da verliere die Aufführung manchmal ihre Gedankenklarheit. "Aber sie hat auch viele starke Momente."
"Aus der Textsuada des Romans hat Martin Laberenz Szenarien destilliert, die auf erstaunlich leichte Art dahinfließen", so Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (22./23.11.2012). Die Inszenierung verrate ihre Figuren nicht, "das Drama findet wirklich statt". Inklusive gelegentlicher Banalitäten sei das gut gedacht und mehr als nur solide gemacht.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
meldungen >
- 20. Januar 2023 Löwen der Theaterbiennale Venedig 2023
- 20. Januar 2023 Schauspieler Werner Riemann gestorben
- 20. Januar 2023 NRW-Haus unterstützt Theater-Wiederaufbau in Beirut
- 20. Januar 2023 Defizit beim Sorbischen National-Ensemble
- 20. Januar 2023 Parchim plant Theater-Neueröffnung für Mai 2023
- 18. Januar 2023 Kleist-Förderpreis an Elisabeth Pape
seine Räuberinszenierung in leipzig war aber ziemlich beschissen ...
www.dostojewski.eu
prägt nicht unwesentlich den allerdings durchaus selbstständigen "Leipziger Stil".
Keine Frage, daß Laberenz-Arbeiten an Pollesch erinnern, so war es bei "Idioterne" und bei dem gelungenen Dostojewskij-Voräufer "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch",
aber ich würde das nicht als "epigonal" brandmarken. Freilich, was Dostojewskij-Adaptionen im Speziellen angeht, so werden die wohl nicht nur hierzulande in etwa datiert "vor Castorf" oder "nach Castorf", und im Leipziger Fall kommt nun eben beiderlei zusammen, die Pollesch- und die Castorfnote bzw. deren "Unterdrückung". Vorfreude darauf auch bei mir. Man erinnert sich auch ein wenig, daß die Frage nicht nur heißt, wo Herr Hartmann so bleibt. Ähnlich geht es ja auch mit mancher/manchem SpielerIn bzw. mit Laberenz und sogar mit Paoli. Wenn da jemand in Leipzig Neuigkeiten zu hat: nur los !.
Dem schließe ich mich vorbehaltlos an. Tausend Dank für den gestrigen Abend !
Das war auf einer kleinen Bühne ganz großes Theater.
Umwerfende Schauspieler. Diese Spiellust findet man nicht an jedem Theater. Danke für ein beeindruckendes Erlebnis!
Richtig, diese "Spiellust" -wie Sie das nennen- zeichnet auch den Abend zu Lotz aus.
Der "Große Marsch" wird dann allerdings, was ich auch ganz spannend finde, den Weg auf die Festspielbühne gehen und so seine Natur, ein "Skala-Abend" zu sein, wieder ein wenig "abstreifen", währenddessen "Schuld und Sühne" nur noch zweimal zu sehen sein wird, am 21.2. und 28.2., ja mit "Schuld und Sühne" endet die Skala-
Zeit (wohl), und es ist dann ganz sicher ein würdiges Ende. Wer einmal ein wenig Tuchfühlung mit den Spielerinnen und Spielern beider Produktionen aufnehmen will, selber in eine "Rolle" schlüpfend, selber professionell geschminkt und umgekleidet
zB. mit Edgar Eckert oder Linda Pöppel (Rodion und Dunja in "Schuld und Sühne")
an einem Film-Set zusammenarbeiten will, dem seien nochmals die "Umdreharbeiten"
wärmstens ans Herz gelegt !.
dieser Inszenierung aufführen, so käme ich gewiß auf folgende Punkte:
- die "Dreiheit" des Raskolnikow nicht als in Aspekte gespaltene Person, sondern gleichsam als parfitsche Person. Ähnlich wie in der Mr. Timeless-Konstruktion des amerikanischen Philosophen erscheint hier Zeit als örtlich, die drei Raskolnikows sind sozusagen drei "Raskolnikow-Orte" in Zeiteinheit, sie zeigen gleichsam auf, was von Rasumichin, der Familie (Dunja, Mutter), Marmeladow durch ihn lebt
- die Konfrontation ZuschauerInnen und vor allem Untersuchungsrichterin als körperliche Erfahrung: die ZuschauerInnen als die Gewöhnlichen gewissermaßen des Raskolnikowschen Ansatzes als Grund-Spannung auf der Bühne. Spiel als gesteigertes Leben
- die Aufwertung der Figur des Arkadij Swidrigailow mitsamt einer Dunja, die ein wenig gen "Dunja Gabler" ging
- die dezente, nicht aufgesetzte Aufnahme der "Zeitumstände" qua überraschenden Verweis auf die Puschkin-Rede vom 8.6.1880 ! Zunächst könnte gerade das als Schwäche und Epigonentum erscheinen, denn gerade Castorf-Arbeiten sind voll von solchen Dostojewskij-Gesamtwerk-Heranziehungen , so wie Laberenz es macht, entspricht es aber eher dem obigen "Timeless"-Verfahren, zumal diese Szene vom Zuschauer-Platz aus vor sich geht. Hier wird ein gewisser Bruch geschaffen, der auch den Einbruch des Heiner-Müller-Themas aus dem Stückbegleitmaterial nahelegt
- großartige Erweiterung der Swidrigailow-Perspektive durch die Geschichte vom Treffen des Spiegelvaters unter Eis, die sehr produktiv sein kann, wenn man beginnt zu fragen: Was hat Vater, Mutter, Onkel, Tante so getan als sie so alt waren wie ich heute bin? Es kommt mitunter zu überraschenden Einsichten, Klärungen
Das war gestern noch mal großartig. Und sehr ergreifend.
Ein angemessener Schlusspunkt.
Von Martin Laberenz wird man noch einiges hören, da bin ich mir sicher.
Danke für diese Inszenierung. Danke an die großartigen Schauspieler.
Danke für viele unvergessliche Momente in den letzten 5 Jahren.
R.I.P. Skala
Ich für meinen Teil bin ein Zuschauer, der wiederholt nach Leipzig gefahren ist, weil mich gerade die Arbeit an der "Skala" überzeugt hat, weswegen ich auch zum stillen und würdigen "Skala-Abschied" (Februar) noch einmal hingefahren bin. Von Martin Laberenz sah ich "Idioterne", "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" und nun "Schuld und Sühne" und sehe sowohl eine Entwicklungslinie durch diese Abende hindurch als auch eine zunehmend eigenständige, spannende Handschrift eines jungen Regisseurs;
liebend gerne würde ich zB. sehen, wenn Laberenz sich nun an dem "Jüngling"
versuchen würde, der meineserachtens zu unrecht ein wenig in der Überlieferung zurücksteht gegenüber den anderen großen Dostojewskijromanen: dabei handelt es sich doch um einen Arkadij, der ein Rothschild werden will.
Von Claque ist bei mir keine Spur..