Mein Name sei Gantenbein - Berliner Ensemble
Steht etwas auf dem Spiel?
15. Januar 2022. "Ich probiere Geschichten an wie Kleider": Mit diesem Programm begibt sich der Erzähler von Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" auf die Suche nach sich selbst, nach seiner Identität und sozialen Rolle. Als Monolog inszeniert BE-Intendant Oliver Reese den Roman – mit dem bekannten Schauspieler Matthias Brandt.
Von Michael Wolf
15. Januar 2022. Nicht ohne Stolz verkündet das Berliner Ensemble seinen Coup. "Nach zwanzig Jahren Abstinenz", so heißt es in der Ankündigung des Stücks, kehre Matthias Brandt auf die Bühne zurück. Brandt ist vor allem als Film- und Fernsehschauspieler bekannt, spielte lange den Kommissar im Münchner "Polizeiruf". Eine naheliegende Herausforderung für eine solche Rückkehr auf die Bühne dürfte die Intensität des Spiels sein. Vor einer Kamera ist Dezenz gefragt, im vollbesetzten Saal des Berliner Ensembles muss alles schon etwas größer geraten, damit auch in der letzten Reihe noch etwas ankommt. Man wollte offenbar kein Risiko eingehen und stattete Brandt vorsorglich mit einem Mikroport aus, was aber wohl nicht nötig gewesen wäre, denn sein Monolog leidet überhaupt nicht unter Minimalismus. Im Gegenteil macht Brandt sich allzu breit auf der Bühne, und da dort sonst nichts ist als sein Text, walzt er diesen einfach platt.
Witzeln, wüten und verzweifeln
Was bei anderen Stücken vielleicht den Eindruck von Entschlossenheit ergäbe, wirkt im Falle von Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein" schlicht grob. Wie ein ungestümer Liebhaber packt Brandt den Text an Stellen, die eher sanft berührt werden wollen, platzt mit dem heraus, was in der Andeutung sicherer aufgehoben wäre. Den melancholischen Grundton des Romans trifft er gar nicht, fokussiert sich vielmehr auf die Ausreißer, witzelt, wütet oder verzweifelt. Zwar schillert Frischs Roman im besten Sinne, lotet Humor gleichermaßen wie Tragik aus, Leichtigkeit wie Tiefe. Doch während dieses Oszilllieren im Original Ausdruck eines literarischen Programms ist, bleibt bei Brandt nur der Effekt übrig. Er und sein Regisseur, BE-Intendant Oliver Reese, begnügen sich zumeist mit der Oberfläche dessen, was bei Frisch steht, ohne dass ein größeres Interesse daran erkenntlich würde, was es denn zu bedeuten hat.
Freilich wäre viel Einsatz vonnöten für eine solche Suche, da der Roman seiner eigenen Festlegung davonläuft. "Mein Name sei Gantenbein" ist keine gewöhnliche Prosa, sondern exerziert die Praxis des Erzählens selbst durch. Die zwei berühmtesten Sätze formulieren die Poetik. Erstens: "Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung." Und zweitens: "Ich probiere Geschichten an wie Kleider." Ein Erzähler fantasiert, gibt sich auf die Suche nach einer neuen Identität, wobei allerdings nicht klar ist, ob er wirklich die Gewalt über seine Träumereien behält, ob sie ihm nicht selbst entgleiten.
Eine Frau namens Lila
Ein Strang verfolgt den titelgebenden Gantenbein, einen Mann, der sich als Blinder ausgibt, um nicht betrogen werden zu können, denn, wie es heißt: "Man kann einen Blinden nicht hinters Licht führen." Seine Frau Lila, eine erfolgreiche Schauspielerin, liebt ihn gerade dafür, dass sie sich vor ihm nicht verstellen muss. Sie braucht sich auch keine Mühe geben, ihre Affären zu verheimlichen. Gantenbein selbst genügt es, nicht hintergangen werden zu können, zumindest so lange, wie es tatsächlich etwas gibt, das er sehen kann, aber nicht sehen soll. Als seine Frau ihm auf einmal treu ist, gesteht er seine Lüge und die Beziehung zerbricht.
In einem weiteren Strang geht es um Enderlin, einen Wissenschaftler, der einen Ruf nach Harvard erhält, aber die Stelle nicht anzutreten wagt, weil der unverhoffte Erfolg nicht zum Bild passt, das sein Umfeld und er selbst von ihm haben. Krank werden, könnte eine Ausweg sein, denkt er. Und einige Seiten später sieht er tatsächlich dem Tod ins Auge. Auch er trifft schließlich auf eine Frau namens Lila, verbringt eine Nacht mit ihr und hadert danach damit, sie wiederzusehen, die singuläre Erfahrung mit ihr zu verstetigen und damit zu entwerten, in das Räderwerk des Erwartbaren zu geraten, in die trostlose Gewissheit.
Einsam im Aktionismus
Als das Thema des Romans wie Frischs Werk schlechthin gilt die Identität, wobei selbst dieses große Wort etwas schlicht wirkt in Bezug auf den Stoff. Zwar geht es um Eigen- und Fremdwahrnehmung, um letztlich soziale Fragen also, doch ebenso sehr drückt sich ein Widerwillen gegen höhere Mächte aus: gegen den Zwang, überhaupt jemand sein zu müssen. Existenzielles steht im Roman also auf dem Spiel, nicht aber auf der Bühne, wo Matthias Brandt im Inneren eines mit Holztafeln ausgestatteten Bogens mit einem Blindenstock hantiert, eine dunkle Sonnenbrille aufsetzt, betrunken im Feinripphemd herumtaumelt oder eifersüchtig mit Lilas Liebesbriefen herumfuchtelt. Die Figurenrede von Frauen flötet er, bei sexuellen Anspielungen steckt er sich die Zunge in die Backentasche.
Brandt wirkt sehr einsam in seinem Aktionismus, betont jeden dritten Satz so, als wäre darin eine größere Wahrheit zu finden, auch wenn nur eine dürftige Pointe herausspringt. Sein Regisseur lässt dazu Hintergrundmusik einspielen, billiges Gedudel, wenn es lustig werden soll, getragene Streicher, wenn ein bisschen Pathos gebraucht wird, treibenden Sound, wenn Brandt gerade einem Geheimnis auf der Spur ist. Das wirkt wie schlechte Filmmusik, die eine Szene nicht unterstützt, sondern dazu dient, dem Publikum zu verstehen zu geben, wie es etwas zu verstehen hat. Als wäre das notwendig an einem Abend, der sich mit sehr wenig zufrieden gibt.
Mein Name sei Gantenbein
von Max Frisch
Regie/Bearbeitung: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüm: Elina Schnizler, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Steffen Heinke, Dramaturgie: Johannes Nölting.
Mit: Matthias Brandt.
Premiere am 14. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
"Berlin ist um eine Touristenattraktion reicher", konstatiert Wolfgang Höbel im Spiegel (15.1.2022). Zwar sei Max Frischs Text inzwischen etwas veraltet und komme auf der BE-Bühne als "literarisches Herrengedeck" daher, in dem Frauenfiguren "uninteressant und schemenhaft" blieben. Aber so "voller Eleganz" und "mit äußerst glaubwürdiger Text-Leidenschaft", wie Matthias Brandt diese One-Man-Show spiele, könne sie dem Kritiker zufolge für die nächsten zwanzig Jahre auf dem BE-Spielplan stehen.
Als "Kraftakt" beschreibt hingegen Patrick Wildermann im Tagesspiegel (15.1.2022) das Unterfangen, Frischs "Wechselspiel der Identitäten" als hundertminütiges Solo auf die Bühne zu bringen. Und genau danach sehe es auch aus: "Über weite Strecken des Abends wirkt es eher, als würde Brandt in den Bergmannshabit steigen, um unter Tage nach Geschichten zu schürfen", findet der Kritiker und beklagt insgesamt zu viel "Äußerlichkeit".
"Wenig Gegenwarts-, viel Fantheater" sah Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (15.1.2022) – und auch: "Fernsehtheater". Matthias Brandt agiere über weite Strecken "anschaulich imitierend, anekdotisch überzeichnet, haptisch und gefällig". Oliver Reeses Regie beseitige alles Brüchige zugunsten einer "gut konsumierbaren Erzählorgie".
"Nur hin und wieder werden ein paar überflüssige Takte Fahrstuhlmusik oder Atmosphärentöne eingespielt – dadurch wird die Konvention unfreiwillig karikiert. Sonst aber ist das ein schlichter, unprätentiöser, unauffälliger Abend", so Simon Strauß in der FAZ (17.1.2022). Matthias Brandt folge seinem Text mit schüchterner Disziplin. "Er spielt vorsichtig, fast verhalten, nur ausnahmsweise gleitet er ab ins Lakonische, erlaubt sich ein paar Varianten."
"Hier fehlt jeder Link, der offensiv vom Bühnengeschehen auf das Leben des Publikums zielen würde“, bemängelt Erik Zielke auf nd-aktuell.de (16.1.2022). Dem Abend mangele es an einem "eigentlich notwendigen inszenatorischen Zugriff". Und weiter: "Freude sollte aufkommen, wenn ein exzellenter Schauspieler einen herausragend intelligenten Roman wie den von Frisch zu Leben erweckt. Aber dann passiert das Unvermeidliche: Man begreift, dass hier nichts passieren wird, was man nicht erwartet hätte." Auf Kosten intellektueller Tiefe habe man sich entschieden, leicht verdauliche Unterhaltung zu produzieren.
"Mehr braucht es nicht für einen faszinierenden Theaterabend: einen guten Schauspieler, ein literarisches Werk, das einige prinzipielle Fragen stellt, und einen Regisseur, der genau hinhört", jubelt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (17.1.2022) Matthias Brandt, sozusagen das Paradox eines introvertierten Schauspielers, dem man im Spiel immer auch beim Denken, beim In-sich-Hineinhorchen zuzusehen glaubt, spielt diese probeweisen Figurenwechsel ganz leichtfüßig, manchmal fast tänzerisch, immer grundiert mit etwas verwundertem Staunen, als könne er das alles nur begrenzt ernst nehmen: Ach, das könnte ich also auch sein, erstaunlich."
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"Das geht natürlich gar nicht, nicht in Zeiten von Wokeness, Feminismus und Repräsentationskritik: Ein mittelalter Mann aus dem gehobenen Bürgertum, der sich einen ganzen Roman lang, oder für die Dauer eines Theaterabends, nur für sich selbst interessiert. Der Rest der Welt, seine Geliebte, überhaupt "die Frauen" dienen dabei vor allem als Spiegel der eigenen, schwer von sich selbst faszinierten Person. Andererseits geht das natürlich ganz hervorragend, zumindest wenn man Romane nicht mit Leit- und Leidartikeln verwechselt und von Theateraufführungen nicht in erster Linie Gesinnungsdemonstrationen verlangt. Das macht den Blick frei, zum Beispiel für die eigene Wahrheit eines Kunstwerkes und die Widersprüche und Ambivalenzen seiner Figuren.
Genau diese Ambivalenzen auszuloten gelingt dem Schauspieler Matthias Brandt und seinem Regisseur Oliver Reese jetzt am Berliner Ensemble mit einer furiosen, nuancenreichen Erkundung von Max Frischs Identitätsfragezeichen-Roman "Mein Name sei Gantenbein". Der Solo-Abend für einen hochkonzentrierten Matthias Brandt, der hier zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten wieder Theater spielt, ist nicht weniger als die Neu- und Wiederentdeckung des vor knapp 60 Jahren erschienenen Romans."
Vielen Dank für einen atemberaubenden Matthias Brandt und wunderbaren Theaterabend.
„Ich probiere Geschichten an wie Kleider“, das ist der gängige Schlüssel zur Interpretation von Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“, den auch die Inszenierung von Oliver Reese brav bedient. Auf dem st-Einband des Romans wurde ergänzend Günter Blöcker ein Denkmal gesetzt, dem Journalisten, der zu Lebzeiten wegen seiner Kritik an Paul Celan Bekanntheit erlangte: „Der Rückzug vom Menschen auf die Spielfigur, der das ästhetische Signum dieses Buches ist, hat dem Autor zu einer neuen Souveränität verholfen.“ Durchaus als Mensch und nicht als Spielfigur war Paul Celan ein Svoboda in Bezug auf Ingeborg Bachmann und Max Frisch gab den Enderlin. Auch die Beziehung Bachmann Frisch scheiterte nach wenigen Jahren. „Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht“, schrieb Frisch in „Montauk“.
Den Plot von Gantenbein hatte Max Frisch als „Biografie: Ein Spiel“ selbst bereits für die Bühne bearbeitet, in der Tat weniger virtuos, als es der Roman war. Zur Hauptfigur des Stückes bemerkte er: „Keine Szene nämlich paßt ihm so, daß sie nicht auch anders sein könnte. Nur er kann nicht anders sein.“
Matthias Brandt gibt den ‚alten weißen Mann‘, der nicht anders sein kann und tapfer seine Rollen spielt, am Schluss beklatscht von einem Publikum, das mehrheitlich aus Frauen seiner Generation besteht.
Als Motto von „Biografie: Ein Spiel“ zitierte Frisch – wie ich meine sehr selbstbewusst - Oberst Werschinin aus Tschechows „Drei Schwestern“. Kurios, sich ausgerechnet auf den russischen Fatalismus zu berufen. Immerhin versucht Werschinin die Gelegenheiten, die das ihm unwiderruflich auferlegte Schicksal bietet, so gut wie möglich auszukosten.
Ich bin nicht Stiller, ich bin Werschinin.
„Das Höllentor einer Liebe“ und „sie waren «ein Unheil füreinander»“ übertitelte die NZZ am 15.11.2022 die Besprechung des neu erschienenen Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch von Paul Jandl. Die Editoren selbst wählten das Zitat «Wir haben es nicht gut gemacht» als titelgebendes Motto. Die Briefe seien Dokumente, so Jandl, „einer wechselseitigen Überforderung“. Was „zart“ begann, wurde zu einem „vielköpfigen Monster“, zu einem „Hauen und Stechen“ der beiden berühmten Schriftsteller, die eine Zeitlang meinten, ohne einander nicht sein zu können, es miteinander aber ebenso wenig aushielten.
„Mein Name sei Gantenbein“ spielt in diesem Drama eine nicht unwesentliche Rolle. Er ist natürlich ein Schlüsselroman, allerdings nicht „als brutale Indiskretion eines unsensiblen Chauvinisten“, wie es – so die Briefwechsel-Mitherausgeberin Renate Langer bereits 2011 – der „in der Bachmann-Anhängerschaft weitgehend herrschende Konsens“ vorschreibt.
Die Auseinandersetzung mit diesem Briefwechsel aus der Distanz von 60 Jahren kann dazu führen, das Verschwinden der Liebe zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich in Hass und falschen Schuldzuweisungen zu verlieren. Das hilft in der Welt heute.
Margarete von Trotta arbeitet an einem Film über die Beziehung Bachmann – Frisch.
Oliver Reese hat einen günstigen Zeitpunkt gewählt, um „Mein Name sei Gantenbein“ auf die Bühne zu bringen. Es wäre gewiss sehr spannend, in einem Mini-Symposium dieses Werk aus der Perspektive der Bachmann-Frisch-Beziehung neu und anders zu beleuchten.
Lieber Matthias Brandt, nun können wir seit dem 02.01.2023 Ihre Lesung von Max Frischs Briefen bei NDR Kultur (auch im Internet) verfolgen. Geben Sie doch einen kurzen Tipp, ob die Beschäftigung mit dem Briefwechsel Ihr Rollenverständnis von „Gantenbein“ im BE verändert hat, den Sie Anfang Februar wieder geben werden. Sind Sie für Perspektiven-Gerechtigkeit?