Fräulein Julie - Badisches Staatstheater Karlsruhe
Ansichten eines Multitalents
19. Dezember 2022. August Strindbergs "Fräulein Julie" – das ist doch die, die sich falsch verliebt und dann aus Schande das Leben nimmt. Geht das heute noch? In Karlsruhe unternimmt Charlotte Engelkes einen neuen Versuch und holt sich dafür den problematischen Autor selbst auf die Bühne.
Von Steffen Becker
19. Dezember 2022. "Fräulein Julie ist ein moderner Charakter, nicht, weil es Halbfrauen, Männerhasserinnen nicht zu allen Zeiten gegeben hätte, sondern weil sie inzwischen entdeckt wurde, hervortritt und Lärm macht…", schrieb der Autor August Strindberg Ende des 19. Jahrhunderts über die Protagonistin seines heute meistgespielten Stückes. Am Karlsruher Staatstheater sagt er es auch. Regisseurin Charlotte Engelkes hat ihn in ihre Neubearbeitung des Stoffs als eine Art "master of ceremony" hineinmontiert. Und sie schickt ihn in ihrer Inszenierung auf eine Mission.
Keine Moral, dafür Sex
Die Tür einer Mischung aus Hochsitz und Plumpsklo fliegt auf und Strindberg-Darsteller Andrej Agranovski deklamiert: "Das Theater erschien mir lange (…) eine Bilderbibel für diejenigen, die nichts Geschriebenes oder Gedrucktes lesen können, und der Bühnenautor ein Laie, der die Gedanken der Zeit in eine populäre Form kolportiert, so populär, dass die Mittelklasse, die das Theater hauptsächlich bevölkert, ohne großes Kopfzerbrechen verstehen kann, worum es geht."
Engelkes Inszenierung macht es der Mittelklasse damit aber gar nicht so einfach. Obwohl sie visuell sehr deutlich macht, dass sie den Stoff aufs Exemplarische reduziert und aus der Zeit herauslöst (Bühne: Anna Ardelius). Zu Beginn klebt Strindberg mit Malerkrepp Strichzeichnungen einer Inneneinrichtung auf zwei Wände aus Wellblech. Vor diesen tanzt die ausgelassene Adelsdame Julie nur mit einem überdimensionalen Hemd bekleidet und flirtet mit Diener Jean. Dass der eine Freundin hat – geschenkt. Interessiert auch Regisseurin Engelkes nicht. Die Figur Kristin hat sie gestrichen. Um zwischenmenschliche Moral geht es in Karlsruhe also schon mal nicht. Um Sex dagegen schon. Jean (Jens Koch) leckt Julie (Frida Österberg) die Zehen. Stehend und wankend auf einem Balancekreisel haben sie Telefonsex (inklusive Regelblutung-Unfall) – auf Englisch.
Der Sprachwechsel signalisiert, dass die Figuren in eine andere Ebene gleiten, in der Verbotenes auf einmal möglich scheint. Der Autor Strindberg erklärt dazu das Phänomen der schwedischen Mittsommer-Feiern, in denen die Menschen verrückte Rituale zelebrieren mit dem Ziel, in der Nacht mit jemandem im Bett zu landen. Dabei versteht man als Publikum immerhin so langsam, was hinter der Figur steckt. Schon zu Zeiten des Autors protestierten Suffragetten gegen das Frauenbild von "Fräulein Julie". Dass Strindberg 2022 als erklärende Instanz die Bühne betritt und Kontext beisteuert, lässt sich als versuchte Immunisierung gegen feministische Kritik lesen. Dazu passt dann auch, dass Andrej Agranovski diesen Strindberg als exaltiert-mephistophelischen Sonderling anlegt, der problematische Ansichten des historischen Vorbilds als Nebenaspekt eines Multitalents einfängt.
Schlachtfelder der Geschlechtergerechtigkeit
Agranovski macht das ausnehmend unterhaltsam, aber sein Strindberg bleibt ein Fremdkörper. Eine Art Ablenkungsmanöver, das auch verdeckt, dass die Geschichte heute kaum mehr trägt. Die privilegierte Frau, die sich mit einem Mann niederer Klasse einlässt und sich aus Schande umbringt – auch in Karlsruhe hat das ausgedient. Aber die Inszenierung wagt auch keinen Blick auf aktuelle Schlachtfelder der Geschlechtergerechtigkeit.
Immerhin: Dem Publikum bringt sie eine faszinierende Paarung. Frida Österberg, als gelernte Opernsängerin ohnehin eine solitäre Erscheinung des Ensembles, gelingt eine einzigartige Performance. Das Changieren zwischen manisch und depressiv spiegelt sie im Wechsel von Schauspiel und Gesang. Ihre Julie verzweifelt nicht an Klassenzwängen, sondern daran, dass sie nicht weiß, was sie will. Julies Konterpart Jean weiß das sehr wohl. Er will nach oben. Jens Koch ist eine in jeder Hinsicht mächtige Erscheinung. Aber er widersteht der Versuchung, seinen Jean allzu dominant wirken zu lassen. Im Gegenteil: Der große Mann schrumpft zu einem genervten Fatalisten, der vor Julies Stimmungsschwankungen kapituliert. Am Ende liegen sie sich trotzdem erschöpft in den Armen. Fazit aus dem Publikum: Man hat ein Experiment an einem aus der Zeit gefallenen Stück gesehen – mit großartigen Schauspielern, die ausführlich beklatscht werden.
Fräulein Julie
nach August Strindberg (mit weiteren Texten von Charlotte Engelkes und Andrej Agranovski, in einer Fassung von Charlotte Engelkes und Eivind Haugland)
Regie: Charlotte Engelkes, Bühne & Kostüme: Anna Ardelius, Musik: Willi Bopp, Dramaturgie: Eivind Haugland.
Mit: Frida Österberg, Jens Koch, Andrej Agranovski.
Premiere am 18. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.staatstheater.karlsruhe.de
Kritikenrundschau
In ihrer Neufassung des Strindberg-Stücks zögen Charlotte Engelkes und Eivind Haugland "Fräulein Julie" aus dem späten 19. ins frühe 21. Jahrhundert, schreibt Sibylle Orgeldinger in den Badischen Neuesten Nachrichten (20.12.2022). Der Klassenunterschied zwischen der Grafentochter und dem Hausdiener fungiere hier "als bloßer Katalysator des Verhängnisses", der "Kampf der Geschlechter" treibe "eine Psychospirale" an. Als dritte Figur trete – statt der gestrichenen Köchin Kristin – der Autor selbst auf, dem der Schauspieler Andrej Agranovski "die Ausstrahlung eines bleichen Springteufels" verleihe. "Zu einem schlüssigen Ergebnis gelangen die Beteiligten zwar nicht", lautet das Fazit der Kritikerin. Aber der Inszenierung gelängen "viele Balanceakte zwischen Witz und Verzweiflung".
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