Der Kirschgarten - Schauspielhaus Zürich
Tschechow auf der Couch
von Valeria Heintges
Zürich, 14. Dezember 2019. Tschechows "Kirschgarten" – ein Hirngespinst? Nur eine Projektion für große Gefühle, Erinnerungen an Zeiten voller Glück und Wohlstand? "Meine Mutter kriegt den Kirschgarten nicht mal mit, wenn man sie reinstellt", sagt Tochter Anja brutal. Anjas Mutter, die Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, genannt Ljuba, ist krank. In Yana Ross’ Zürcher "Der Kirschgarten. Nach Anton Tschechow" und in der hervorragenden Interpretation von Danuta Stenka ist sie eine entwurzelte, zwischen Kulturen, Ländern und Sprachen lebende kranke Frau. Ihr erster Auftritt zeigt eine von Drogen brutal verjüngte Partyqueen, mit Kopfhörern auf den Ohren, kunstvoll-modisch zerschlitzten Hosen an den Beinen und Krankheit im Körper, irgendetwas zwischen Abhängigkeit, Depression, Bipolarität und völliger Entrückung.
In der Klinik nahe dem Garten
Ljuba kommt verschuldet zurück in die Schweiz, nach langen Jahren in Paris. Der Verkauf des heimatlichen Besitzes ist die einzige Möglichkeit für die Familie, an Geld zu kommen. Aber außer Heinz, der bei Tschechow Lopachin heißt, scheint das keinen weiter zu interessieren. So weit, so Tschechow. Aber in Zürich spielt das Geschehen in einer sündhaft teuren Privatklinik – 20.000 Franken die Woche –, von der aus "man den Kirschgarten fast sehen kann" und in der sich die Mutter acht Wochen lang therapieren lassen soll. Bis zum Tag der Auktion wird auch in Zürich nur geredet. Während Ljuba behandelt wird, treiben sich die anderen in Warte- und Gästezimmern herum. Und werden ebenfalls therapiert, in Zweiersitzungen und Gruppentherapien.
Die Zweiersitzungen kommen per Video, die Algirdas Gradauskas vorab drehte und in denen die Akteure auf die Stimme von Dr. Firs in Therapiesitzungen antworten. Wie ist Ihr Verhältnis zu Männern? Wie das zu ihrer Mutter? Wie geht ihre Familie mit Trauer um?
Tief wühlt die litauisch-amerikanische Regisseurin in den Psychotiefen der Figuren, entlarvt ihre Lügen, ihre Eitelkeiten, ihre Geheimnisse. In den Antworten von Wiebke Mollenhauer als Anja sitzt jeder Blick, jedes Lächeln, jedes Grinsen. Aber wenn es ans Eingemachte geht, ist ihre mädchenhafte Jugendlichkeit schnell dahin, Mollenhauers Nuancenreichtum ist nur ein, wenn auch ein deutliches Zeichen dafür, wie stark das Niveau und die Spielfreude des Ensembles unter der Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg gestiegen sind.
Was die Tochter sah
So wird die Gruppentherapie zum Höhepunkt der Inszenierung, wenn alle schön im Halbkreis sitzen und zur Familienaufstellung gebeten werden. Plötzlich bricht es aus Lena Schwarz’ als Adoptivtochter Babs (im Original Warja) heraus. Sie, die dienstfertige, allzeit höfliche, unterwürfige Frau, haut Ljuba und dem Studenten Peter (vormals Trofimow, Steven Sowah spielt ihn sehr jugendlich) um die Ohren, dass sie sah, wie sie sich zusammen vergnügten, als Sohn Grescha ertrank. Jener Grescha, das allgegenwärtige Gespenst (Vincent Basse) taucht auf, wenn sich Ljuba von Elektroschocks erholt oder sich mit ihrem neuen Lover Karl (Milan Zerzawy) im Pool vergnügt. Den hat Justyna Elminowska in die Zimmer der Klinik gebaut, ebenso eine Steinwand samt Fachwerk-Balken, Videowand und herausfahrbarer Glasbox.
Einige Anpassungen sind für diesen Tschechow auf der Couch nötig: aus dem alten Diener Firs wird der Therapeut Dr. Firs (sonor und voller Autorität: Gottfried Breitfuss), aus der Gouvernante Charlotta Lover Karl, aus dem Bruder Gajew der Schwager Leo. Den spielt Michael Neuenschwander als konservativen Lebemann, der an der Welt leidet und doch nichts tut. Der Macher ist auch hier eindeutig Geschäftsmann Heinz. Thomas Wodianka spielt ihn kantig und kaltschnäuzig, hat er doch das Gut schon vor fünf Jahren gekauft.
In einer starken Szene rechtet er mit Leo über die Vergangenheit ab, wirft ihm Hochnäsigkeit und Dünkel vor. Ross muss nur ein wenig drehen, um Szenen wie diese auf Schweizer Verhältnisse anzupassen; etwa wenn aus dem Leibeigenen ein Verdingkind wird. Oder Leo in schwülstigen Worten den "Gotthard-Granit" an den Wänden lobt und in SVP-Manier zu einer Eloge auf die Heimat ansetzt.
Neue Herkunftsgeschichten
Da passt es auch, dass auf der Bühne nicht nur wenig Original-Tschechow zwischen den zeitgenössisch überschriebenen Passagen zu Gehör gebracht, sondern auch in einem Mix aus Englisch, Deutsch und Polnisch parliert wird – Zürichs große Expat-Gemeinde lässt grüßen. Ross hat mit ihrer Dramaturgin Fadrina Arpagaus und in langen Proben Ljuba zusätzlich zu ihrem polnischen, auch einen jüdischen Hintergrund gebastelt. Den buddelt sie – Vorsicht: Psychologie! – in einer Filmsequenz aus dem Versteck im Erdboden aus, samt Pass, Schmuck und religiösen Gegenständen. Der Sprachenmix ist ein Tribut an die Tatsache, dass die ungeheuer körperlich agierende Polin Stenka, gerade erst in der Schweiz gelandet, mit der Sprache kämpft. Großartig ihr Spiel, wenn sie sagt, sie fühle sich mit der Sprache blockiert und dabei die Worte ausspuckt als lägen sie wie hartkantige Würfel in ihrem Mund.
Am Ende lässt Ljuba auch ihre Tochter Anja zurück. Die bewegliche Glasbox, zuvor schon Wartezimmer und Arztpraxis, wandelt sich zum Käfig für die Alleingelassene, die verzweifelt gegen die Wände anrennt und nach "Mama!" ruft. Die nächste Generation wird wieder neue Geheimnisse haben, die ihr das Leben schwer machen. Und auch sie wird, das zeigen die dann allerletzten Szenen, wieder so tun, als sei nichts gewesen, und lieber "zu Wein und Oliven nach Italien fahren". Da ist Ross, trotz aller Freiheiten, wieder ganz nah bei Tschechow. Und das Experiment trotz kleiner Längen spannend erzählt.
Der Kirschgarten
nach Anton Tschechow
Regie: Yana Ross, Bühne: Justyna Elminowska, Kostüme: Zane Pihlstrom, Musik: Jonas Redig, Licht: Vilius Vilutis, Video: Algirdas Gradauskas, Live Video: Julian Gresenz, Choreografie: Evelina Stampa, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus.
Mit: Danuta Stenka, Michael Neuenschwander, Wiebke Mollenhauer, Lena Schwarz, Vincent Basse, Milian Zerzawy, Thomas Wodianka, Steven Sowah, Gottfried Breitfuss.
Premiere am 14. Dezember 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Überhaupt keine Idylle, auch nicht im Inneren der Menschen. In keinem", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (20.12.2019). Viel Tschechow sei hier nicht übrig, "und doch folgen alle Motive des stark durch Improvisationen unterfütterten Abends dem Original". Es gebe ganz starke Theatermomente, aber nicht durchgängig. "Mitunter gerät der Abend ins Taumeln, schleppt sich mühsam voran, gerät die Sprache, gemessen am Original, zu banal." Aber alle Zerrüttungen in dieser Familie werden zu den Zerrüttungen des 21. Jahrhunderts.
Wozu hier genau gespielt wird, werde nicht recht klar, so Simon Strauss in der FAZ (16.12.2019). "Um zu zeigen, welche Konflikte eine Tschechow’'che Tragikomödie heute behandeln müsste? (...) Oder um zu beweisen, dass Tschechows traurig funkelnde Komik sich nicht so einfach doubeln lässt?" Bei Ross sei das hinzuerfunden Tragische zwar ernst gemeint und durch die Figur eines ertrunkenen Sohnes auch unterstrichen. "Aber irgendwie kommt der 'aus Improvisationen entstandene, kollektiv polyphone Sprachkörper von Autor, Ensemble, Regie und Dramaturgie' nicht richtig in Fahrt." Die einzige Sprache, die diese heruntergekommenen Familienmenschen miteinander sprechen können, ist die der Gewalt. Und damit werde einmal mehr ein allzu improvisierter Punkt gemacht. Fazit: "Das, was etwa einem Ewald Palmetshofer mit Hauptmanns 'Vor Sonnenaufgang' vorzüglich gelungen ist: Die genaue Übertragung der historischen Schicksalskonstellation in den zeitgenössischen Duktus, das geht hier schief. Bei der Überschreibung verrutschen die Abgründe."
Man fand sich an der Premiere in einer ihm fremden Institution wieder, "die künstlerische Leitungscrew löste ein, was sie mit dem Antritt von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann angedroht hatte: Sie stellt das Sprechtheater auf den Kopf", schreibt
in der Neuen Zürcher Zeitung (16.12.2019). Dem Zürcher Sprechtheater glücke damit der Sprung in die Gegenwart, "Ross' Tschechow-Überschreibung sucht nach nicht weniger als nach dem letzten Verbindenden zwischen Menschen." Ross beschreibe die Emotionstaubheit und die Verluderung von Familie. Sie kümmere sich damit um Tschechow ohne Kompromisse."Sehr frei nach Tschechow und sehr nah an uns", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (16.12.2019). Yana Ross' Einstand als Zürcher Hausregisseurin habe es sich: es herrsche keine Minute Lanegweile, das heterogene Ensemble spiele total gut zusammens, heraus steche auch der Mut der Regisseurin, ihren neun Figuren ein traditionelles psychologisches Profil zu verpassen.
Yana Ross übernehme die Konflikte von Tschechow und gibt ihnen neuen Raum, so Andreas Klaeui im SFR (16.12.2019) "Es geht nicht immer auf - plötzlich ist dann doch wieder von Leibeigenen die Rede oder Gutsherren, was nun weniger ins heutige Zürich passt. Aber die Regisseurin arbeitet sehr präzise die Figuren heraus und was sie antreibt, ihre psychologischen und sozialen Motivationen, die Missverständnisse oder vielmehr das gegenseitige komplette Unverständnis." Der Höhepunkt der Inszenierung sei dann eine Familienaufstellung, in der die Figuren sich so hinstellen, wie sie die Beziehungen untereinander empfinden. "Hier geschieht genau das, was eine gute psychologische Inszenierung immer ausmacht: Beziehungen und Beziehungsmuster werden sichtbar, Konflikte auf- und ausgestellt. Yana Ross treibt es in ihrer Zürcher Inszenierung auf die Spitze, klar und unterhaltsam."
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