Wilder Osten - Das Magdeburger Theater holt das Thema Ukraine mit einem eigenen Festival zurück in den Diskurs
MG-Feuer im Foyer
von Matthias Schmidt
Magdeburg, 19. Mai 2016. Reden wir also über die Ukraine. Schlimm genug, dass die gleichnamige Krise im medialen Aufmerksamkeits-Ranking hinter andere zurückgefallen ist. Schlimm genug, dass es eine, was politische Fragen angeht, ziemlich verlogen wirkende Veranstaltung wie den "European Song Contest" brauchte, um wieder mehr über dieses Land im Umbruch zu hören. Mit der absurden Debatte darüber, ob ein Lied, das "1944" heißt und von einer Vertreibung auf der Krim erzählt, politisch ist oder nicht.
Sei's drum, mit dem Theaterfestival "Wilder Osten. Ereignis Ukraine" liegt das Magdeburger Theater richtig und gönnt seinen Zuschauern – und zumindest am Eröffnungstag zahlreichen Gästen aus dem Umland (Berlin und so) – das bislang größte Festival zu diesem Thema. Gezeigt werden neben Gastspielen die Inszenierungen ukrainischer Stücke durch ukrainische Regisseure, die sie mit Schauspielern aus dem Magdeburger Ensemble erarbeitet haben. Danke dafür! (Ehre, wem Ehre gebührt.)
Kräuterjoints im Sperrgebiet
Genau 30 Jahre ist das Reaktorunglück von Tschernobyl her, und der Dramatiker Pavlo Arie nutzt diese Zivilisationswunde für sein Drama "Am Anfang und am Ende aller Zeiten", mit dem das Festival eröffnet. Großmutter Prisja lebt mit ihrer Tochter Slawa und ihrem Enkelsohn Wowka in der "Zone", diesem gesperrten Landstrich im Radius von 30 km um das Kernkraftwerk Tschernobyl. Das Stück beginnt mit geradezu stampfender Heiterkeit. Oma raucht Kräuterjoints und sammelt Pilze (!), Slawa hypochondriert hustend und humpelnd durch den Wald, und Wowka hat gar einen richtigen Dachschaden. Regisseur Stas Zhyrkov operiert anfangs mit dem plakativen Humor der russischen Märchenfilme, und bereits nach ein paar Minuten sehnt man sich nach der verschmitzten Liebenswürdigkeit, in der Alina Bronskys Roman "Baba Dunjas letzte Liebe" dasselbe Thema, dieselbe Idee beschreibt.
Aber Stück und Inszenierung bekommen die Kurve. Schicht für Schicht wird die ukrainische Geschichte freigelegt, Großmutter Prisja zu einer Mischung aus Urmutter und Seherin. Dem Holodomor, den Hungersnöten der Stalin-Ära, ist sie entkommen, die Deutschen hat sie als Partisanin bekämpft, die Sowjets bis zum Ende ausgehalten. Nun, am Ende ihres Lebens, in einer Ordnung, die sich ihrer Meinung nach nicht mehr für die Menschen interessiert, schon gar nicht für die in der "Zone", will sie genau hier ihre Ruhe finden. Doch es kommt anders, und auch die Inszenierung wechselt ihr Angesicht. Aus dem Gelächter der ersten Minuten wird – keine Übertreibung – Weinen im Publikum. Aus Witz wird Wahn, aus Traum Alptraum, aus Realität ein nahezu psychedelisches Theater-Erlebnis.
Helme auf, Schutzwesten an!
"Die Frauen und der Scharfschütze", die zweite Inszenierung des Eröffnungsabends, nennt sich ein Dokumentarisches Drama (von Tetjana Kyzenko). Es handelt vom Euromaidan, der bislang letzten Phase der revolutionären Kämpfe in der Ukraine im Winter 2013/2014. Hunderttausende besetzen den Maidan in Kiew und fordern Neuwahlen. Im Februar eskaliert die Lage, Schüsse fallen, 80 Menschen sterben. Ljoscha ist als Scharfschütze auf dem Maidan im Einsatz. Seine Frau Marina verschließt die Augen davor, versteckt sich hinter ihrer Arbeit im Museum. Ihre Erläuterungen zur Kunstgeschichte – großartig! Immer wieder wird die Handlung von Videoeinspielern und dem realen Funkverkehr am Maidan unterbrochen. Helme auf, Schutzwesten an! Was ist noch eine Übung, was bitterer Ernst?
Das Theaterfoyer wird zur Kampfzone und die Lage immer verwirrender. Die Familie, die Gesellschaft ist zerrissen, so viel ist klar, und man spürt das Herannahen des Bürgerkrieges förmlich. Das ist bedrückend, weil es so echt ist, dokumentarisch eben, aber es erreicht seine Grenzen und wird zur Überforderung, wenn es etwa darum geht, ob die Funksprüche beweisen, dass gar nicht die Berkut-Polizei, sondern jemand anderes (eine dritte Kraft?) die tödlichen Schüsse abgegeben hat. Noch größer wird die Verwirrung, als sich das Geschehen ins Donezkbecken verlagert, wohin Ljoscha in den Kampf geschickt wird. MG-Salven dröhnen durch das Magdeburger Theaterfoyer, und, ganz ehrlich, man weiß nun nicht mehr ganz genau, wer jetzt gegen wen kämpft. Was sagt uns das? Der Krieg in der Ostukraine ist schlimm? Natürlich ist er das, das ist Krieg ja immer. Bitte um Nachsicht, aber diese Botschaft ist – bei allem Mitgefühl – doch etwas mager. Die Detailfragen hingegen kann der Abend nicht verstehbar erläutern. Kann sein, dass das Theater, auch wenn man es dokumentarisch nennt, dafür doch das falsche Medium ist.
Dakh Daughters
Der erste Festivalabend endet auf der Großen Bühne mit einer weiteren Deutschlandpremiere, dem ebenso skurrilen wie mitreißenden Konzert der "Dakh Daughters" aus Kiew. Mit Verlaub, das war der Höhepunkt des Abends. Wäre der ESC nicht diese auf paneuropäisch verträgliche Tütenmusik getrimmte Glitzershow, sondern eine Veranstaltung, die sich für originäre Stimmen aus den Ländern interessierte, diese sechs Frauen müssten dabei sein. Ach was, dabei sein – gewinnen! 12 Punkte – Ukraine.
Wilder Osten. Ereignis Ukraine – die Festivaleröffnung
Am Anfang und am Ende aller Zeiten
von Pavlo Arie, aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel
Regie: Stas Zhyrov, Bühne und Kostüme: Christiane Hercher, Dramaturgie: Julia Fidgor.
Mit: Iris Albrecht, Alissa Snagowski, Raphael Gehrmann, Ralph Opferkuch.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
Die Frauen und der Scharfschütze
Dokumentarisches Drama mit Elementen eines indischen Epos
von Tetjana Kyzenko, aus dem Ukrainischen und Russischen von Lydia Nagel
Regie: Oleksandra Sentschuk, Bühne und Kostüme: Henrike K. Fischer und Nadine Hampel, Video: Michael Hühnerbein, Dramaturgie: Laura Busch.
Mit: Timo Hastenpflug, Marie Ulbricht, Johanna Paliatsou, Michaela Winterstein, Sebastian Reck, Raphael Kübler.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Dakh Daughters
Freak-Kabarett aus Kiew
Regie, Bühne und Kostüme: Vlad Troitsky.
Mit: Nataliya Halanevych, Tetyana Havrylyuk, Ruslana Khazipova, Solomiia Melnyk, Anna Nikitina, Nataliia Zozul.
www.theater-magdeburg.de
"Die Lebenswelten der Figuren unterscheiden sich brachial von unseren. Regisseur Stas Zhyrkov versucht auch gar nicht erst, Anteilnahme für das Unvorstellbare zu erzeugen", schreibt Gisela Begrich in der Volksstimme (21.5.2016) über "Am Anfang und am Ende aller Zeiten". Zhyrkov wähle stattdessen "eine Spielweise, die zur Groteske neigt. Das macht es anstrengend, dem Plot in seine Verästelungen zu folgen, aber ermöglicht den Zuschauern auch mal ein erlösendes Lachen."
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