Die Verdammten - Schauspiel Köln
Die Eisunheiligen
von Andreas Wilink
Köln, 7. Dezember 2019. Alle Wetter! Lange rieselt der Schnee. Winde heulen und jachtern, mit allem Zick und Zack, Bim und Bam orgelt die Tonspur. Gewitter krakeelt. Das Käuzchen ruft. Ersan Mondtag erhebt den Arm: Der arge deutsche Märchenwald erwacht und hat die Reihen fest geschlossen.
Ein frommer Irrtum ist, zu glauben, die Hölle sei der reinste Feuerofen. Sie könnte auch Eismeer sein und schlimmstenfalls das Wechselbad extremer Temperaturen von entweder brennender Hitze oder beißendem Frost. In dem von weiß bestäubten Tannen umstandenen, schneeverwehten Außen-Innenraum eines geborstenen Salons mit hölzernem Treppenhaus und Galerie, an dessen einer Wand das riesig vergrößerte Foto eines Kinderporträts von Adolf Hitler hängt, erwartet eine Gesellschaft – zwischen Kubricks aufgepolsterter "Clockwork Orange"-Gang und tiefgekühlten, hoffnungslos gescheiterten Seelen-Masken – ihr winterliches Ende. Die unheilige Krippenszenerie ist aufgebaut im Depot des Kölner Schauspiels.
Trauerzug der Geschichte
Luchino Viscontis Film "Die Verdammten" von 1969 heißt im Original "La Caduta degli Dei" und trägt somit den Titel des Schlussteils von Richard Wagners Tetralogie vom "Ring des Nibelungen", in dem der Tod Ernte hält, die Götterburg Walhall fällt und der Weltenbrand entzündet wird. "Der Zug der Geschichte ist kein Triumphzug, sondern ein Trauerzug", schreibt Walter Benjamin. Bei Ersan Mondtag fährt – und entgleist – eine Geisterbahn.
Visconti wurde gewissermaßen in einer Loge der Mailänder Scala sozialisiert – mit Wagners einsamer Brünnhilde, Verdis blutiger Lady Macbeth und der todkranken "Traviata" Violetta. Frauen, die keine Mütter sein durften. Aber in der Fantasie des italienischen Hochadligen wurden Frauen zu verheerenden Müttern und mit demselben Atem zu Schmerzensmüttern: Mama Parondi aus "Rocco und seine Brüder", die Königinmutter des märchenhaften Ludwig von Bayern und seine schwesterliche Ersatzmutter Elisabeth von Österreich, genannt Sissi alias Romy Schneider, die römische demi-mondäne Marchesa Bianca in "Gewalt und Leidenschaft" und Sophie, die Mutter Martins von Essenbeck, Enkel von Joachim, dem Patriarchen dieser Dynastie der "Verdammten".
Die bitteren Tränen der Sophie von Essenbeck
Großkapital und Nationalsozialismus, Machtwahn, Verbrechen und Verrat, Perversion und Nekrophilie gehen in Viscontis Filmoper eine vom Melodram gestiftete infame Verbindung ein. Die Götterdämmerung bricht an, nachdem geraubt und gemeuchelt, die SA durch die SS aus-, das Ruhrstahl-Unternehmen gleichgeschaltet wurde und Sohn Martin im Inzest über die morphiumsüchtige Mutter triumphiert. Er bricht Sophie nieder, indem er sie in einer gespenstischen Trauungszeremonie an ihren Geliebten, den Firmenleiter Friedrich Bruckmann, vermählt und das Totenlager für Beide bereitet. Martin wird künftig willige Marionette des Nazi-Regimes sein – unter Führung seines Offizier-Mentors Aschenbach, dem Visconti den Namen von Thomas Manns den "Tod in Venedig" sterbenden Künstlers gab, den er 1971 filmisch aufnahm.
Ersan Mondtag führt uns ein Gruselkabinett wie aus einem B-Picture vor, in dem einem nur Vincent Price fehlt, oder einem Fassbinder-Film seiner mittleren Schaffensjahre: Die bitteren Tränen der Sophie vom Essenbeck. Es ist aber doch bloß ein pompöser, auf Slow Motion geschalteter Mummenschanz von in scheußliche Neonfarben und Muster gekleideter Fratzen.
Auch bei Visconti haben wir der Kolportage nicht ganz fern stehende Charaktermasken und Phänotypen, Mondtag sattelt drauf und verdreht hier und da auf wenig sinnstiftende Weise die Geschlechtervorzeichen; er staffiert Strichmännchen und Ölgötzen aus, stimmtrainiert und malträtiert sie und lässt sie stolzieren: den Aristokraten Joachim (Margot Gödros – eine Mumie in Pelzstola), der die Welt von Gestern betrauert und dem die Sterbefantasie des alten Habsburger Kaisers aus Joseph Roths "Radetzkymarsch" sein Bewusstsein bis zur Neige durchströmt; den Widerständler Herbert (Yuri Englert); den aus Schwachheit und Feigheit zum Mörder werdenden Mitläufer Friedrich (Elias Reichert als Jämmerling); den grobschlächtigen, breitbeinigen Handlanger Konstantin (Benjamin Höppner); den skrupellosen Strategen und Hegelianer in Gestalt der Intelligenzbestie Aschenbach (Nicolas Lehni, maliziös in rotem Leder); Günther als Vertreter der verratenen, zum Hass verführten Generation (rührend verwuschelt: Jonny Hoff) und das sexualpathologische Groß-Kind Martin, dem Ines Marie Westernströer keine Eigenschaften außer Bockigkeit gibt.
Die Inszenierung denunziert den Stoff, indem sie ihn zum ästhetischen Selbstzweck herausputzt: stil- und selbstverliebt (vielleicht ist es dasselbe) und penetrant in seinen Demonstrationsmitteln mit Wagners Liebestod aus dem "Tristan", Ernst Moritz Arndts "Vaterlandslied" und hinzugefügten Passagen für Sophie von Essenbeck (Yvon Jansen), die zunächst Brecht / Eislers "Kinderhymne", singt, bevor der Todgeweihten Thomas Buddenbrooks Früchte aus dessen Schopenhauer-Lektüre in den Mund gelegt werden. Die Form einer garstigen, klebrigen Schreckschuss-Operette bringt keine (neue) Erkenntnis, sondern begnügt sich mit der Verformung.
Die Verdammten
nach dem Film von Luchino Visconti
Regie und Bühne: Ersan Mondtag, Mitarbeit Bühne: Christine Ruynat, Kostüme: Teresa Vergho, Licht: Rainer Casper, Musik: Beni Brachtel, Dramaturgie: Beate Heine, Chor-Einstudierung und Choreografie: Jonas Grundner-Culemann.
Mit: Marta Arteaga, Yuri Englert, Pauline Essmann, Margot Gödros, Benjamin Höppner, Jonny Hoff, Yvon Jansen, Mika Kickbusch, Nicolas Lehni, Elias Reichert, Merle Wasmuth, Ines Marie Westernströer, Antonia Bockelmann, Dennis Bodenbinder, Campbell Caspary, Laura Friedmann, Marlene Goksch, David Kösters, Paul Langemann.
Premiere am 7. Dezember 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.schauspiel.koeln
"Es passiert (…) durchaus etwas in diesem großen Tableau, ja eigentlich passiert eine ganze Menge", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (9.12.2019), "nur dass Mondtag eben die Geduld der Zuschauer strapaziert, indem er auf psychologische Unterfütterungen oder straffe Handlung verzichtet."
Mondtag nehme "einige sinnvoll dramaturgische Abkürzungen", reduziere aber vor allem die Fallhöhe des Visconti-Personals "drastisch", so Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau. Es gelte das Prinzip: "Knalleffekt schlägt große Geschichte."
Michael Laages bleiben auf Deutschlandfunk (8.12.2019) "all diese Monstren und Grusel-Lemuren merkwürdig fern". Laages konstatiert "lauter starke Bild-Effekte. Doch politische Hinter- und Abgründe sind ausgerechnet bei diesem Material erstaunlich fern. Ersan Mondtag begräbt die elende, fundamental zerstörerische Verstrickung von deutscher Wirtschaft und deutschem Faschismus, er setzt den Tätern sozusagen die Totenmaske auf. 'File closed', Deckel drauf – aber ist der Fall denn wirklich erledigt?"
"Mondtag enthüllt Hitler als den insgeheim ersehnten Stammhalter der Stahlbarone", schreibt Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.12.2019)."So weit, so simpel. Man ist verleitet, auch die übrigen Einfälle des Regisseurs plakativ zu nennen, aber damit würde man eine Sinnfälligkeit unterstellen, die nicht im Ansatz gegeben ist." Bahners fragt: "Kritisiert die verzerrte Kölner Kopie mit ihren abgestandenen Grobianismen vom mikrofonverstärkten Gebrüll bis zum Gummischwanzvergleich den Glauben Viscontis an die pervers selbsterklärende Kraft der Ästhetik?" und antwortet sich selbst: "Wirksam könnte solche Kritik nur werden, wenn der Film und die Bühnenparodie nacheinander aufgeführt würden."
"Mondtag ist ein Meister der atmosphärischen Suggestion, der Lichteffekte, des abgründig Unheimlichen. Er hat nicht nur Visconti geguckt, sondern auch seinen Caspar David Friedrich durchaus studiert", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (9.12.2019). Ein ganz großer Wurf sei 'Die Verdammten' aber nicht geworden. Mondtags oft stupende Imagination könne mit der des Films beinahe mithalten. "Doch in Luchino Viscontis "Götterdämmerung" geht es letztlich nur in zweiter Linie um die Story mit ihren kruden Wendungen. Was so ein filmisches Meisterwerk unvergleichlich macht, ist die Großaufnahme - das menschliche Gesicht und die Verzweiflung, die sich dahinter erahnen lässt."
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(Teile dieses Kommentars entsprechen nicht den Kommentarregeln auf nachtkritik.de. www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102#kommentarkodex Mit freundlichen Grüßen / Redaktion)
Im Jahr 2019 diese nach wie vor hoch aktuelle Vorlage so dermaßen nicht (!) zu nutzen - viel schlimmer noch:
ein unverständliches, konfus dahinwaberndes Kostümspektakel mit zum wiederholten Male langweiliger Genderthemathik zu inszenieren- wozu?
Welch dilettantische Kostümshow - da schaue ich mir allzu gern nochmal den fast 20 Jahre alten Cremaster Cycle an!
Herr Mondtag und Köln -> das war und wird nix mehr!
Nach den unsäglichen Räubern dieses politische Stück so für die eigene Eitelkeit zu nutzen, ist mehr als überheblich.
Der Dank gilt ausschließlich den in diesem Feder-Schnee-Gestöber tapfer bis sehr gut agierenden SchauspielerInnen!
Vielleicht ist ja diese Ästhetik für den „Schmied von Gent“ (eben dort), der in 7 Wochen folgen soll, besser geeignet.