Türken, Feuer - Hessisches Landestheater Marburg
Wie es drinnen aussah
von Michael Laages
Marburg, 14. September 2019. Wer erinnert sich noch daran, wo er oder sie war zu Pfingsten 1993, genauer: am 29. Mai 1993? Beim alljährlichen Jazzfestival in Moers am Niederrhein etwa bekundete der englische Musiker Fred Frith unter Tränen Trauer und Zorn angesichts des mörderischen Brandanschlags, der in der Nacht zuvor ein Zweifamilienhaus in Solingen getroffen hatte; etwas mehr als 100 Kilometer weit weg vom Festival.
Fünf Menschen waren bei diesem Feuer gestorben, zwei Mütter, drei Kinder, über ein Dutzend weitere wurden teils schwerst verletzt. Junge Männer, die der rechtsradikalen Szene zugeordnet werden konnten, hatten das Feuer gelegt. Der Anschlag stand in einer Reihe rassistischen Terrors, der nach der Wende '89 in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda begonnen und sich kurz vor Solingen in Mölln fortgesetzt hatte. Kohl hieß der Kanzler; er weigerte sich, an der Trauerfeier für die Solinger Opfer teilzunehmen – das sähe nach "Beileidstourismus" aus. Jaja, es war viel Beileid nötig in jenen Jahren.
Tief ins Herz, tief ins Hirn
Özlem Özgül Dündar stammt aus Solingen, sie war zehn Jahre alt, als das Haus in der Nachbarschaft brannte. Mit literarischen Erinnerungen an den fünffachen Mord war sie im vorigen Jahr zum Wettlesen der Autorinnen und Autoren nach Klagenfurt eingeladen, auch der Retzdorfer Dramatikerpreis wurde ihr schon zugesprochen. Derzeit arbeitet sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. "Türken, Feuer" unternimmt den ambitionierten Versuch der Innen-Sicht auf Frauen und Mütter in Solingen: auf die, die starben oder überlebten, sowie auf eine, deren Sohn zu den Tätern gehörte.
Die Texte kreisen. Das ist ihr wichtigstes Merkmal. Zuerst (nach langem musikalisch-choreographischem Beginn) grübelt die Täter-Mutter über eine Opfer-Mutter: die, die so geschickt aus dem Fenster des brennenden Hauses sprang, dass sie zwar zerschmettert auf dem Asphalt landete, ihr Baby aber, durch Mutters Körper geschützt, unversehrt blieb und überlebte. Bald darauf hören wir auch dieser Mutter zu – wie sie das bevorstehende eigene Sterben beschreibt, aber auch die Rettung des Kindes plant.
Dündar schreibt radikal detailliert, aufmerksam für jeden einzelnen Knochenbruch. Aber auch der Täter-Mutter will sie tief ins Hirn und ins Herz schauen. Wie sich das Denken dieser Frau zu verändern beginnt angesichts der Täterschaft des eigenen Sohnes. Wie "wahr" ist für sie, was die Ermittlungen ergeben? Haben vielleicht doch wieder nur "die Medien" das bleibende Bild des Mörders geformt, der ihr Kind ist?
Stummes Driften junger Täter
Diese fiktiven Selbst-Beschreibungen der Mütter gehen unter die Haut – die Erzählung der toten Frau nach dem Fenstersprung, die der Überlebenden, die flüchtend die verbrennende Familie hinter sich ließ, und die der letztlich verständnislosen Mutter, die sich womöglich mal mit türkischen Nachbarinnen über Baklava-Rezepte austauschte, aber nun den Sohn an den rechten Terror verloren hat. Eine vierte Mutter, noch eine Überlebende, kommt im Finale hinzu – und erzählt von der rituellen Waschung der Toten, davon, wie sie auf die Reise ins Jenseits vorbereitet werden.
Ein Mädchen kommt hinzu, womöglich das, was den Fenstersturz überlebt hat – weiß sie etwas von dem Drama, kann sie etwas wissen? Aber geht sie anders durchs junge Leben, vielleicht mit dem Wissen, der Ahnung um die Gefahr, die auch heute droht? Sie entwickelt eine Theorie darüber, wie sie jedem Gegenüber direkt ins Auge schauen muss, um ihn oder sie wirklich zu "erkennen". Zwei Jungen schließlich driften stumm durch das Spiel, einer ist Täter, vielleicht sind es beide. Eigene Worte gibt die Autorin ihnen nicht.
Auch Dialoge schreibt sie nicht. "Türken, Feuer" ist ein tendenziell eher undramatischer Lese-Text; und wie so oft bei solchem Material aus zeitgenössischen Schreib-Werkstätten wird der Inszenierung viel Fantasie abverlangt, bis der Text zum Theaterstück wird, also zu leben beginnt. Besondere Bedeutung kommt in Marburg in der Uraufführung durch Anna-Elisabeth Frick dem Choreographen René Alejandro Huari Mateus zu – er versetzt das Ensemble in sehr intensive kollektive Bewegung. Kämpfe sind zu ahnen, die Unruhe einer nicht gefestigten Gesellschaft soll spürbar werden; und die Musik fächert dieses Welt-Empfinden auf – vom anschwellenden Orgel-Ton über wellenartige Dissonanzen bis hin zum Disco-Sound.
Christian Blechschmidts Bühne behauptet derweil Mini-Szenarien im eigentlich leeren Raum – die Sitzecke mit den Gartenstühlen, eine Art Monument als Hochsitz, der Fernseher als Abbild von Welt, das Grab auf dem Friedhof mit Blumen drauf. In diesen Bildern, optisch, akustisch und choreographisch angedeutet, können dann die Monologe auch Monologe bleiben.
Einladung zum Nicht-Verstehen
Meist fügen sich die Bausteine zueinander. Vor allem am Schluss aber nicht – wenn der Bericht von der Waschung der Toten aufgeladen (und überladen) wird durch kryptische Bewegung. Immerhin aber wird noch in dieser Einladung zum Nicht-Verstehen die blanke Fassungslosigkeit ins Blickfeld gerückt, die uns auch 26 Jahre danach noch packt angesichts des Schreckens und Sterbens von Solingen.
Auch durch das kraftvolle Ensemble ist also in Marburg eine Erinnerung zu erleben (und zu durchleiden), die eminent wichtig ist im Jubiläumsjahr des deutschen Einheitsdenkens — denn Horror und Terror von damals haben sich ja fortgesetzt bis in die Gegenwart. Tatsächlich im Theater aber scheint diese Beschwörung in Dündars Stück noch nicht stattzufinden.
Türken, Feuer
von Özlem Özgül Dündar
Uraufführung
Regie: Anna-Elisabeth Frick, Bühne und Kostüme: Christian Blechschmidt, Choreographie: René Alejandro Huari Mateus, Dramaturgie: Lotta Seifert.
Mit: Mechthild Grabner, Lisa Grosche, Camil Morariu, Mario Neumann, Anna Rausch, Victoria Schmidt, Valentina Schüler.
Premiere am 14. September 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.hltm.de
"Ein starkes Stück, das lange nachhallt", hat Beatrix Achinger für die Oberhessische Presse (16.9.2019) gesehen. Die sieben Figuren des Stückes "sprechen klar und dennoch zurückhaltend über die grausame, von jugendlichen Rechtsextremisten verübte Tat". Die choreographische Arbeit von René Alejandro Huaris Mateus wird an der Inszenierung ebenso hervorgehoben wir die darstellerischen Leistungen, die in mancher Szene den "Atem" stocken ließen.
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