Idomeneus - Jürgen Gosch inszeniert Roland Schimmelpfennigs Schauspiel nach einem Motiv von Homer
Vernunft und Aberglaube
von Wolfgang Behrens
Berlin, 28. April 2009. Nichts im Mythos ist sicher. Idomeneus zum Beispiel: Homer lässt ihn, den König der Kreter, mit 80 Schiffen am Feldzug der Griechen gegen Troja teilnehmen, wo er Dienst nach Vorschrift tut und in den Debatten der Heerführer durch vornehmes Schweigen glänzt. Zur Belohnung darf er bei Homer sicher nach Hause zurückkehren.
Erst bei Vergil erfährt man, dass Idomeneus später von Kreta aus ins Exil nach Italien ging, und ein spätantiker Vergil-Kommentator, ein gewisser Servius, weiß auch, warum: Denn mit der sicheren Rückkehr aus Troja war das so eine Sache. Idomeneus geriet nämlich mit seiner Flotte in einen furchtbaren Sturm, und er gelobte, im Fall einer glücklichen Rettung seiner selbst, das erste Lebewesen zu opfern, das ihm in der Heimat begegnen würde – wie sich herausstellte, seinen Sohn. Diese Opfertat fand allerdings – wen nimmt es wunder! – nicht die Zustimmung der Kreter, und sie verjagten ihren König vom Thron. Ob dieser nun vorher seinen Sohn tatsächlich tötete oder nicht, das wird nicht berichtet – nichts im Mythos ist sicher.
Bring den Jungen um!
Es ist insofern durchaus mythengerecht, wenn Roland Schimmelpfennig in seinem Stück "Idomeneus" – (das 2008 als Auftragswerk für Dieter Dorn zur Wiedereröffnung des Münchner Cuvilliés-Theater entstand) – die Geschichte des Königs der Kreter in alle möglichen Richtungen hin und her wendet, manche Variante ausgräbt und so manche auch hinzuerfindet: Eine Gruppe von Männern und Frauen erzählt die verschiedensten Versionen, kommentiert sie, schlüpft versuchsweise in sie hinein, lotet sie aus, prüft und verwirft.
Wie war es wirklich?, wird gefragt. Aber auch: Wie hätte es sein können? Denn, so heißt es einmal im Stück: "Wir stehen an der Grenze von Aberglaube und Vernunft." Was wäre gewesen, wenn Idomeneus dem Aberglauben widersagt und aufgeklärter Vernunft das Ohr geliehen hätte? Und was wiederum wäre, wenn sich diese Vernunft zynisch gerierte und etwa wie die Frau des Idomeneus vorschlüge: "fick mich, ich kann Dir neue Kinder schenken, bring den Jungen um"? Immer wieder und weiter weicht so der Mythos vor Schimmelpfennigs Senkblei ins Bodeslose des Brunnens der Vergangenheit zurück.
In Jürgen Goschs Zweitinszenierung des Stücks am Deutschen Theater Berlin ist die Gesellschaft, die gemeinsam in den mythischen Brunnen schaut, sehr heutig. In unauffälliger, alltäglicher Kleidung sitzt das elfköpfige (bei der Premiere aus Krankheitsgründen nur zehnköpfige) Ensemble vor einer weißen Wand unter dem Bühnenportal – Johannes Schütz hat eine helle Replik zu seiner "Möwen"-Bühne gebaut – und erspielt sich und illustriert einen Text, der von sich aus eine unverkennbare Neigung zum reinen Hör- und Kopftheater mitbringt.
Ironiedurchwirkte Poesie zweiten Grades
In der den Sturm schildernden Eingangsszene winden und krümmen sich denn die Darsteller wie ein an den Rändern ausfransender Kollektivkörper malerisch an der Wand entlang; und wenn später vom "Kreis der heimgekehrten Männer, grau geworden, alt" die Rede ist, dann verwandelt sich die gesamte Truppe minutenlang in chargierende Mümmelgreise, denen Christian Grashof, aus einer Mehltüte schöpfend, weiße Haare und Bärte verpasst.
Das ist schön anzuschauen, und doch birgt es auch eine Gefahr für die Aufführung. Denn Goschs große Fähigkeit, die Theaterhaftigkeit des Theaters auszustellen; seine Neigung, mit den Stimmungen, die er schafft, zugleich deren Gemachtheit aufzuzeigen und so eine Art ironiedurchwirkte Poesie zweiten Grades zu erzeugen – all das hat an diesem Abend eine Tendenz dazu, sich zu verselbständigen. Solange die Schauspieler konzentriert und gestisch reduziert, doch mit vor Emotionalität bebender Spannkraft die Texte sprechen, ist die Inszenierung ungemein dicht. Sobald aber Gosch zu zaubern beginnt, geht es hier zu Lasten des Stücks.
In diesen Momenten laufen Goschs poetisches Spiel mit dem Theater und Schimmelpfennigs intelligentes Spiel mit dem Mythos seltsam unbeteiligt nebeneinander her – sie befruchten sich nicht. Hier endet diese Kritik, um im Nachschlag ein Unbehagen des Kritikers zu formulieren.
Den Schrecken aushalten
Am Ende von Schimmelpfennigs Text stehen die Worte: "Ich bin Idomeneus, und ich hänge am Leben, ich hänge am Leben." In der Aufführung spricht Alexander Khuon diese Zeilen, und ihm und einem großen Teil des Ensembles rinnen die Tränen herunter. Es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass der Regisseur Jürgen Gosch sehr krank ist, und dass bei jeder seiner Inszenierungen die Furcht mitschwingt, es könnte die letzte sein. Es ist nun nicht wichtig, ob die kollektiven Tränen "gemacht" sind oder nicht (bei Khuon sahen sie eher gemacht aus, bei Margit Bendokat weniger): Doch sie tragen, zumal in dieser Massierung, das Mal des Kitsches.
Da sie aber auf die existentielle Situation Goschs treffen, scheinen sie aus dem Bereich des Ästhetischen herauszutreten. Diese Tränen wollen authentisch sein und sich so unantastbar machen. Und genau das hat dem Kritiker Widerwillen eingeflößt. Er hat diese Tränen – ohne persönlichen Vorwurf – als Lüge empfunden. Ein Ende ohne Tränen wäre ein Ende mit Schrecken gewesen. Ein Schrecken jedoch, den es auszuhalten gilt.
Idomeneus
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Jürgen Gosch, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Licht: Robert Grauel. Mit: Margit Bendokat, Meike Droste, Katharina Schmalenberg, Barbara Schnitzler, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch, Christian Grashof, Alexander Khuon, Niklas Kohrt, Peter Pagel, Bernd Stempel.
www.dt-berlin.de
Mehr lesen? Dieter Dorns Uraufführung des Stücks fand im Juni 2008 aus Anlaß der Wiedereröffnung des Münchner Cuvilliés-Theater statt.
Kritikenrundschau
Die Tränen lässt Gerhard Stadelmaier (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.4.) links liegen. Umso vehementer sagt er am Anfang seiner Kritik erstmal "Bravo den Profis", heißt, den zehn Schauspielern, die sich den Text des wegen Krankheit ausgefallenen elften Schauspielers professionell aufteilen. Bei Goschs Tschechows-Inszenierungen sei es das Manko gewesen, dass nur die "Vorderblätter der Seelen- und Lebensgeschichten der Lebensuntüchtigen" beschrieben wurden. Schimmelpfennigs "Idomeneus" sei aber von vorneherein ein "mehrseitiges dramatisches Sprech- und Sprachkonzert, in dem ein Volkschor rhythmisch einen Mythos beklopft, Fragen an ihn stellt, ihn verwirft." Die Kindesopferung gehe "gar nicht aus" bei "Märchenverdichter" Schimmelpfennig. Die Sache stehe in Frage: "Dürfen Menschen geopfert werden, damit andere Menschen überleben? Wieso darf ein Einziger am Leben hängen, damit tausend andere ersaufen?" Bei Gosch fühle man sich in alte Geschichte ein, "um sie zu attackieren und auseinanderzunehmen". Die Schauspieler "röcheln und schnaufen und stöhnen und verknäueln und verkrampfen sich mit verdrehten Augen und leeren Lungen. Spielen Ertrinkende und schreien wie am Todesspieß." Fazit: "Eine sterbenskomische Totenfeier unter wütendem Lächeln. Ein Kunststück."
Dieter Dorn legte bei der Uraufführung von "Idomeneus" den Schwerpunkt auf das Musikalische, auf Akzentuierung und Differenzierung der Erzählerstimmen, so Andreas Schäfer im Tagesspiegel (30.4.). "Bei Jürgen Gosch drängen sich die Schauspieler dagegen zu einer Art Klumpen der Todesangst zusammen, retten sich hin und wieder – wie um zu Atem zu kommen – in den Klamauk, bis sie sich wieder furchtsam aneinander klammern und ins Unsagbare schauen." Die Sitzbank von Bühnenbildner Schütz sei diesemal weiß und "schmerzhaft nah ans Publikum gerückt". Doch das Ensemble finde über weite Strecken nicht den passenden Ton für die Geschichte. "Statt das Spiel mit heiligem Ernst zu geben, schwankt es zwischen Ergriffenheit und übertriebener Albernheit." Der Abend sei bewegend, "mehr aus menschlichen denn aus künstlerischen Gründen". Wenn ein aufgelöster Alexander Khuon sagt, "Ich bin Idomeneus, und ich hänge am Leben", kann keiner auf der Bühne seine Tränen zurückhalten kann. "Das Publikum erhebt sich, als Jürgen Gosch im Rollstuhl ins Parkett gefahren wird. 'Danke', sagt er, als er später im ersten Stock mit dem Theaterpreis des deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts geehrt wird. 'Danke für die Erlaubnis zu tun, was wir tun.'"
"Das Ensemble ist ungeheuer konzentriert bei der Sache, kein Wort geht einfach so durch", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (30.4.). "Da kann man sich als Zuschauer wunderbar einreihen, mitdenken, Trost erfahren. Kaum möglich, sich dagegen zu wehren." Gosch tue eben, was er tue. Gosch und Schütz nehmen das Stück frontal. Es gebe keinen Raum mehr, "nur noch eine kalkweiße Wand, die die Bühne verschließt." Es gebe keine Figuren, kein Geschehen, kein Versteck im Als-ob, "es gibt nur den Schmerz des Denkens". Dass Idomeneus am Strand in die Arme seines Sohnes Idamantes läuft, "dieser raffinierte, fiese Schicksalsschlag ist der Orientierungspunkt, von dem aus Schimmelpfennigs Stimmen das Gewesene und das Kommende, die Ursachen und die Wirkungen auffächern." Auf der Bühne sei es vom Ende her betrachtet aber egal, welche Version der Geschichte sich zugetragen hat. Wenn sich am Ende des Abends die Schauspieler verbeugen, können sie nicht aufhören mit Weinen. "Der Bühnenbildner Johannes Schütz schiebt in einem Rollstuhl den von seinem Krebsleiden gezeichneten Regisseur Jürgen Gosch in den Saal, der - die Hand am Kinn - die stehenden Ovationen entgegennimmt."
Jürgen Otten (Frankfurter Rundschau, 30.4.) sah nicht nur Theater, sondern "mehr als Theater": "Am Dienstag, bei der Premiere von 'Idomeneus' im Deutschen Theater, sehen wir dieses Mehr (oder Weniger, je nach dem)." Gosch inszeniere nicht nur "das beste Stück von Schimmelpfennig aus den letzten zehn Jahren, er inszeniert auch ein Resümee, ein schmerzvolles Abschiedslied." Zehn Schauspieler kleben auf der "langgestreckten gleich farblosen Parkbank", und nun, da es ums Ganze geht, zetern, zucken und zittern sie alle wie verrückt vor Furcht. "Keiner will hier weichen, nicht von der Bank, nicht aus dem Leben. Und darum geht es, die ganze Zeit, neunzig Minuten lang. Es geht darum, nicht gehen zu wollen. Man akzeptiert den Tod nicht. Niemand akzeptiert ihn." Fazit: "Im Theater gewesen. Geweint."
Auf Spiegel online (29.4.) schreibt Christine Wahl: Schimmelpfennigs Auseinandersetzung mit dem Mythos sei "eine Art Wortkonzert für zehn Schauspieler", statt szenischer Aktion "Kopftheater", statt "im klassischen Sinn zu spielen, denken die Darsteller einfach öffentlich über diese gnadenlose Geschichte nach". In verschiedenen Chor-Konstellationen philosophierten sie "verschiedene Varianten durch". Als Gedankenspiel "über Tod und Todesangst, Schuld, Liebe, Endlichkeit und die Vernichtung des Anderen als Bedingung eigenen Überlebens" behandele der Abend "die Basisfragen der Spezies Mensch überhaupt". Und weil "Goschs atemberaubendes Ensemble" diese Fragen mit einer Intensität stelle, "in der Komik und Tragik, Lakonie und Grauen und noch mindestens hundert Facetten mehr Platz haben, geht es an diesem Abend wirklich um: alles." Johannes Schütz' schon übliche Wand mit der Sitzbank lasse den Schauspielern an der Rampe nurmehr "einen geschätzten Aktionsraum von zwei Metern." Die "Art, wie dieses Theater das Leben in die Kunst einbrechen lässt und umgekehrt, eröffnet Zuschauern tatsächlich völlig neue Seherfahrungen." Am Ende des Abends stehe ein umwerfender Alexander Khuon an der Rampe. "Ich hänge am Leben", spreche er den letzten Satz des Idomeneus und habe dabei Tränen in den Augen. Und wie bei Ulrich Matthes in der Schlussszene von Tschechows "Onkel Wanja" sei dieser Moment "nicht sentimental, sondern knallhart und absolut stimmig."
Es falle schwer, diesen Abend im Deutschen Theater nicht von seinem Ende her zu betrachten, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (2.5.). Da stehe der Schauspieler Alexander Khuon allein vor dem Chor, Tränen in den Augen wie einige andere Schauspieler auch, und spreche mit bewegter Stimme die letzten beiden Sätze: "Ich hänge am Leben. Ich hänge am Leben." Dann öffne sich, so Briegleb, beim Schlussapplaus eine Saaltür und der schwer von Krankheit gezeichnete Regisseur Jürgen Gosch werde im Rollstuhl hereingeschoben. "Die Zuschauer erheben sich und spenden ihm stehend lange Applaus. Und in diesem traurigen und ergriffenen Moment wird die ganze Aufführung in einem Maße privat, dass es kaum möglich ist, die Distanz zu wahren, die es bräuchte, diese Inszenierung bewertend zu beschreiben." Darstellerisch ist aus Sicht des Kritikers "dieser szenische Essay allerdings kaum fassen" der nichtsdestotrotz die statische Übertragung in ein meist sitzendes Ensemble, die Gosch für seine Inszenierung gewählt hat, für eine nachvollziehbare Lösung hält.
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und bei onkel wanja war das meiner meinung nach nicht anders.
das ende ist privat und wer sich diesem wahrhaft nähern will kommt um sich selbst nicht herum. wie schön ist es wenn sich theater mit so wesentlichem beschäftigt.
beim sterben hört die theorie auf, da müssen wir alle unsere bücher an der garderobe abgeben.
es ist ja wirklich wahr: hier entsteht doch nichts mehr der auseinandersezung wegen, kritisiert werden darf und soll schon gar nicht. hier setzt sich ein dinosaurier kurz vor dem ableben noch ein letztes eigenes denkmal, und dann noch ein letztes und dann wirklich noch ein letztes ...
wenn es ihm wirklich so schlecht geht, soll er das inszenieren bleiben lassen. wenn seine "liebe" zum theater hingegen wirklich so groß ist, dass er nicht anders kann, dann ist er nicht um seinen gesundheitszustand zu bemitleiden, sondern schlichtweg blöd und vor allem selber schuld.
Alles Gute für den Rest der Heulsusen und Meckertanten, die selber nichts gebacken bekommen!
Gosch hat glaub ich nie gesagt, dass er eine letzte Arbeit macht. Er macht das, was er schon immer getan hat, und zwar großartig: Theater! Und jetzt halten wir mal schön die Klappe, von wegen Moral und was da noch so alles aus dem zutiefst erzürnten p.handke und anke Brüstlein schwappt.
dass man mich bitte nicht falsch verstehe: ich habe weder gegen gosch als mensch noch gegen seine arbeit etwas (anders sieht es freilich aus mit den "bühnen" von johannes schütz, aber das hat hier gar nichts zu suchen). ich war im "onkel wanja" tief bewegt, und ich war in der "möwe" zutiefst gelangweilt. ich habe in "ambrosia" tränen gelacht und über das "reich der tiere" den kopf geschüttelt.
was mich stört (bzw. kommt es mir so vor), ist, dass inzwischen anscheinend ohne kritisches bewusstsein mehr an die arbeit von gosch herangegangen wird, weil das anscheinend nicht mehr lohnt. weil es sowieso alles ganz toll und unheimlich ehrlich und persönlich und wasweißichnichtalles ist. ich höre einfach z. b. im bekanntenkreis nicht mehr auch nur eine einzige negative stimme, alle jubeln sie und frohlocken immerzu. das alles ist schön und gut, aber auf mich wirkt das alles wie ein großer, alles überschattender krankheitsbonus, der unfehlbar und unantastbar ist. und das ist gerade im theater nicht möglich und macht mich wütend und traurig zugleich.
sicher ist das vermutlich weit übertrieben, aber das ist eben das, was bei mir ankommt. die verleihung von preisen über preisen tut ihr übriges dazu.
wie gesagt, ich mag goschs arbeiten im ganzen, aber ich finde auch, dass der hauptbestandteil seiner inszenierungen nicht seine gesundheit ist oder sein sollte.
Am Ende des Abends steht ein umwerfender Alexander Khuon an der Rampe. "Ich hänge am Leben", spricht er den letzten Satz des Idomeneus. Wie Ulrich Matthes in der Schlussszene von Tschechows "Onkel Wanja" hat er dabei Tränen in den Augen. Und wie bei Matthes ist dieser Moment nicht sentimental, sondern knallhart und absolut stimmig. Den anderen Schauspielern - von Margit Bendokat bis Christian Grashof, von Meike Droste bis Bernd Stempel - geht es genau so.
SPIEGEL-Online
Es ist faszinierend, wie sublim Gosch in den Text von Schimmelpfennig hineinhorcht, um diesen zentralen Widerspruch auf die Bühne zu bringen. Tod und Liebe, das geht nicht zusammen. Bei Gosch geht es aber doch noch zusammen, weil der Tod mit den Augen der Liebe angeschaut wird. Und das ist das eigentlich Niederschmetternde, zugleich Grandiose dieser Inszenierung: Wie sie es schafft, nicht nur die Augen der Schauspieler in verschiedenste Perspektiven zur Welt zu versetzen, sondern ihren Ausdruck ständig zu verändern.
Frankfurter Rundschau
noch eine kurze Anmerkung: Was sie langweilt oder mögen interessiert in diesem Zusammenhang nicht im geringsten. Zu glauben, dass ein Regisseur wie Jürgen Gosch und die Wahrnehmung seiner Arbeit auf einen, wie Sie es nennen, Krankheitsbonus angewiesen ist, ist allerdings naiv und äußerst unbedarft. Dass es bei solchen tragischen Krankheitfällen auch immer geschmacklose und kitschige Kommentare gibt, finde ich genauso bedauerlich. Seine Arbeit ist es mit Sicherheit nicht. Ob man sie nun "mag" oder nicht.
Und dass das Theater immer auch mit denen zu tun hat, die es machen ist nur logisch. Daraus einen Vorwurf zu stricken und einem Theaterabend seine ansonsten eindrücklichen Reaktionen vorzuwerfen (nicht nur von Kritikerseite!) finde ich pervers.
was sie in diesem zusammenhang interessiert oder nicht, ist mir gleichsam völlig schnuppe. darum geht es nämlich - ganz recht - überhaupt nicht. ich schmiss das nur mit ein um anzumerken, dass ich keineswegs goschs arbeit von grund auf verteufele.
dass er auf einen krankheitsbonus "angewiesen" sei, habe ich mit keinem wort erwähnt. aber eigeninterpretationen sind hier ja eh sehr beliebt. ich weiß ..
entschuldige das unterstellte Zitat. Aber das Gosch nur aus Krankheitsgründen von der Kritik geschont wird und dass sich deshalb keiner traut kritisch zu schreiben, halte ich für eine haarsträubende Spekulation. Es ist doch letztlich auch müßig darüber zu streiten. Die Abende, ob "Wanja", "Hier und Jetzt", "Möwe" (ich weiß, hat dich gelangweilt - was für ein Kriterium), oder Idomeneus sind große Theaterabende. Das kann man doch nicht wegdiskutieren auf der Grundlage, dass jemand krank ist. Und Kritiker, ob groß oder klein und Zuschauer und Theaterschaffende sind auch nicht ganz behämmert und lassen sich von einem privaten Drama einlullen, sorry.
Die Premiere von „Idomeneus“ am Deutschen Theater Berlin war im April 2009 von der schweren Erkrankung des Regisseurs Jürgen Gosch überschattet. Die Kritiken rückten damals den Schlussmonolog von Alexander Khuon („ich hänge am Leben“) und die Tränen angesichts von „Grauen“ und „Schmerz“ in den Mittelpunkt und setzten ihn mit dem persönlichen Schicksal des Regisseurs in Beziehung. Gosch wurde bei seiner letzten Premiere zum Schlussapplaus im Rollstuhl auf die Bühne geschoben und erlag nur wenige Wochen später seinem Krebsleiden.
Im Herbst 2015, mehr als 6 Jahre später, haben sich die Vorzeichen grundlegend geändert: „Idomeneus“ steht ab und zu weiterhin als eine der letzten Übernahmen aus der Willms-Ära, bevor Ulrich Khuon und sein Team vom Hamburger Thalia-Theater die Intendanz am DT übernahmen, auf dem Spielplan. Das Ensemble ist mittlerweile in alle Himmelsrichtungen verstreut. Margit Bendokat, Meike Droste, Alexander Khuon und Bernd Stempel gehören immer noch zum Ensemble, andere wie Christian Grashof und Barbara Schnitzler sind mittlerweile nur noch selten zu sehen. Die dritte Gruppe ist längst an anderen Häusern engagiert (Niklas Kohrt, Katharina Schmalenberg, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch) und kommen für dieses Stück an die alte Wirkungsstätte zurück.
So bekommt der Abend den Charakter eines fröhlichen Klassentreffens: Nicht nur in den ersten Minuten ist eine große Vertrautheit zu spüren, als die Körper ineinandergeknäuelt vor der weißen Wand hin und herwogen, sich sehr nah auf die Pelle rücken und dennoch ein erstaunlich konzentriertes chorisches Sprechen hinbekommen. Vor allem auch später ist dem Ensemble anzumerken, dass es sich über das Wiedersehen freut und gerne wieder mal zusammen auf der Bühne steht. Diese kleinen Gesten, hier ein Zwinkern, dort ein Zulächeln oder ein gemeinsames Schmunzeln, prägen den „Idomeneus“ sechs Jahre nach der Premiere.
Und das Stück selbst? Roland Schimmelpfennigs Vorlage, die er für Dieter Dorn schrieb, ist ein kurzweiliges, intelligentes Spiel mit dem Mythos: Wie aus Mozarts Oper bekannt, verspricht der König dem Meeresgott, ihm die erste Person zu opfern, die sie am Strand treffen, wenn er sie aus dem Unwetter rettet und heil nach Hause kommen lässt. Als dem Idomeneus ausgerechnet sein Sohn Idamante in die Arme läuft, entspinnt sich ein dramatischer Konflikt: Muss Idomeneus sein dem Gott gegebenes Versprechen halten und den eigenen Sohn opfern? Oder darf er sich darüber hinwegsetzen?
In flapsigem Ton und kurzen Szenen spielt das Ensemble mehrere Varianten durch, bis zum nächsten Cut: „So war´s nicht. So ist es nicht gewesen.“ – Der Mythos wird zur Spielwiese, auf der sich Assoziationen, Überschreibungen und Neuinterpretationen austoben.
kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html