Mutter Kramers Fahrt zur Gnade - Martin Pfaff gibt Christoph Nußbaumeders Volksstück in Rendsburg eine neue Chance
Hinterm Mond
von Falk Schreiber
Rendsburg, 9. März 2019. "Wenn man einen Menschen besser behandelt als er ist, dann wird er auch ein besserer Mensch." Ein hübsches Motto, das die Lehrerin Anita Kramer für ihre Arbeit mit Kindern pflegt. Und das sie jetzt, pensioniert und verwitwet, auch auf die restliche Menschheit anwendet. Weswegen sie den deutlich jüngeren Hudi in ihr Haus lässt, in ihre Küche (Hudi ist gelernter Konditor, allerdings arbeitslos), in ihr Bett und auch in ihr Herz. Doch Hudi hat böse Absichten: Er will an die Goldmünzen von Kramers verstorbenem Mann. Bevor er aber seinen Plan in die Tat umsetzen kann, wird sein Antrag auf Arbeitslosenunterstützung wegen eines Formfehlers abgelehnt, worauf er durchdreht und einen Mitarbeiter der Arbeitsagentur mit einem Messer bedroht. Chefin der Arbeitsagentur ist Kramers Tochter Carmen, die freilich vor allem Interesse an der Immobilie der Mutter zeigt …
Verwertungsmaschinerie
Klingt abgedroschen? Ist abgedroschen. Christoph Nußbaumeders "Mutter Kramers Fahrt zur Gnade" ist Volkstheater, gezeichnet mit ganz grobem Strich, Volkstheater mit "guten" (Kramer), "bösen, aber im Grunde ihres Herzens guten" (Hudi) und "von Grund auf bösen" (alle anderen) Figuren.
Bei der Bochumer Uraufführung 2013 wurde das Stück im Gegensatz zur Regie von Heike M. Goetze meist gelobt – tatsächlich erzählt Nußbaumeder hinter seinen holzschnittartigen Charakteren etwas über Menschen in der Verwertungsmaschinerie eines Arbeitsmarktes, der ausschließlich Effizienz kennt. Und da ist mehr Differenzierung als man beim ersten Blick denkt: Die Vergleiche des Autors mit den Volkstheatermachern Horváth oder Kroetz sind nicht weit hergeholt, und wenn "Mutter Kramers Fahrt zur Gnade" im Titel einen Bezug zu Phil Jutzis Film "Mutter Krauses Fahrt ins Glück" (1929) und Fassbinders "Mutter Küsters Fahrt zum Himmel" (1975) anklingen lässt, dann sind das große Vorbilder, die nichtsdestotrotz stimmen.
Nur dass Nußbaumeder nicht wie Jutzi oder Fassbinder Proletarierinnen ins Zentrum stellt, sondern eine Großbürgerin. Die hat allerdings mit ihrer gepflegten Empathie auch keine Chance gegen die Schlechtigkeit ihres Umfelds – ein guter Mensch zu sein, ist sympathisch, hilft aber nichts. Trotz der positiven Urteile nach der Uraufführung machte "Mutter Kramers Fahrt zur Gnade" keine nennenswerte Karriere auf deutschsprachigen Bühnen.
Wucht des Baseballschlägers
Eine neue Chance gibt Martin Pfaff dem Stück am Landestheater Schleswig-Holstein, und wenn Goetze 2013 ein Zuviel an Ambition vorgeworfen wurde, so hält sich Pfaff mit ästhetischen Setzungen weitgehend zurück. Ines Alda hat eine riesige, von innen beleuchtete Betonkugel gebaut (naja – eine Kugel, deren Bespannung den Eindruck macht, aus Beton zu sein), die praktisch den gesamten Guckkasten des Rendsburger Theaters ausfüllt: ein wuchtiger Bühneneffekt, der an den jenseits von Rendsburg bespielten Häusern anders sein mag (das Landestheater Schleswig-Holstein zeigt seine Stücke im gesamten Bundesland mit Ausnahmen von Kiel und Lübeck), am Premierenort aber funktioniert. Einerseits als kluge Einordnung des Stücks, die Volkstheater immer als Welttheater denkt. Und andererseits als raffinierte Bühnenlösung, die Auf- und Abgänge als unaufwendiges Verschwinden hinter der Kugel organisiert. Zudem kann Ingeborg Loschs Titelheldin in einem Anfall von Zerstörungswut mit dem Baseballschläger ein beeindruckendes Loch in die Bühnenarchitektur hauen.
Womit allerdings die Regieeinfälle schon fast aufgezählt wären. Die meiste Interpretationsleistung liegt beim Ensemble, und das erweist sich als weitgehend alleingelassen. Dass etwa Losch für eine pensionierte Lehrerin, die die Welt kaum noch versteht, deutlich zu fit auf der Bühne steht, ist lässlich. Aber dass Simon Keel als Hudi vor allem brüllt und fuchtelt, was die Verzweiflung der Figur konsequent dem Aktionismus preisgibt, ist ebenso ein Problem wie die Tatsache, dass Uwe Kramer Anitas Rentnerfreund Kurt als reine Spießerkarikatur anlegt. Zur Erinnerung: Diese Gestalten sind schon von Nußbaumeder als Schießbudenfiguren gezeichnet, da muss man ihre Lächerlichkeit nicht mit jeder Geste ausspielen.
Mehr Zuneigung
Dass hinter "Mutter Kramers Fahrt zur Gnade" mehr steckt als ein derber Spaß, zeigt sich etwa im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter Kramer, das von Losch und Karin Winkler schön dysfunktional performt wird. Jede Geste der Zuneigung wird da zur Verletzung, jedes nette Wort zum Vorwurf. Und plötzlich erkennt man, dass diese beschädigten Figuren weniger Denunziation verdient hätten als Zuneigung. "Wenn man einen Menschen besser behandelt als er ist, dann wird er auch ein besserer Mensch." Eine Inszenierung des Stücks, die sich dieses Motto zu Herzen nimmt, steht weiterhin aus.
Mutter Kramers Fahrt zur Gnade
von Christoph Nußbaumeder
Regie: Martin Pfaff, Ausstattung: Ines Alda.
Mit: Ingeborg Losch, Simon Keel, Beatrice Boca, Uwe Kramer, Karin Winkler, Felix Ströbel, Lukas Heinrich.
Premiere am 9. März 2013
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.sh-landestheater.de
Kritikenrundschau
"Regisseur Martin Pfaff verzichtet auf Bühnenrealismus und lässt die Figuren pur wie unter einem Brennglas agieren", schreibt in den Kieler Nachrichten (13.3.2019). Eine wuchtige Kugel beherrsche die Bühne und im Laufe des Abends werde das Weltbild so manchen Knacks und die Kugel einen klaffenden Riss bekommen. "In schneller Szenenfolge zeichnet Pfaff seine Charaktere mit breitem Pinselstrich." Lautstark werden hier persönliche Befindlichkeiten verhandelt. Allerhand Klischees kommen hier zusammen, "die sich unter der Lupe des schonungslos puren Spiels verstärken".
Nußbaumeders gesellschaftskritisches Stück stehe in der Tradition eines Ödön von Horváth oder Franz Xaver Kroetz. "In einer schnörkellosen, gut verständlichen Sprache werden Probleme des Hier und jetzt verhalndelt von Menschen, die einem jederzeit auf der Straße begegnen könnten", schreibt Sabine Christiani von der Schleswig-Holsteinisches Landeszeitung (11.3.2019). Stille Töne seien selten in Martin Pfaffs Inszenierung, die Dramatik meist mit Lautstärke gleichsetze. "Für Zwischentöne bleibt da leider wenig Raum."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
meldungen >
- 20. Januar 2023 Löwen der Theaterbiennale Venedig 2023
- 20. Januar 2023 Schauspieler Werner Riemann gestorben
- 20. Januar 2023 NRW-Haus unterstützt Theater-Wiederaufbau in Beirut
- 20. Januar 2023 Defizit beim Sorbischen National-Ensemble
- 20. Januar 2023 Parchim plant Theater-Neueröffnung für Mai 2023
- 18. Januar 2023 Kleist-Förderpreis an Elisabeth Pape
Als Bochumer, welcher die Bochumer Premiere der Uraufführung gesehen hat, stoßen mir Ihre abwertenden Kommentare doch ziemlich auf.
1. Was sollen die vielen negativen Verweise zu einer vorangegangenen Aufführung dieses Textes? Haben Kritiker wirklich keinerlei Respekt mehr vor einer künstlerischen Arbeit?
2. Wie kann es sein, dass Sie dann (nicht wenigstens) korrekt recherchiert haben? Die Bochumer Preniere war leise, fein, intensiv und fast kaum ausgestattet. Hätten Sie recherchiert würden Sie wissen, dass es zwei Versionen dieser Uraufführung gab//
Das sollte man doch verlangen können, dass, wenn Sie schon „ herziehen „ über eine Arbeit, über diese wenigstens informiert sind. In Bochum waren die Reaktionen wunderbar und Anke Zillich glänzte in der Hauptrolle. Und ehrlicherweise muss man sagen, dass wir die Vorlage doch als sehr konstruiert und schwach empfunden haben./ Auch da beschreiben Sie etwas, was nicht korrekt ist. Das Stück wurde damals in keinster Weise hochgelobt. Im Gegenteil wurde der Text stark kritisiert.
Grüße aus Bochum
Johannes Potthoff
warum Sie fragen, ob Kritiker (sie meinen: der Kritiker Falk Schreiber) keinerlei Respekt hätten vor künstlerischer Arbeit, verstehe ich nicht. Mein Beruf als Journalist ist es unter anderem, eine Arbeit einzuordnen, zum Beispiel zu schauen, wo das gleiche (ja nun nicht unbedingt zum unverzichtbaren Kanon neuerer Dramatik zählende) Stück schon einmal aufgeführt wurde. Darauf zu verzichten, wäre meiner Meinung nach unfair, zumal ich keine "vielen negativen Verweise" biete, sondern gerade mal zwei. Sie schreiben weiter, dass der Text bei der Bochumer Uraufführung kritisiert und die Inszenierung hochgelobt worden sei. Nun, das hörte ich anders und verweise dabei auf die Kritiken von zum Beispiel Stefan Keim in der Welt ("Nussbaumeder bringt einen eigenen Ton in die zeitgenössische Dramatik. Er ist ein Erbe von Horváth, Fassbinder und Kroetz, des kritischen Volkstheaters. Seine Texte in die formalen Stereotypien der Regietheatermoden zu pressen ist keine besonders gute Idee", www.welt.de/print/die_welt/kultur/article116282751/Ein-Mutterherz-kann-viel-verzeihen.html), Ulrich Fischer auf Deutschlandradio Kultur ("Nußbaumeder (ist) doch ein interessantes, aktuelles, provozierendes und gesellschaftskritisches neues Volksstück geglückt – Heike M. Götze hat es bei ihrer Uraufführungsinszenierung verhunzt", www.deutschlandfunkkultur.de/musterbeispiel-fuer-regiewillkuer.1013.de.html?dram:article_id=246910) oder auch Sarah Heppekausen hier auf Nachtkritik ("Götze läuft keine Gefahr, Nußbaumeders unverfremdeten Text als biederes Aufsagetheater aufzuführen. Aber die Überzeichnung nimmt ihm die sozialkritische Bedeutsamkeit", nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8125:mutter-kramers-fahrt-zur-gnade-&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40). Da kann man natürlich anderer Ansicht sein - aber zu behaupten, durch die Bank sei in Bochum die Position vertreten worden, dass die Regisseurin aus einem schlechten Text eine großartige Inszenierung gemacht hätte, ist dann doch ... eine kreative Auslegung nachprüfbarer Fakten.
Gruß, Falk Schreiber
ich habe damals die zweite Inszenierungsfassung gesehen. Sie hat mir mäßig gefallen. Etwas später habe ich dann das Stück gelesen, das in einem Spectaculum-Band abgedruckt ist. Mein Resümee: Auf der Bühne gab es ungute Striche und krumme Kurzschlüsse, so dass das Stück klischiert rüberkam. Die Rendsburger Fassung kenne ich nicht, mir scheint aber, dass sie besser gearbeitet ist. Mein Tipp: Lesen doch einfach das Stück (es ist sehr gut!), bevor sie sich zum Text äußern.
Viele Grüße, G. Ulrichs
Wie ich es mitbekommen habe, wurde die Recklinghausen Premiere besprochen, so wie es aufführen. Und ich habe keinesfalls behauptet, dass es überschwengliche Kritiken gab, in erster Linie gab es vor allem mal zwei Versionen dieser Uraufführung... und ihre Reaktion zeigt mir lediglich, dass sie da völlig ahnungslos waren und sind.
@ dabeigewesener
Natürlich habe ich als Theaterverein Mitglied das Stück gelesen./
Und ich finde Vergleiche mit Horvath vor allem vue eine Beleidigung für diesen wundervollen Autoren.
Herr Nussbaumeder hatte ein wundervolles Stück, an dass er bis heute nicht mehr herankommt. Der Gurkenflieger.....