Je suis Fassbinder - Für Falk Richters Blick auf "Deutschland im Herbst 2016" verwandelt Barish Karademir die Nürnberger Tafelhalle in eine Tanzbühne zwischen Witz und Donner
Agitatoren in der Burka-Disco
von Dieter Stoll
Nürnberg, 30. September 2016. Aus dem Lastenaufzug schlendert das Ensemble aus Schauspielern und Tänzern lässig in Wellness-Kluft auf die weite offene Bühne der Tafelhalle. Retro-Tapete und ehrwürdige Stühle aus Muttis Küche wie aus einer verwunschenen Sammlung des nahen Museums Industriekultur hatten dem Publikum bereits gemütliche Nostalgie versprochen.
Kein Grund zur Aufregung? Von wegen! Bis die Damen und Herren den Einstieg in Zivil-Bekleidung gefunden haben, ist auf den Videowänden über dem milden Design-Anachronismus (effektsicher platziert von Ausstatter André Schreiber) schon das ganze Elend eines Umsturz-Jahres in Dokuschnipseln vorbeigeflimmert. Deutschland im Herbst 2016: Krieg, Ruinen, Migranten, Agitation pro und contra, Politik im Taumel-Modus. Das Sündenregister einer alles erschütternden Grundsatz-Debatte per Schnelldurchlauf, die Anarchie des Unbehagens wird fixiert. Aber erst mal Blick zurück, Zorn inbegriffen. "Je suis" zielt ja vor allem auf Fassbinder. Er ist der Kronzeuge, der Über-Pate des Projekts.
Wehrhaft in die Fresse schlagen
Ist die Demokratie "die menschlichste Staatsmacht" oder bloß "das kleinste Übel"? Bevorzugen gewalttätige Frauenhasser bestimmte Religionen oder den Karneval? Muss der echte deutsche Mann endlich mal wieder jemandem wehrhaft "in die Fresse schlagen"? Oder wie viele Dalli-Dalli-Punkte kriegt man für Antworten zur Frage, was Europa ausmacht? Und, einfach mal an Autor und Regisseur zurückgefragt, passt dieser Papst wirklich an den Pranger neben Marine Le Pen und Beatrix von Storch?
In Falk Richters "Je suis Fassbinder – Deutschland im Herbst 2016", ein halbes Jahr nach der Straßburger Uraufführung erstmals in deutscher Sprache inszeniert, wird Stimmungslage zeitverzögert in Spätlese geerntet. Der zitatenfrohe Text, bei dessen Lektüre trotz der Fassbinder-Quellenangaben die Erinnerung an Richters vieldiskutierte "Fear"-Produktion vom Vorjahr an der Schaubühne oft geradezu übergriffig wirkt, spiegelt die unheimliche Fortschreibung dieser Notstands-Skizze in fast 40 Jahre zurückliegenden Verwerfungen.
Statement gegen hysterische Zeiten
Im Episoden-Film "Deutschland im Herbst", den Rainer Werner Fassbinder Ende 1977 nach Schleyers Ermordung und der "Todesnacht von Stammheim" unter anderem mit Volker Schlöndorff, Alexander Kluge und Edgar Reitz als Statement gegen hysterische Zeiten drehte, sucht der damals achtjährige Falk Richter heute die Reflexionsfolie für seinen fassungslos wütenden Blick auf die Realität. Was er da sieht, mag er nicht mit Poesie schminken, den Dienst als optimistisches Postfaktotum verweigert er in empörten Texten.
Richter spielt dabei mit der Entblößung im Fassbinder'schen Verzweiflungs-Dialog, den der mehr und mehr entnervte Sohn mit seiner nah am Volksempfinden siedelnden Mutter vor der Kamera führte (am Ende wünscht sie sich als goldenen Kompromiss den "autoritären Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und artig") und überblendet den O-Ton der historischen Krise mit dem aktuellen Alarm. Die Ratlosigkeit, die er in "Fear" zum Bekenntnis und so zur eigenen Qualität machte, will er nicht nochmal bestätigen. Er leitet sie um auf die Kunstfigur, den nachgestellten und dabei in aller Zerrissenheit wiederbelebten "Rainer", der sich in die aufgepolsterte Konvention fläzt, um ihr wenigstens ein paar Knitterfalten zu verpassen.
Tanz die Multimedia-Attacke!
Der Nürnberger Regisseur Barish Karademir dient ganz clever beiden Herren, wenn er Fassbinders wehmütige Stilisierungs-Psychologie und Richters frontale Multimedia-Attacken zusammenführt, und findet dabei gut funktionierende eigene Bilder. Aus dem Tanz, der hier immer wieder wie körperliche Erschütterung in die Szenen-Fugen fährt, ploppt ein ziemlich komischer Betriebs-Ausflug von wehenden Schatten-Gestalten in der Burka-Disco, mit dem alle Fronten für den Moment außer Kraft gesetzt sind. Das Ensemble, das Karademir für seine eindrucksvoll im Revue-Rahmen kämpfende Inszenierung zusammenstellte, schafft den Spagat zwischen solch blitzendem Witz und dem Donner blanker Agitation souverän.
Ein wenig modifizierte Katie Mitchell darf es dabei auch sein. Das live gefilmte Streitgespräch-Imitat, in das die Gegenwart wie auf einer Schaukel rein und raus schwingt, wird fast unbemerkt vom Kino-Original zur Seite gedrängt. Spätestens dann muss dem Zuschauer klar sein, dass Stück und Aufführung mehr über Fassbinders Psycho-Privatisierung der Weltlage sagen können als über den beschworenen "Herbst". Es endet annähernd textilfrei, die Darsteller werfen, sobald die Sehnsucht nach dem ganz lieben neuen Führer proklamiert ist, die Klamotten weg und verknäulen sich zum Häufchen Elend, das auch ein Laokoon-Knoten sein könnte. So oder so, keine Einladung, etwas durchzuschlagen.
Der Autor war auch da und im brausenden Beifall sichtlich zufrieden. Ob Falk Richter die Streichung des Kalauers "Petry heil - Heil Petry" bedauert hat, blieb ungeklärt. Es muss ja nicht der letzte Annäherungsversuch an Elfriede Jelinek gewesen sein.
Je suis Fassbinder. Deutschland im Herbst 2016
von Falk Richter
Deutsche Erstaufführung
Regie: Barish Karademir, Bühne, Kostüme: André Schreiber, Video: Miho Kasama, Licht: Sasa Batnozic.
Mit: Marisa Akeny, Ulrike Fischer, Elinor Eidt, Johannes Hoffmann, Lukas Kientzler, Kazuma Glen Motomura, Benigna Munsi.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.tafelhalle.de
Kritikenrundschau
Florian Welle schreibt auf dem Internet-Portal der Süddeutschen Zeitung (3.10.2016): Mit "Je suis Fassbinder" setze Richter seine mit "Fear" begonnene "Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus" fort. Der "polyphon gebaute Text" sei "dichter und härter" und "wesentlich komplexer". Er hole das Private, "die Liebe" mit hinein, und wie sie "in Einsamkeit und Gewalt umschlägt". Erstaunlich sei, wie "verdammt gut" Richters Rückgriff auf "Deutschland im Herbst" funktioniere, wie aktuell die "beklemmende Stimmungslage" von damals wieder sei. Und die Angst. Regisseur Karademir sei "vieles gelungen": die jungen Schauspieler ließen den Text "changieren" zwischen "Härte, Verzweiflung und Witz". Die Videos sprächen für sich, die Musik sei "geschickt" eingesetzt. Einiges sei auch misslungen: der "läppische Tanz in Burkas", ein "verunglückter Moonwalk", sinnfreies über den Boden-Rollen.
Birgit Nüchterlein schreibt in den Nürnberger Nachrichten (4.10.2016) mit Videosequenzen von "Pegida-Auftritten", Ruinen in Aleppo, "Flüchtlingsströmen und Anti-Burka-Parolen" gelinge Karademir "gleich ein emotionalisierender Einstieg". "Es geht also um die Angst vor dem Fremden". Karademir bekomme Richters "wütenden, teils ausufernden" Text "wunderbar in den Griff" und lasse "eindringliche, pointierte Bilder entstehen". Obwohl in Episoden und mit wechselnden Rollen erzählt werde, falle das Stück nicht auseinander. Auch gelinge, trotz der "zahlreichen Monologe", ein "veritables Ensemble-Stück", nur hätte man sich von Richter das "eine oder andere Erklärungs-Modell" gewünscht.
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