Presseschau vom 24. Mai 2016 – Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters im SZ-Interview
Misstrauen gegen Strukturen
Misstrauen gegen Strukturen
24. Mai 2016. "Diese angeblich altertümlichen Strukturen der Repertoire- und Ensembletheater sind ungeheuer beweglich - ästhetisch, ökonomisch und in den Produktionsweisen, und das mit Beschäftigungsverhältnissen, die oft deutlich geschützter sind als in der Freien Szene", sagt Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters, im Interview mit Christine Dössel und Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung. "Die Häuser sind weit weniger dem Marktdruck ausgesetzt als das Plattform- und Diskurs-Theater. Und sie sind sehr viel stabiler, als ihre Verächter glauben."
Theater als Manufaktur oder Kuratoren-Modell?
"Theater funktionieren fast wie Manufakturen, sie brauchen die Verknüpfung mit der Stadt", so Khuon weiter. "Dazu gehört die Anwesenheit und Ansprechbarkeit der Beteiligten. Das ist keine sozial ungebundene, ortlose Kunst, die überall und nirgends stattfinden kann. Es hat auch mit dem Misstrauen gegen diese Strukturen zu tun, dass man jetzt versucht, Theater in Plattformen zu verwandeln, die ihre Produktionen touren lassen. Der Intendant ist dann nichts anderes als ein Agent. Diese Strukturen, wie sie Dercon offenbar plant, sind nicht ganz billig. Mit Koproduktionen spart man kein Geld, im Gegenteil."
Chris Dercon und die Berliner Volksbühne
"Dass Dercon allein zur Vorbereitung seiner Intendanz knapp drei Millionen Euro bekommt und sein Etat massiv erhöht wurde, ist ein singulärer und erstaunlicher Vorgang. Seine finanziellen Ansprüche sind schon sehr bemerkenswert. Überhaupt frage ich mich, warum da jetzt unbedingt ein Cut gemacht werden musste. Frank Castorf ist mit seinem Ensemble in einer tollen Bewegung."
Zur Funktion des Theaters als Ort bürgerlicher Öffentlichkeit
"Das Theater muss sich ja an die ganze Stadtgesellschaft richten, nicht nur an die Bildungsbürger oder die Hipster oder die Jungen. Ein Vorwurf, den ich mir seit Jahren anhören muss, lautet, dass wir zu viel produzieren. Aber diese diverse Gesellschaft ist nicht mit dem einen großen Auftritt erreichbar. Es braucht viele unterschiedliche Ausdrucksmittel, Verbindungslinien in die unterschiedlichen Milieus. Ich will kein Theater, das nur eine bestimmte Ästhetik zulässt, obwohl das für das eigene Profil und die Markenbildung vielleicht ganz praktisch wäre."
Theater oder Sozialarbeit?
"Ich möchte das Spannungsverhältnis zwischen Theater und Wirklichkeit nicht auflösen. Kunst sollte die Wirklichkeit verdichten und sich nicht ins Soziale auflösen. Ich mache weder Sozialarbeit noch die reine Kunst im Tasso-Elfenbeinturm."
Theater und Flüchtlinge
"Das Theater sollte sich nicht von der Wirklichkeit entfernen; wir können die große Migration doch nicht ignorieren. Aber das Engagement des Deutschen Theaters für unsere Notunterkunft oder der Deutschunterricht für die Geflüchteten tangieren unsere künstlerische Arbeit in keiner Weise."
(sle)
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Freundliche Grüße von meinem Schreibtisch aus, d.o.
Ich habe auch keine Laune und ich gehe sehr oft ins Theater, immer weniger in die freie Szene, weil mich manche Selbstversuche langweilen (Ballhäuser Ost und Naunyn, Ackerstadtpalast, auch das Hau nach Lilienthal). Theater ist ein hart umkämpfter Markt und jeder ist ein angeblich Künstler und will ein Stück vom Kuchen. Aber, liebe Neider, nicht alles ist wirklich gut. Und was gut ist, setzt sich durch.
Keiner regts sich über die Elfenbeinturm-Universitäten auf. Warum soll es nicht auch in der Kunst Elfenbeintürme geben?
Und Dercon, mal sehen was wird. Es ist eine der dümmsten Entscheidungen, aber es ist leider so. Vielleicht sollte man Castorf den Gropiusbau anbieten. Und wenn beides daneben geht, können die beiden ja wieder tauschen.
Also wirklich alles relativ.
Khuons Interview geht in Ordnung.
Schon mal was gesehen an der Volksbühne? Castorf? Pollesch? Fritsch?
und: aus Sicht der Freien Szene ist Dercon ein globaler Investor in die freie Szene, der "Kollaborateure" und "Komplizen" einkauft und weltweit vermarkten will. Dafür bekommt er die Subventionen eines großen Staatstheaters plus zusätzlich 3 Millionen. Schon clever.
Darüber hinaus darf man schon die Frage stellen, inwieweit die Volksbühne nicht jetzt schon ein 'Plattform-/Diskurstheater' ist. Von den 'Metropolentheatern' hat es jedenfalls das kleinste Ensemble (27, stimmt das?).
ich schätze Ihr Theater sehr, aber ich möchte Sie um zwei Dinge bitten:
zum einen, bitte halten Sie Ihre Anmerkungen zur Wahl Dercons zurück, ohne zu wissen, was Dercon machen wird. Bereits die Darstellung von Dercon und Lilienthal als anderes Theater, nur weil die beiden sich dem Uralt-Modell des deutschen Stadttheaters entziehen, ist ein wenig diffamierend.
Dercon ist ein großartiger Direktor in London, er wird viele neue Impulse ins Deutsche Stadttheater bringen, die die anderen Intendanten verschlafen haben.
Der internationale Austausch fehlt, früher sind deutsche Theater nach London, nach New York, nach Paris gereist. Dort haben die Menschen nach unseren Gastspielen getobt vor Glück. Der einzige der das heute kontinuierlich wahrnimmt ist Thomas Ostermeier, der auch nicht zum inner Circle des Bühnenvereins gehört (da Privattheater, I know)
Der zweite Punkt, Sie sitzen im Bühnenverein am Schalthebel der Macht. Bitte führen Sie eine Öffnung herbei. Gestalten Sie die Reformen, sonst werden die Reformen wenig von dem übrig lassen, was Sie am deutschen Stadttheater schätzen.
Errungenschaften der Kunst im letzten Jahrhundert, Co-Produktionen und Internationale Zusammenarbeit sind doch wahrlich nichts Neues.
Aber Identität und Kontinuität.
Der Theaterszene und Berlin wurde ohne Not(!) das Herz entrissen, eine gewachsenes Biotop, wie es nirgendwo wiedergibt, aber man zerstört lieber und kauft sich "Neues" ein, als mit Geduld dem Dschungel beim unerwarteten Wuchern zuzusehen.
Das wäre eine avantgardistische Entscheidung gewesen.
Alles andere:
business as usual.
Meine Irritation bezüglich dieses Interviews ist der Widerspruch zwischen Worten und Taten bzw. eigenem Theater. Khuon sagt: "Das Theater muss sich ja an die ganze Stadtgesellschaft richten, nicht nur an die Bildungsbürger oder die Hipster oder die Jungen." Geht man aber ins Deutsche Theater, dann trifft man da doch gerade und vor allem diese drei bzw. zwei Gruppen an, oder nicht? Ältere sogenannte "Bildungsbürger" und jüngere sogenannte "Hipster". Ob die dann auch wirklich die polis bzw. öffentliche Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt repräsentieren bzw. ob die dann auch praktisch-politisch gebildet und nicht nur trendig sind, das ist hier wohl die Frage.
Wer wählte? Wer nicht die Wahl hat(te), hat die Qual - in diesem Fall. Armes Berlin. Die Touristen freuen sich. Language no problem: "volksbuehne berlin". Jetzt auch digital, on air und investmentfähig. Back to the roots, Volksbühne. Wer ist das Volk? Sicher nicht mehr die Arbeiter mit ihren Groschen. Die Kunst dem Volke. Aka: der Bevölkerung.
SZ: "Khuon: Dass Dercon allein zur Vorbereitung seiner Intendanz knapp drei Millionen Euro bekommt und sein Etat massiv erhöht wurde, ist ein singulärer und erstaunlicher Vorgang. Seine finanziellen Ansprüche sind schon sehr bemerkenswert."
Das ist doch eine sachliche Beschreibung: singulär, erstaunlich, bemerkenswert. (Übrigens erwarten wir nun also schon die ersten Einladungen zum tt auf Grundlage des letztgenannten Attributs. Dieser Jahrgang hat diesem Nexus ja allerhand Vorschub geleistet.) Warum sollte Herr Khuon das nicht benennen (dürfen)?
By the way: Meines Wissens steht das Dementi Dercon@Humboldtforum weiterhin aus. Dies nur als anekdotische Evidenz, dass Nachhaken nicht schaden kann.
Im Juli 2017 kommt Vinge, sperrt zu, feiert das 12-Spartenhaus (drinnen) und von oben wird Neon-Kunst(!)harz (statt Formaldehyd) in die Volksbühne gegossen, bis alles voll ist. Das härtet dann über die Spielzeitpause aus und man das gesamte Objekt nach der Zwischenverschiffung auf die documenta dann in London versteigern. Sichtbeton-Neubau am Tim-Renner-Platz dann mit besserer Akustik und mehr White(!) Cubism, promise.
Man kann die Süddeutsche nicht genug dafür loben, dass sie ein so ernsthaftes Interview mit einem so schönen Foto überhaupt noch bringt und damit dem Diskurs wieder mehr Relevanz verleiht, der sonst in Foren wie hier sich verläppert. (Das ist nicht gegen dieses Forum gerichtet, sondern einfach ein melancholischer Blick aufs Feuilleton).