Die Schmutzigen, die Hässlichen & die Gemeinen - Karin Beiers tonloses Armutstableau nach Scola
Das Gift der Armut
von Sarah Heppekausen
Köln, 8. Januar 2010. Zu sehen gibt es eine Menge in der langen Containerbaracke, die sich über die ganze Breite der Halle Kalk erstreckt: Sich schlagende, begrapschende, schminkende, Geld zählende, Gameboy spielende, Chips in sich hineinstopfende Mitglieder einer Großfamilie. Nur zu hören ist nichts. Die großen Fenster lassen Blicke zu, aber keinen Ton heraus. Als endlich jemand die Wohnung verlässt, dem schalldichten Raum einen Schlitz verpasst, schreit gleich ein anderer: "Tür zu!"
Nichts zu machen. Solange sich die Schauspieler im Inneren des Containers aufhalten – und das tun sie meistens – sind sie akustisch nicht wahrzunehmen, bleiben ihre Worte bloße Mundbewegungen. Karin Beier inszeniert Ettore Scolas "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" – betitelt als Uraufführung – als nahezu lautloses Seh-Stück. Während bei Scola häufig die Flüche, die Schimpfereien und das Babygeschrei schon zu hören sind noch bevor die Kamera das passende Bild einfängt, erklärt sich in der Theateraufführung das Wort nur durch das Bild, durch die Geste.
Schamloser Blick in die schmutzige Welt der Unterschicht
Die Schauspieler sprechen ja die ganze Zeit, nur kann sie der Zuschauer nicht hören. So entpuppt dieser sich in der Vorstellung permanent als Voyeur, der lustvoll Szenen beobachtet, die ihn eigentlich nichts angehen. Beier präsentiert den schamlosen Blick von außen in die schmutzige Welt der Unterschicht. Scolas Sozialdrama, das als polemischer Angriff gegen Pasolinis Glauben an die revolutionäre Kraft des Subproletariats, gegen die Illusion einer Solidarität der Armen, verstanden wurde, erhält so eine weitere kritische Komponente, durch eine sozusagen zugeschaltete Perspektive. Der Zuschauer, der nicht hört, was nebenan, was vor seinen Augen passiert, muss auch nicht tätig werden.
Damit ist die Inszenierung im Heute. Und da will Karin Beier auch hin: Scolas Familie aus den Elendsvierteln Roms der 70er Jahre verlagert die Regisseurin nach Deutschland. Statt Maccaroni wird Fertig-Kartoffelbrei serviert, statt Wein gibt es Bier aus Plastikflaschen. Attribute des hiesigen Prekariats sind Handy, Bildzeitung, Aldi-Tüte, Flachbildschirm und Trainingsanzug (Kostüme: Maria Roers). Scolas fliegender Händler Cesaretto heißt in Köln "Karl-Heinz Kaczmarczik's rollender Schnäppchenmarkt".
Es sind extrem viele Klischees, die Beier bedient, gnadenlos. Um Scolas neorealistischen Ansatz transportieren zu können, muss allerdings auch eine Aktualisierung stattfinden.Wie im Film treiben die Gier nach Alkohol, Sex und Geld die Familienmitglieder an. Ausgelebt werden die Triebe im blankgeputzten Schau-Fenster. Eigentlich will jeder bloß an die Millionen des Patriarchen heran (im Film heißt er Giacinto, hier Norbert). Aber Beier gibt den würdelosen, gewaltvollen Beschäftigungen noch eine andere Erklärung: Langeweile. Christoph Luser zitiert in der Rolle des Transvestiten die Worte Jelénas aus Tschechows "Onkel Wanja": "Ich sterbe vor Langeweile… Ich weiß nicht, was ich tun soll." Er liest vor der Baracke, deshalb kann der Zuschauer ihn hören.
Erzwungene Stille, die Hören macht
Es lässt sich erstaunlich viel an diesem Abend verstehen, ohne dass man einen vollständigen Dialog zu Ohren bekommen hätte. Die Sehnsucht der Frau im roten Kleid und mit Diadem auf dem Kopf (Karin Pfammatter) zum Beispiel: Jeder Griff zum Busen ist ein erschreckend devoter Aufschrei nach Beachtung. Oder die sich selbst mit Messerstichen in den Unterleib verletzende Schwiegertochter (Lina Beckmann). Sie lächelt dabei fast teuflisch, denn sie weiß, dass sie nur so ihren Gatten noch erregen kann. Für Sentimentalitäten bleibt allerdings genauso wenig Raum wie bei Scola. Sonst würde die Zurschaustellung im Wohncontainer auch schnell zur eitlen Farce der Bessergestellten.
Die erzwungene Stille schafft auch noch etwas anderes. Sie hebt die ungehörten und die wenigen hörbaren Laute hervor. Das fließende Wasser beim Putzen der Wanne, die auf der Veranda steht. Das animalische Lachen der Ehefrau (Julia Wieninger), die vor dem Fenster beobachtet wie ihr Mann, dem sie Rattengift unters Essen gemischt hat, fast krepiert. Und Markus John als Patriarch Norbert leidet und krampft hinter der Glasscheibe in einer gefühlten Lautstärke von 100 Dezibel.
Es ist als hätte man den Ton abgedreht beim Fernsehen. Wie bei dem TV im Container, auf dem die ganze Zeit über die Verkaufssendung von QVC läuft. Mit dramaturgisch komponierten Parallelen: Trinkt die verwirrte Großmutter (ein witziger Michael Wittenborn) Spülmittel, wird Spülmittel angepriesen; schäumt Norbert das Rattengift aus dem Mund, schäumt im TV das Klo über usw. Den Alltag der Armen mit dem Inhalt von QVC gleichzusetzen, ist tatsächlich eine Gemeinheit. Um eine freundliche Darstellung ging es aber weder Ettore Scola 1976 noch Karin Beier heute. "Bemerkenswert mitleidslos" heißt es im Kölner Untertitel entsprechend. "Es sind einfach Szenen" hätte wohl Tschechow gesagt.
Die Schmutzigen, die Häßlichen und die Gemeinen
Eine bemerkenswert mitleidslose Komödie (UA)
von Ettore Scola und Ruggero Maccari
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Maria Roers, Musik: Jörg Gollasch, Choreografie: Valenti Rocamora I Tora, Kampf: Phil Bonney, Licht: Michael Frank.
Mit: Susanne Bart, Lina Beckmann, Jennifer Frank, Miriam Glaser, Markus John, Jan-Peter Kampwirth, Albert Kitzl, Christoph Luser, Murali Perumal, Karin Pfammatter, Dagmar Sachse, Torsten Peter Schnick, Michael Weber, Julia Wieninger, Michael Wittenborn.
www.schauspielkoeln.de
Mehr lesen über Karin Beier im nachtkritik-Archiv. Im September 2009 eröffnete Karin Beier die Spielzeit an ihrem Theater mit Shakespeares König Lear, die bisher von der Debatte um die Neubaupläne des Schauspielhauses begleitet wird.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=FQoU-5EUlmg}
Kritikenrundschau
"Karin Beier hat den römischen Slum aus Ettore Scolas Film aus den 70er-Jahren kongenial ins Unterschichten-Milieu von heute übersetzt", meint Karin Fischer auf Deutschlandfunk (9.1.) zur Kölner Inszenierung "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen", "mit einer Zugabe: der ebenso klugen wie witzigen Verdoppelung des Unterschichten-Fernsehens." Da das Stück über weite Strecken eine pantomimische Angelegenheit bleibe, fühle sich das ein bisschen an "wie Big Brother gucken ohne Ton." Scola habe seinen düsteren Film "auch mit einem Schuss Heiterkeit, ja Romantik" gewürzt. In Köln nun sei "die Heiterkeit mehr aufseiten des Publikums, die Inszenierung ist heller, auch intellektueller." Karin Beier habe aus dem Film "ein Bühnenstück gemacht, bei dem das Publikum die Dialoge praktisch selbst erfinden muss. Das ist spannend wie ein Krimi, und – keine Sorge: mit ein paar Folgen GZSZ, Big Brother oder Kölner Tatort ist auch diese Aufgabe spielend zu bewältigen."
Trotz der Diskussionen um Kölns Theaterneubau sei Karin Beier die Lust "an polarisierenden Bauten offensichtlich nicht vergangen", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (11.1.). In einem von Thomas Dreißigacker entworfenen Wellblechcontainer sei die Bühnenfassung des Films von Ettore Scola als "formvollendete Hartz-IV-Pittoreske" zu sehen. Alles gehe darin "vorüber – auch am Zuschauer. Auch das eigentlich Ergreifende. Und das ist die radikale Absicht." Denn alles sei hier "gleich gültig: gleichgültig. Es will gar nicht berühren, nur abbilden. Wir sind Zeugen, keine Richter, ganz in Scolas Sinn." Mit diesem oberflächlichen Blick spiele die Aufführung, "indem sie uns nur gucken, aber nicht zuhören lässt." Manchen Gag aber hätte der Abend indes nicht gebraucht: "Er hielte auch so zwei Stunden lang die Spannung, das 15-köpfige Ensemble packt das Spielen im Schallvakuum eindrucksvoll. Karin Beier ist mit dieser Hörverweigerung ein Wagnis eingegangen, das ein außergewöhnliches Theatererlebnis schafft."
Das stumme Spiel in Karin Beiers Inszenierung zeitige zweierlei Effekte, beobachtet Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (11.1.): "Zum einen verstärkt es das unbehagliche Gefühl, einen eigentlich unerlaubten Blick in die Intimsphäre Dritter zu erhaschen. Die Halle Kalk hat sich in den Public-Viewing-Ort einer Unterschichtbegaffungs-Sendung wie 'Big Brother' oder 'Frauentausch' verwandelt. Zum anderen erhebt die kaum durchbrochene Stille das Hausen der Container-Sippe in den Status einer durchchoreografierten Handlung. Man sucht und findet Schönheit in den zwanghaften Leerläufen des dargebotenen Daseins." Wie bei einem klassischen Handlungsballett ergäben sich "Plot und Charakterisierungen aus den Bewegungen der Figuren. Wir dürfen, wir sollen glotzen, rätseln müssen wir nicht." Bis man begreife, dass man zwei Stunden lang in einen etwas verzerrten Spiegel geguckt habe: "Auch das ist, spricht man es aus, nur ein Theaterklischee. Aber Beier und ihre angstlosen Schauspieler haben es schonungslos, triumphal umgesetzt."
Thomas Linden von der Kölnischen Rundschau (11.1.) hat mit "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" "eine der originellsten Regieleistungen, die Karin Beier in Köln gezeigt hat", gesehen. Schon das Bühnenbild von Thomas Dreissigacker sei "ein kleiner Geniestreich, der die Richtung für den Rest des Abends vorgibt. Denn es gelingt ihm, den Voyeurismus des Fernsehens noch zu übertrumpfen, noch deutlicher und damit obszöner die Lust am Schauen auszustellen." Aus der "vollkommen geschlossenen Galaxie"des Bühnenbilds gebe es für die Dargestellten "keine Flucht, selbst wenn sie den Container einmal verlassen, bleiben sie immer Teil dieser Welt. Eine bittere Erkenntnis; in ihr liegt die Wucht der Inszenierung, des Bühnenbilds und die Leistung der Darsteller. So dicht und spannend kann Theater sein, so überzeugend kann es die elektronischen Medien aus dem Feld schlagen. Da kein Dialog existiert, muss die Geschichte, die dramaturgisch klug zersplittert, aber wie mit einem unsichtbaren Magneten immer auf Kurs gehalten wird, alleine über Aura und Aktionen der Darsteller erzählt werden."
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Beim Fernsehn kann ich wenigstens ausschalten. Was kann ich nun, nachdem ich es gesehen habe und es mich kein bisschen Schlauer gemacht hat, ändern? Es hat mich nachdenklich gemacht und für den Abend aggressiv. Das Erste war wohl in ihrem Interesse.
Selbst heute, nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe, weiß ich nicht was ich davon halten soll.
Ein Kompliment muss ich den Schauspielern machen, ich finde sie haben es sehr gut gespielt.
Konzeptionell ist diese Inszenierung sensationell. Sie benutzt alle bekannten dramaturgischen und ästhetischen Muster und Mittel und ist doch singulär (auch wenn die gesprochene Sprache als sonst oft hervorstechendstes Kommunikationsmittel extrem reduziert ist. Das, was bleibt, ist so sehnsüchtigt, so angreifend, so hilflos: "Wohin?", "Tür zu!", "Bist du bescheuert?!" - das wars und es reicht.)
Vielen Dank nach Köln.
Ich aber habe nur gelacht gestern Abend. Denn ich sah Schauspieler, die mit großem, fast möchte ich sagen obszönen Genuss sich in ihre Rollen einwickelten. Da war kein Gran Distanz zwischen Darsteller und Rolle, kein Spalt, an dessen Kanten ich meine Reflexion hätte anknüpfen können.
Diese Aufführung möchte jede Reflexion verhindern, war viel mehr mein Eindruck. Sie wirkt, als sei sie zustande gekommen mit dem Anspruch der Theatermacher, den Zuschauern einmal eine Realität zu zeigen, die sie nicht kennen (siehe auch Lenas Kommentar oben). Das heißt, die Aufführung wollte aufklären. Über etwas, was die Theatermacher vielleicht eben erst entdeckt hatten, nämlich die Erkenntnis: die Armen sind nicht einfach gute Menschen, weil sie arm sind.
Aber nur weil die Theatermacher in Köln jetzt auf diese Wahrheit gestoßen sind, müssen sie doch nicht gleich davon ausgehen, dass ihr Publikum auch in diesem Stand des Unwissens über die Realität ist, oder? Aber genau so verhält sich die Aufführung. Und die ganzen Reden darüber, dass der voyeuristische Blick des Zuschauers zum eigentlichen Thema gemacht werde, scheint mir hinterher angepappt. Angepappt an die Lust der Theaterleute, einmal so richtig die Häßlichen, Schmutzigen und gemeinen zu imitieren. Das ist ihnen, finde ich, ganz gut gelungen.
Aber aufklärerischen Wert würde ich dem nicht gleich beimessen.
Und: sind es nicht vielleicht ganz dicke Klischees die da gespielt werden? Wittenborn als tattrige Oma im Rollstuhl? Jennifer Frank als großäugiges missbrauchtes, kanninchenliebendes und kaninchenfellrupfendes Kind?
Sind diese Imitationen, so perfekt sie gemacht werden, nicht überhaupt an sich anti-reflexiv? Scheinen sie nicht deshalb so perfekt nachgebildet, weil sie unser aller Klischees zitieren, nein: wiederholen, ohne sie in Frage zu stellen? Und verhindern diese Imitationen nicht gerade Reflexion über die soziale Lage, von der sie erzählen, über meine eigene Position in dieser Lage usw.
Das sind so die Fragen, die mich beschäftigen.
Mögen in Köln Kalk die Betroffenen noch nahe sein - aber kaum im Zuschauerraum - wird in Berlin Wilmersdorf von Akteuren, die mit dieser Wirklichkeit allein professionell wenig bis nichts verbinden kann, vor (prekariatsfernen) Besuchern für 39 € (4 Tage Hartz 4) eine Lebenswelt ausgebreitet, die eben nicht ausgeblendet, sondern vielerorts zu erfahren ist. Wo leben die für die Produktion Verantwortlichen?
Scolas Film hatte 1976 das präzise und provokante Angriffsfeld, innerhalb dessen das (Sub-)Proletariat in vielen Kunstformen als verklärte und/ oder potentiell rebellische Kraft erschien, bzw. erhofft wurde.
In der Gegenwart müsste doch entweder den "Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen" mittels erzählter, nicht sentimentaler Figurgeschichten ein verstörendes Gesicht zurückgegeben werden (und das besteht nicht aus "Containeroutside": Cechovs "Wanja" und Smiths "Gloria"), was dem Film noch gelingt (und die Kölner Schauspieler gewiss vermöchten), oder der Blick wird geweitet: auf die Verantwortlichen und Nutznießer der sozialen Unterscheidungen der letzten zwei Jahrzehnte und auf den Zeitgeist der sozialdarwinistischen Medienszenarien, in denen Ausgeschlossene noch weiter Ausgeschlossenen zuschauen sollen und sich so abgegrenzt fühlen können im Loser-Watching.
Der reine Abbildungsversuch des Krisenhaften - möge es auch nicht beabsichtigt sein - bleibt im Zynischen, weiß um Missstände, ändert aber nichts daran, sondern versucht, aus der Situation Nutzen zu ziehen. Das wäre m.E. ein trennscharfes Kriterium der (Jury-) Debatte.
Erst im Zustand eines radikalen Zweifels bzw. einer radikalen Illusionslosigkeit über "unser Zeitalter" kann die Hoffnung aufscheinen, dass es auch ganz andere Möglichkeiten gäbe.
Sie widersprechen sich da ziemlich schnell, wenn Sie einerseits sagen, daß "die Unterschicht' sich aus dieser abgesonderten Lage selbst erlösen" müsse und andererseits sprechen Sie davon, daß die "Verantwortung für den Zusammenhalt einer politischen Gemeinschaft auf beiden Seiten liegt - auf der Seite der bürgerlichen Mittelschichten als Zuschauer UND ZUGLEICH auf der Seite der Unterschicht als im aktuellen gesellschaftlichen Kontext möglicherweise völlig entpolitisierte Akteure." Das kriege ich nicht zusammen: Befreie Dich selbst! Und gleichzeitig Solidarisiere Dich mit anderen gesellschaftlichen Schichten!
Nein, ich bin davon überzeugt, daß die, die Mittel haben, die Zusammenhänge zu überblicken auch die Pflicht haben, sich relevant zu äußern. 'Stefan' hat das für mich sehr richtig formuliert: Wo seid ihr, wenn wir uns quälen, prostituieren und leiden?
(Apropos Prostitution: Es wird geschätzt, das täglich !!! 1,2 - 1,5 Millionen Männer in Deutschland "sexuelle Dienstleistungen" entgegennehmen)
Darüber hinaus ist es doch so, daß sich große Teile des (gerade entstandenen) deutschen Bürgertums schon sehr früh (spätestens ab 1800)aus dem direkten politischen Kontext verabschiedet haben und sich mit ihrer Kanonisierung von "Bildung und Kultur" in einen Raum begeben haben, in dem sie verantw2ortungslos und quasi überpolitisch über die gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen intellektuell schwadronieren können. (Hallo, Herr Safranski, hallo, Herr Sloterdijk)
Wenn Karin Beier mit ihren Darstellern diesen Raum jetzt wieder öffnet im ureigenen Medium des deutschen Bildungsbürgertums, dem Theater, gebührt ihr/ ihnen dafür m.E. doppelter Respekt. Denn sie positionieren sich künstlerisch und politisch zugleich und gesellen sich damit eher zu denen, die es trotz Bildung nicht versäumt haben, sich direkt und unmißverständlich zu Wort zu melden.
Es ist eine voyeuristische Situation, in die uns Karin Beier bringt. Wir schauen durch das Fenster Menschen beim Leben zu. Es ist ein trostloses Leben, Menschen, die einander wehtun, unfähig oder unwillig zu kommunizieren, ein brutaler, alles unterdrückender Patriarch, hoffnungslose, resignierte Menschen, abgestumpft die meisten, hilflos die anderen.
Mitleidlos war der Blick, en Ettore Scola in seinem Film von 1976 auf das römische Subproletariat warf und mitleidlos ist auch diese Anordnung. Und gerade das macht sie so stark: Der Zuschauer kann sich nicht verstecken hinter Mitleid, sozialen Erklärungsmustern, solidarischer Verbrüderung mit den Geknechteten. Er muss zusehen mit mehr als einem unwohlen Gefühl. Da ist Erschrecken, aber auch Abscheu, Verachtung, aber auch Schuld. Und der Verdacht, das nicht sehen zu dürfen. Der Zuschauer als Voyeur, als Mitwisser. Das zwingt zum Hinsehen, zum Hinterfragen von Gewissheiten, Vorurteilen, Pauschalisierungen. Hartes, ehrliches Gesellschaftstheater ohne jede Art von Betroffenheitskitsch.
Und das obwohl sich Beier kurze Brüche erlaubt: der Tschechow lesende und zu Patti Smith tanzende Transvestit, die begehrt sein wollende Alte, das von niemandem beachtete Mädchen mit dem Plüschmeerschwein, die choreogrfierten Szenen der Verzweiflung, des Sehnens und der Gier. Sie lassen das Elend, das materielle wie das mentale, nur um so stärker heraustreten.
Doch das kleine Theaterwunder, das diese Inszenierung ist, endet nicht hier: Obwohl die Figuren zwei Stunden fast ununterbrochen reden, bekommt der Zuschauer kaum etwas zu hören. Die Fenster sind schalldicht, nur wenn jemand brüllt, dringt ein leiser Rest nach außen. Oder ein dumpfes Grollen schwerer Fußschritte. Das alles verstärkt den Eindruck des verbotenen Zuschauens.
Es erreicht aber noch etwas anderes: Es verändert die Wahrnehmung des Publikums. Es hört mit den Augen. Gesten, Bewegungen, Blicke, unsichtbare Worte erzählen das nicht Gehörte, der Blick ändert sich. Jedes Geräusch, Wortfetzen bei offener Tür beispielsweise oder das in die Wanne laufende Wasser gewinnen eine überproportionale Bedeutung. Die Stille schärft die Sinne des Zuschauers, der plötzlich auf Details achtet, die er sonst übersehen hätte.
Und auch das Publikum selbst, ohnehin in einer zwiespältigen Rolle, tritt ins Geschehen. Jedes Husten, jedes Lachen, jede Fuß- oder Stuhlbewegung hallt durch den stillen Raum und wird Teil des Erlebens. Die Voyeure machen sich bemerkbar. Die Illusion unbemerkt und unbeteiligt zuzusehen, lässt sich nicht aufrechterhalten.
Karin Beier ist mit dieser bemerkensweten Inszenierung etwas gelungen, was Kritiker wie Theaterbesucher so häufig fordern: Theater, das die Augen öffnet. Und das im Wortsinn.
Tut mir leid, das Sie hier so missverstanden werden, aber es geht mir ähnlich wie den Leuten vor mir. Sie haben im Thread zu Botho Strauß genau das Richtige gesagt zu diesem Thema. Ich blogge das deswegen einfach hier noch mal rein, weil es den Nagel auf den Kopf trifft und Ihr oben gesagtes entsprechend relativiert.
"Es geht um keinen Schleier, der weggerissen werden müsste! Das da ist keine Parallelwelt des Spiels als einem Schatten DAS DA... des ernsten Lebens. Es geht nicht um einen Schleier, der weggerissen werden müsste vor der Wahrheit, SONDERN, dass da, wo nur noch Wahrheit ist, man die zusätzliche Präsenz des Schleiers erkennen müsste."
Der Schleier existiert nicht. Es ist pure Wahrheit was gespielt wurde.
@ Ken Ost
Stimmt in zweierlei Hinsicht nicht.
1. Ich habe in der 2. Reihe gesessen.
2. Es gab nur eine Preisklasse für tatsächlich unverschämte 39,00 Euro. Das sollte dem Veranstalter zu denken geben.
Vielen, vielen Dank für Ihren Kommentar. Genauso und nicht anders ging es mir gestern abend.
Rosa L. ist längst anwesend, Sie erkennen sie nur nicht.
Meinen Sie nicht, dass gerade männliche Jugendliche und nicht nur aus Deutschland den Hackeschen Markt und die Oranienburger Straße aufsuchen, weil es diese Anmache dort gibt. Angebot steigert die Nachfrage. Ich dresche nicht auf Sie ein, da ich dachte Sie wüssten das, aber da sind Sie ja tatsächlich ahnungsloser als ich dachte.
Mir ging es um die Vorlage, den Film von Ettore Scola und davon ausgehend um eine realistische Perspektive auf die heutige "Unterschicht". Geht es da wirklich noch um die Idee des guten Volkes gegenüber der schlechten politischen Herrschaft? Verhalten sich "die Armen" tatsächlich allein aufgrund des fehlenden Geldes so, wie sie sich in Film und Inszenierung verhalten? Kann man sich nicht auch "ganz unten" um ein Leben in Selbstachtung und Achtung seiner - wie es immer so schön heisst - Mitmenschen bemühen? Den eigenen Kopf über die moralische Schwelle heben?
Dass die Strukturen verändert werden müssen, das steht ausser Frage. Der Zusammenhalt einer politischen Gemeinschaft wird gefährdet, wenn die Gewinne weiterhin privatisiert und die Kosten weiterhin sozialisiert werden. Aber ZUGLEICH geht es um die Verantwortung jedes einzelnen, das heisst, dass man sich nicht noch gegenseitig das Leben zur Hölle machen muss.
@ kolja: Wo ist denn jetzt das Problem? Kann man sich nicht selbst befreien und sich zugleich mit anderen solidarisieren? Bildung schadet doch wohl niemandem, im Gegenteil. Hauptsache, man denkt in Bezug auf Realität. Aber denken hilft. Wenn das Denken aussetzt, dann führt sich die Banalität des Bösen auf wie im Theater. Denken Sie zum Beispiel mal drüber nach, in welchem Kontext die Prostitution hier steht. Im Kontext des Geldes, weil man damit eben schneller Geld verdienen kann als putzen zu gehen. Abgesehen von der Zwangsprostitution, ist das also eine freie Entscheidung für das schnelle Geld und gegen die eigenen moralischen Maßstäbe. Darum gehts hier doch, oder? Sehen Sie in diesen Figuren Veränderungspotential? Möglich wäre es, aber gerade hier ist es in meiner Wahrnehmung eben nicht nur eine Frage der Verhältnisse, sondern auch eine Frage der individuellen Entscheidung.
Ich bewerte überhaupt nicht, ich gebe nur meine, zugegeben mäßig reflektierten Eindrücke wieder. (Wobei es natürlich durchaus geht, sie zu bewerten, so wie ich jede andere auch bewerten kann). Ich widerspreche Ihnen aber: Beiers Inszenierung ist durchaus augenöffnend, wenn man sich ihr nicht verschließt (kein besonders gelungenes Bild, gebe ich zu). Allerdings nicht über die "Unterschicht", eher über das Theater und seine Wirkungsmechanismen auf der einen und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, nicht einer bestimmten Schicht, sondern allgemein, auf der anderen Seite. Es geht m.E. darum, Dinge wahrnehmen zu lernen, die man sonst übersieht, eine neue, andere Perspektive zu gewinnen und Wahrnehmungs-, Interpretations-, Deutungsmechanismen zu hinterfragen.
Die Situation bestimmter Schichten zu beschreiben oder gar erklären zu wollen oder vielleicht sogar gesellschaftspolitische Wirkung zu entfachen, ist m. E. nicht der Punkt der Inszenierung und geht an diesem erstaunlichen Theaterabend völlig vorbei. Es handelt hier eben nicht primär um Gesellschaftskritik, sondern maximal um Gesellschaftsbeschreibung. Die Frage, die sie gehört haben, hat sich mir in dieser Inszenierung nicht gestellt, es war eher eine Aufforderung zuzusehen und die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit in Frage zu stellen.
ich vermute, wir würden uns bei irgendeinem stark-alkoholischen Getränk (ihrer Wahl - ich hoffe, Sie sind nicht abstinent) ganz gut verstehen.
Mir ging es ebenfalls darum, darauf hinzuweisen, daß die Verhältnisse extrem verquickt sind. Und wir nicht so schnell aus der "Nummer" rauskommen, wenn wir sorgsam in Schichten teilen und versuchen abzugrenzen.
Sie tun ja in Ihrem lustigen Kommentar (ich mußte wirklich kurz schmunzeln) auch nichts anderes als festzustellen, daß eins und eins schon lange nicht mehr zwei ist oder war's zwei und zwei, das nicht immer vier ist?? Genau, ich knie neben Ihnen nieder und flehe ebenfalls unser feministisches Gewissen ROSAL.JEANNED'ARCULRIKEM.IS an, sich zu äußern.
Vielleicht ist ja pointiertes Gequassel nicht meine Stärke (ist für so 'nen Tread natürlich doof). Ich bin da meistens weitschweifiger. Wenn ich also oben verkürzt habe, in der Hoffnung verstanden zu werden, dann bitte ich um Entschuldigung. Ich gehe üben.
Das klingt, so flappsig, sicherlich abwertend. Ist aber in der Tat ernst gemeint. Komme aber jetzt gerade nicht über einen anderen Ton hinaus. Gut, dann hätte ich vielleicht nicht posten sollen - hab ich aber!
Damit hatten Sie gar kein Problem,?
Merkwürdig.
Da habe ich wahrscheinlich andere Reflektionsmechanismen. Also mir erschließt sich der Abend genau in der gezeigten Art und Weise. Wobei gar nicht das Entscheidende ist, ob das in einem Container abläuft oder direkt auf einer Bühne mit Sprache. Deswegen mag ich hier auch nicht über Stilmittel oder schauspielerische Fähigkeit diskutieren. Deutungsmechanismen muss ich hier nicht mehr hinterfragen. Es liegt alles klar auf der Hand. Greifen Sie zu.
Es ist erschreckend, wie Sie sich selbst untreu werden, gerade im Bezug auf das Thema Zwangsprostitution. Die gibt es doch nicht nur innerhalb der einschlägigen Szene, sondern genau wie es auch im Stück dargestellt wird, erzwungen im Kontext der Hierarchie einer Gruppe von Anteillosen, insbesondere auch im Zusammenhang mit der allgegenwärtigen Missbrauchsdebatte.
Und wenn Sie nur irgend können, verschaffen sie all diesen Menschen einen guten Job, sie haben es verdient...und sie haben es verdient, dass dies empfundene Kartell endlich wieder den Markt frei gibt,...lieber Andreas K. ....du brauchst keine fünf Inszenierungen pro Spielzeit, in diesem Moment reichen zwei aus, sag alles ab, und bündele deine Kräfte, dass ist es was wir jetzt brauchen und keinen Botho...
Ich glaube, wir widersprechen uns hier gar nicht. Selbstverständlich ist das hier eine Ansammlung von Klischees, ebenso wie das auch bei Scola der Fall ist. Es geht eben nicht um die Zustandsbeschreibung einer Gesellschaftsschicht oder gar die Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Zuständen, sondern um eine Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsmustern und das Hinterfragen eigener Perspetiven - im Theater wie in der "Realität". Die Klischees dort auf der Bühne sind doch genau die, die viele von uns haben, so stellen wir uns das doch bei denen "da unten" vor. Das was da im Container passiert, ist eher eine Projektion unserer Klischees und Vorurteile. Wenn hier eine Gesellschaftsschicht thematisiert wird, dann das "Bildungsbürgertum", wer und was auch immer das sein mag. Und nein, damit habe ich tatsächlich kein Problem.
"Denn die Parodie stellt nicht, wie die Fiktion, die Wirklichkeit ihres Gegenstands in Zweifel - der ist im Gegenteil so unerträglich wirklich, daß es eben darum geht, ihn fernzuhalten. Dem 'als ob' der Fiktion stellt die Parodie ihr drastisches 'so ist es zuviel' (oder 'als ob nicht') entgegen."
(aus: Giorgio Agamben, "Profanierungen")
"alles" sehen, sogar überdeutlich: verschärft, wir haben Zeit, der Begriff "Vorstellung" wird doppeldeutig... .
In meiner "Außenschau" (qua Besprechungen) mußte ich an so etwas denken wie den Begriff des "Kopfkinos", so als wäre der Blick in den
Container quasi ein Blick auf die bildlichen "Archebilder vom "Subproletariat von mir aus"" in "unseren Köpfen": also garnichts Voyeurhaftes darin; nur daß "Stimmen hören, Bilder sehen" in so einem Kopf-Container befragt werden - schon von außen.
Es ist als schauten wir jemandem beim Denken zu, nur sehen wir keine platonischen Höhlenschatten: das Gegenüber transzendiert unsere eigenen "Kopfkinobilder": und wir hören nicht, wie das Gegenüber so denkt; wenn doch etwas hervordringt, mag das in etwa den befremdenden Charakter haben, den laute fremde Selbstgespräche auf der Straße haben mögen, aber gebochen sind durch die neue Mikrotechnik, die teilweise nur etwas wie ein Selbstgespräch erscheinen lassen ..