Republik Freies Wendland - das Staatstheater Hannover eröffnet sein Ausbildungscamp für zivilen Ungehorsam
Drama, Baby!
von André Mumot
Hannover, September 2010. Das muss ja wohl die Ruhe vor dem Sturm sein. Noch geht es ziemlich unauffällig zu im mit öffentlichen Mitteln geförderten Ausbildungslager für zivilen Ungehorsam. Auf dem beschaulichen Ballhofplatz, vor der Nebenspielstätte des Schauspiels Hannovers, wird ein bisschen gehämmert, Holzwände werden hochgezogen, und Jugendliche sitzen entspannt auf Bänken, essen Reis und Fleisch und Sauce. Sie haben ihre Holzhäuschen noch nicht ganz fertig gebaut. Aber schon Gardinen aufgehängt. Vermutlich zur Harmlosigkeits-Vortäuschung. Bestimmt. Im Hintergrund dieser Reenactment-Hommage an das legendäre Hüttendorf im Wendland grummelt jedenfalls der Widerstands-Widerstand.
Bloß keinen Lärm
Dramaturg Aljoscha Begrich, der die zehntägige Dependance der Republik Freies Wendland zusammen mit Regisseur Florian Fiedler für das Schauspielhaus organisiert hat, plaudert lässig über den erwartungsgemäßen Gegenwind. Es hat sich ja nicht nur CDU-Landtagsabgeordneter Dirk Toepffer zu Wort gemeldet, dem die Aktion nicht "theateristisch" genug ist, und der meint, es böten "die drei Sparten Komödie, Drama und Tragödie etc. (sic!) genug Möglichkeiten, der Jugend kulturelles Wissen zu vermitteln."
Auch das Innenministerium hat die Polizei, so Begrich, in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Außerdem lässt die FDP wissen, sie fände das Projekt rücksichtslos, jetzt, wo das Thema Laufzeitverlängerung sowieso schon hochkoche. "Und es gibt auch eine Nachbarschafts-Initiative gegen Aktionen auf dem Ballhofplatz", fügt Begrich hinzu, "aber deren Mitglieder kommen immer zu uns und sagen, dass sie das, was wir hier machen, total toll finden – die wollen eben bloß keinen Lärm."
"Wir bauen Kultur mit ein"
Nun, den müssen sie an diesem Abend auch nicht befürchten, auch keine Barrikaden – nur jede Menge nostalgische Transparente, liebevoll gemalte Plakate, auf denen Sachen stehen wie "Atomausstieg ist Handarbeit" und "Keine Macht für Niemand". 40 Jugendliche aus Hannover kampieren hier, experimentieren mit der Basisdemokratie und dem Utopie-Entwickeln, gestalten und erleben Workshops, Diskussionen und Konzerte. Einer von ihnen, der 17-jährige Yannick, spielt gerade Gitarre und singt, was live vom Lokalradio übertragen wird. "Das ist hier auch was ganz anderes als die Groß-Demo in Berlin", sagt er dann. "Uns kann jeder ansprechen, und das tun die Leute auch. Wir diskutieren. Und wir bauen die Kultur mit ein."
Yannick jedenfalls macht gleich bei beiden Aufführungsprojekten mit, die Regisseur Florian Fiedler hier auf die Open-Air Bühne bringen wird. Dürrenmatts "Physiker" und eine "Tschernobyl-Kantate". Was sich schon ziemlich theateristisch anhört, wie man zugeben muss. Genau wie der Auftritt der Wendland-Veteraninnen, die sich an diesem Abend in die Hütten setzen und ihren Erfahrungsschatz ausbreiten.
Von der Hinterwäldlerin zur Aktivistin zur Veteranin
Die 84-jährige Wendländerin Lilo Wollny etwa erzählt, wie sie selbst damals politisiert wurde, betont immer wieder, dass sie ja bloß eine einfache Hausfrau gewesen sei, eine "Hinterwäldlerin", die keine Ahnung hatte von der Gefahr der Atomkraft, von Tiefenbohrungen und Endlagerplänen. Bis das Ganze vor ihrer Haustür stattfand, "in meinem Paradies". Und dann: Demonstrationen, der große Treck nach Hannover, gigantische Protestmärsche, bei denen jeder eine Osterglocke als Friedenszeichen vor sich hergetragen hat.
Später die erste Begegnung mit militanten Feministinnen, die sich beinahe mit ihrem Ehemann geprügelt hätten. "Und vor dem hatten sogar die Polizisten Angst", sagt die Aktivistin der ersten Stunde. Sie lacht, und die Nachgeborenen hängen mit großer Zuhörer-Verzückung an ihren Lippen. Es weht eine Sehnsucht durch den Abend, die auch eine alte Sehnsucht des Theaters ist: die Sehnsucht nach der inszenierten Aktion, die tatsächlich etwas bedeutet und Bewusstsein schafft.
Schillers Ungehorsam
Das "Es war einmal" des zivilen Ungehorsams – kann es von der Freiluftbühne aus zur Initialzündung werden? Die fabulöse Lilo Wollny ist durchaus angetan von den sich ästhetisch und politisch schulenden Reenactern und ihrem Recherche-Spiel, das sich irgendwo zwischen Tragödie, Drama, Komödie und Nicht-Drama entfaltet.
"Ich bin dankbar, dass das Theater sich traut, so etwas zu machen", sagt sie. "In Hamburg ist mal ein Intendant geflogen, weil er ein Anti-Atom-Stück auf den Spielplan gesetzt hat. Und es ist toll, dass sich hier junge Leute engagieren, die auch nachdenken. Das hat ja mit Chaoten nichts zu tun." Und die 65-jährige Weggefährtin Susanne von Imhoff sagt: "Schillers 'Räuber' waren ja auch nicht gerade zivil." Ne, ne, aber eben viel theateristischer. Vielleicht.
Republik freies Wendland - Reaktiviert
Konzept: Aljoscha Begrich, Florian Fiedler, Axel Töpfer, Sven Wörner, Martin Engelbach
www.staatstheater-hannover.de
Hier geht's zur Meldung über den Einspruch des CDU-Landtagsabgeordneten Dirk Toepffer, der findet: "Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines Theaters".
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Gleich am Dienstag werde ich hinfahren ...
ungehorsam.net
Wir leben in einem Gemeinwesen, das sich das hohe Gut des freien Meinungsaustauschs errungen hat. Eine Torte als Argument ist ein Angriff auf dieses Gut, und somit auch ein Angriff auf das Gemeinwesen. Das ist nicht harmlos! Begreift das bitte!
Und vielleicht war die Torte im Gesicht ja auch nur ein lieb gemeintes (Geburtstags-)Geschenk - siehe die Szene in Gus van Sants "Milk".
"Ein Krieg aus der Luft, ein Bombenkrieg gegen einen unsichtbaren Feind, gegen die Verkehrsverbindungen und die wirtschaftliche Infrastruktur, ein Krieg gegen Telefon- und Internetverbindungen, ein Angriff gegen fließendes Wasser und elektrischen Strom in Wohnungen, vor allem aber ein Krieg gegen die zivilen Ziele aller Nationalitäten und aller Religionen, ein Krieg, der irgendwo weit weg stattfand, weit unten auf der Erde."
(Biljana Srbljanovic)
Letztlich also die Frage: Kann man Grundrechte herbeibomben? Kann man die aus der eigenen Geschichte hergeleiteten Überzeugungen und Wertmaßstäbe ungebrochen auf andere historisch-gesellschaftliche Kontexte projizieren? Die Torte auf Trittins Anzug verweist möglicherweise darauf, dass auch Politiker nicht in jedem Fall ihrem sauberen Image genügen können, dass auch Politiker privat und politisch versagen können.
Und nur, damit hier kein Missverständis aufkommen, auch ich bin für die Universalität der Menschenrechte. Keine Frage.
www.staatstheater-hannover.de/schauspiel/index.php?m=1&f=06_news&ID_News=138
das imperium schlägt zurück...
die frage ist nur noch, soll man die cdu dafür lieben (weil sie politisches theater erst möglich macht), oder hassen (weil sie politischem theater gefährlich werden kann)?