La mer sombre - Münchner Kammerspiele
Gordisches Kuddelmuddel
30. September 2022. Die queere Fotokünstlerin Claude Cahun wird gerade auf der Biennale in Venedig wiederentdeckt. Dem lyrischen Werk Cahuns widmet sich Pınar Karabulut in der Saisoneröffnung an den Münchner Kammerspielen. Und bringt die Bühnenarbeiter ins Schwitzen.
Von Sabine Leucht
30. September 2022. Ein großes Herz hängt in der Luft; mit Klunkern besetzt, die dauernd die Farbe wechseln. Ein kleiner Wink hinüber zum gerade im Regen absaufenden Oktoberfest mit seinen "I mog di"-Lebkuchen? Oder ein Zitat von Claude Cahun, von deren surrealistisch-symbolistischen Collagen sich der Abend im Werkraum der Münchner Kammerspiele Satz- und Bildfragmente leiht?
Man muss nicht ernsthaft darüber rätseln, denn bald wird klar, dass auf Aleksandra Pavlovićs Bühne die Zeichen gerne ziellos wuchern. Das wenigste von dem, was sich pinkfarben wellt, blütengleich auffächert oder schwertgerade aus dem Boden wächst, wird von Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof und Christian Löber auch bespielt. Neben einer der leuchtenden Schwert-Stelen kommen sie zwar am Schluss sehr schön singend zusammen, und der Spiegel im Zentrum zeigt ihnen ihr dreiköpfiges Ebenbild. Der große Rest aber wird von omnipräsenten Bühnenarbeitern wieder weg- oder gleich nur vorübergetragen, von denen einer stoisch eine Badewanne mit Schaum befüllt.
Schaumparty mit Spaghetti
In der Wanne, bei einer Schaumparty mit Spaghetti im Wasser und "Botox"-Torte in Hausers Gesicht, macht sich in Kohlhofs Stimme eine Sehnsucht breit und verliebte Blicke und Beinahe-Küsse schaffen für Momente eine Spannung und Intimität zwischen den dreien, in der sich andeutet, was diese Ausnahmespieler*innen können. Und das zu sehen, tut fast weh. Denn Pınar Karabuluts Inszenierung macht leider wenig daraus und kaschiert mit szenischem Aktionismus eine große inhaltliche Leere.
Queere Vorreiterin: Claude Cahun
"La mer sombre" (dt. Das dunkle Meer), wie der Abend heißt, mit dem die Kammerspiele in ihrer kleinsten Spielstätte die Saison eröffnen, ist vom Text über die Ausstattung bis zum Spiel auf Verschwendung aus. Den Texten Claude Cahuns, die so gut wie alle Mitwirkenden aus drei Werken der 1894 geborenen Autorin und Fotokünstlerin zusammengefügt haben, erweist die Bastelarbeit einen Bärendienst.
Die Tochter jüdischer Intellektueller, die mit ihrer Stiefschwester zusammenlebte, war zweifelsohne ihrer Zeit voraus. Sie gab sich selbst einen geschlechtsneutralen Namen, liebte das Spiel mit multiplen Masken und Identitäten und gab die Regeln dieses Spiels nie aus der Hand.
Cahuns queere, dandyeske Selbstporträts wurden 1997 erstmals im Münchner Kunstverein ausgestellt und sind derzeit auf der Biennale in Venedig zu sehen. Ihre Texte wurden erst 2002 veröffentlicht, also fast fünfzig Jahre nach ihrem Tod. Claude Cahuns Überschreibungen literarischer und mythologischer Frauenfiguren erscheinen im Oktober unter dem Titel "Heroinnen" erstmals in deutscher Übersetzung. Von der Ironie und Unverfrorenheit, die der Arco-Verlag verspricht, hört man an den Kammerspielen allerdings nur ein leises Echo. Ob Cahun neu zu entdecken oder nur ein Zeitgeist-Phänomen ist, lässt sich daraus schwer schließen.
"Wenn ihr seht, dass wir am Rande der Lust zögern, kommt uns zur Hilfe"
Kohlhof, Hauser und Löber sind in lackschwarzen Langhaar-Perücken und phantasievoll geschlitzten Trikots ein androgynes lyrisches Wir, dessen Ergüsse in dieser dramaturgischen Bastelarbeit eher Geröllcharakter haben. So bollert der unbedingte Wille zum Sentiment gegen einen schwarzgefärbten Narzissmus und eine klar konturierte Banalität wie der Satz "Ich werde mir Socken kaufen" gegen die unscharfe Bitte "Wenn ihr seht, dass wir am Rande der Lust zögern, kommt uns zur Hilfe". Man staunt groß und schön (Hauser), ist hinreißend liebesbereit (Löber), zur Melancholie begabt (Kohlhof) und kann sich noch so kollegial zuhecheln – es hilft alles nichts.
Karabulut, die zuletzt Sivan Ben Yishais grausam-schönes Liebeslied Like lovers do kongenial in eine beschädigte Körpersprache übersetzte, liefert diesmal auch szenisch und choreografisch nur Stückwerk ab, behelfsmäßig zusammengeschustert zu einem – in den Worten von Claude Cahun – "gordischen Kuddelmuddel", das es wieder zu zerschlagen gälte.
La mer sombre
mit Texten und Gedanken von Claude Cahun
Textauswahl & Fassung: Pınar Karabulut, Olivia Ebert, Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Christian Löber
Regie: Pınar Karabulut, Bühne: Aleksandra Pavlović, Kostüme: Claudia Irro, Licht: Maximilian Kraußmüller, Musik: Daniel Murena, Literarische Übersetzung: Magnus Chrapkowski, Dramaturgie: Olivia Ebert.
Mit: Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Christian Löber.
Premiere am 29. September 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Kritikenrundschau
In einem üppig floral wuchernden Garten der Lüste mit vielen Schattierungen von Rosa treffe sich ein Trio, das schon sehr fortgeschritten dabei ist, kleinliche Geschlechterzuschreibungen hinter sich zu lassen, schmunzelt es aus Kritik in der Münchner Abendzeitung (2.10.2022). In Karabuluts Inszenierung gebe es sympathisch entrückte Verträumtheiten. "Aber schon mit ihrem vorigen Projekt 'Like Lovers Do', als es um sexuelle Gewalt ging, entsorgte sie das triftige Thema in aufgekratztem Girlieglamour. 'La mer sombre' ist nun der endgültige Fluchtort in surrealistisch daherkommende Unverbindlichkeiten". Mitunter passieren Sätze wie "Kunst ist Revolution", die freilich folgenlos blieben. "Das 'Gordische Kuddelmuddel', von dem die Rede ist, bleibe was auch immer es ist. s
Die Kammerspiele blieben "stur auf Diskurs-Kurs", beobachtet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2022) – "allerdings auf federleichte und auch rätselhafte Art". Die Texte der französischen Surrealistin Claude Cahun stünden Pinar Karabuluts Art zu inszenieren gut, diagnostiziert der Kritiker. Der Abend lasse "einen eintauchen in einen Schaum der Nacht", bleibe aber "flirrend heiter". Man könne sich dem titelgebenden "'dunklen Meer' hingeben wie einem fluiden Zustand, der eine Stunde währt und dann auch wieder vorbei ist", resümiert Tholl.
Die Autorin Claude Cahun sei eine "veritable Entdeckung" für die Bühne, findet Johanna Schmeller in der taz (1.10.2022). Pınar Karabuluts Inszenierung allerdings habe ein Problem: "Sie macht Spaß, geht aber emotional nicht tiefer als eine Zirkusaufführung", urteilt die Kritikerin – und fragt sich, wo "der Ausbruch aus der Konvention" bleibe, "der revolutionäre Grenzübertritt, der in den Texten und im Leben Cahuns doch angelegt wäre". Die "Sache mit der Freiheit“, so Schmeller, scheine binnen weniger Minuten auserzählt; "zurück bleibt nur: ein kleiner Schwips, ein Schluckauf, wo doch ein Vollrausch der Gefühle dringewesen wäre".
Kein Zufall, dass Pınar Karabulut das schillernd-changierende Ich, das da spricht, in eine spielende Trinität auflöst, so Sven Ricklefs im DLF Kultur heute (30.9.2022). Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Christian Löber seien ein szenisches Wir, ausgestattet mit den gleichen schwarzen Langhaar-Perücken. Sie sind mal fast abstrakte Sprechpuppen, mal Liebende, die sich durch fluide Konstellation hindurchwechseln. Dabei entsteht eine konsequente Form, die mit Leichtigkeit durch den Abend trägt. Fazit: "La Mer Sombre" weist auf erfrischend-spielerische Weise auf die beeindruckende Künstlerin Cahun und ihren eigenen Kosmos hin.
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Komplette Kritik: daskulturblog.com/2022/12/23/la-mer-sombre-munchner-kammerspiele-kritik/