Woyzeck - Am Deutschen Theater Berlin bastelt Sebastian Hartmann aus Büchners Dramenfragment eine Spielanordnung für zwei Akteure
Der Hirnwütige beim Flirt
von Matthias Weigel
Berlin, 3. Oktober 2014. Klatsch, klatsch – klatsch, klatsch. Fleisch auf Fleisch, Gemächt auf Bauch. Klatsch, klatsch. Der nackte Woyzeck hüpft herum und schüttelt wild sein Becken. "Pipi los!" schreit er, es klatscht, aber kein Pipi will kommen.
Eine typische Sebastian-Hartmann-Szene, sie bricht unvermittelt herein, steht voll zu ihrem unreifen Dumme-Jungs-Humor, dauert viel zu lange, aber auch nicht so richtig extrem lange, und trifft damit zielsicher das Prädikat "nervig". Es sind Szenen wie diese, die dem Regisseur Sebastian Hartmann den Ruf des "Bürgerschrecks" einbrachten, der ihn auch während seiner Intendanz in Leipzig (2008–2013) begleitete. Hartmann hat es zur Perfektion entwickelt, zwischendurch mit plumpen Arrangements auf eine Art zu nerven, dass man die Absicht oder die Machart zwar vollständig durchschaut. Sich dadurch aber nicht weniger, sondern umso mehr herausgefordert fühlt.
Der "Natur" nachgegeben
So sehr es auch klatscht, und es klatscht oft, es kommt also kein Pipi raus. Woyzeck hat kurz zuvor schon seiner "Natur" nachgegeben und an eine Hauswand gepisst, wie der Doktor bei der Urinprobe tadelt, und kann jetzt nicht mehr. In Hartmanns Woyzeck-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin spielen Benjamin Lillie und Katrin Wichmann nicht nur Woyzeck und Marie, sondern auch Doktor und Hauptmann, und alles in ständig verschwimmendem Wechsel. Der Text ist nicht fest aufgeteilt zwischen beiden Schauspielern, sie erschaffen ihre Fassung jeden Abend neu – und anders, heißt es. Fast die ganzen anderthalb Stunden hängen sie aneinander, spielen sich Sätze zu, wiederholen sich, klauen sich Worte. Sie lassen selten voneinander los, der "hirnwütige" Franz Woyzeck und die untreue Marie, sie schaukeln sich gegenseitig hoch, schlagen sich, küssen sich, liegen auf einander, erstechen sich.
Wichmann und Lillie nehmen Büchners Worte zu Beginn ganz frisch und unbelastet in dem Mund. Hartmann wollte laut Interview den Stoff nicht als Sozialdrama deuten. Man fragt sich unwillkürlich, was dann noch übrig bleibt von Büchners Fragment über den einfachen Soldaten, der, gedemütigt, ausgenutzt, am Boden der Gesellschaft, schließlich seine untreue Freundin, Mutter eines unehelichen Kindes, im See ersticht. Die Opferrolle wird diesem Woyzeck jedenfalls nicht zugestanden, und so klingen seine wirren Aussagen auch mehr nach Flirt, Ironie und Spaß denn nach trübem Starren oder verdruckstem Selbstgespräch.
Tänzerisch im dunklen Bühnenkasten
Ein Woyzeck, der noch ganz bei Sinnen ist. Ein Woyzeck, bei dem es nicht um feine Regungen oder subtile Andeutungen geht, bei dem keine unterdrückten Emotionen durchbrechen. Woyzeck dient hier als Rahmen, als Anordnung, innerhalb derer – so Hartmann – gespielt (und nicht "improvisiert") werden soll. Doch dieses Spielen, was ist das? Es ist zunächst ein sehr körperliches, teils tänzerisches Spielen, für das Sebastian Hartmann selbst einen schwarz-glänzenden Bühnenkasten entworfen hat, der sich nach hinten verengt – ein abstrakter Assoziationsraum, durch den die schwarz-weißen Projektionen von Voxi Bärenklau flimmern und für Bildstörungen sorgen.
Wichmann und Lillie spielen hier kaum konkrete Dramenhandlung, sondern erzeugen Haltungen, Beziehungen, Stimmungen zwischen sich. Und sie geraten schnell von einem Extrem ins andere, von Streit in Zärtlichkeit, von Knutschen in Tödlichkeit. So interessant das gesamte Vorhaben klingt, aber dieses "Spiel" sind am Ende doch nur Fingerübungen, sinnliche Demonstrationen, die zwar schnell oszillieren, aber in keine größere Richtung weisen.
Die Mechanismen des Mordes
Um dieses inhaltliche Vakuum zu füllen, hat Sebastian Hartmann Texte von Heiner Müller eingefügt, die geradeaus ins Publikum gesprochen werden. Sie drehen sich allesamt um Tod, Natur, Einsamkeit. Sie sorgen für den Wahnsinn, an dem Woyzeck nicht leidet. Der Exkurs gipfelt in Heiner Müllers "Bildbeschreibung", die Lillie am Ende vorträgt, ein albtraumhafter, kaum zu beherrschender Gedankengang in einem Endlossatz. Lille, gerade dem finalen und fatalen Wasserbad entstiegen, ringt mit den haarsträubenden Formulierungen, kämpft sichtlich aggressiv gegen das Textmonster, das fehlerfrei aufzusagen unmöglich ist.
Sogar seine untrennbare zweite Hälfte Katrin Wichmann hat ihn nun verlassen, und so steht er ganz allein und ausgeliefert dort oben, und darf sich noch nicht dem Schlussapplaus hingeben. Vielleicht wird in diesem Moment das Prinzip "Woyzeck" am greifbarsten. Hartmann wollte untersuchen, welche Mechanismen Menschen zu Mördern machen. Hoffen wir, dass es bei dieser Versuchsanordnung so weit nicht kommt.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Ch. 'Mäcki' Hamann, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Katrin Wichmann und Benjamin Lillie.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.deutschestheater.de
Mehr über Büchners Dramenfragment auf Berliner Bühnen: für das Berliner Ensemble inszenierte Leander Haußmann den Wozyeck, am Gorki Theater zeigt Mirko Borscht Woyzeck III.
Kritikenrundschau
Im Tagesspiegel (4.10.2014) schreibt Christine Wahl: "Obwohl die Schauspieler ihr Bestes tun, hat man letztlich nicht den Eindruck, dass 'Woyzeck' der für Hartmanns Erkenntnisinteresse geeignete Text ist." Zudem schmälere die Reduktion auf die Mann-Frau-Konstellation und das "Sozialdrama ohne Sozialfokus" eher das Sujet. Der Zuschauer brauche "gute Nerven" für die "Tanztheatereinlagen der eher hölzernen Sorte", die "unangenehmen Beziehungsdialogen" oder die "romantischen Umarmungsszenen mit und ohne Kunstbluteinsatz".
Als "kluge Entscheidung" begrüßt Michael Laages für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (4.10.2014) die Idee der Zwei-Personen-Umsetzung des "Woyzeck". Die Figuren "erzählen einander sozusagen von den Abgründen im eigenen wie im anderen Ich, von den entscheidenden Momenten, an denen sich die Katastrophe der beiden abzeichnet." Die Müller-Texteinschübe "verstärken die Verrätselung wie die Frage nach den verschiedenen Formen von 'Ich', die in diesem Paar stecken." Hartmann gelinge wie Leander Haußmann, dessen BE-Inszenierung des "Woyzeck" der Rezensent zum Vergleich heranzieht, "ein jeweils recht verblüffendes, weithin überzeugendes Abenteuer".
Hartmann suche nicht die Geschichte des "Wozyeck", sondern den "psychischen Subtext", berichtet Peter Hans Göpfert im Kulturradio des rbb (4.10.2014). Der Regisseur entwickle „seine Pathologie der Figuren, ihre kreatürlichen Bedrängungen, die Unausweichlichkeit ihres Fühlens und Handelns nicht aus der Sprache, nicht aus den Äußerungen des Milieus, sondern aus der Körperlichkeit." Es gebe "penetrante Live-Minimal-Musik" und Textanreicherungen durch die "bewährte Allzweck-Quelle" Heiner Müller. So geht der Daumen des Kritikers runter. "Wenn diese Inszenierung etwas deutlich macht, ist es der ungebremste Wille des Regisseurs, Büchners Stück um die Ecke anzugehen und nur ja ganz und gar ungewöhnlich aussehen zu lassen."
In der Berliner Morgenpost (5.10.2014) schriebt Katrin Pauly, Woyzeck und Marie stünden bei Hartmann auch allgemein für: Mann und Frau. Der Regisseur wolle den "existenziellen, obsessiven und zerstörerischen Kampf des Menschen mit dem Menschen zeigen". "Dieser 'Woyzeck' ist skelettiert, findet aber keine Halt gebende Form. Dieser Abend reicht über ein spielwütiges, bisweilen fast verzweifelt wirkendes Über-Strapazieren dieser Idee nicht hinaus."
Als "Textmunition" habe Hartmann das Büchner-Fragment seinen zwei Akteuren mitgegeben, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (6.10.2014). Mitunter "öffnet das Spiel auch was", dann aber gebe es wieder "Phasen, in denen auf den Nerven und dem guten Willen des Zuschauers herumgetrampelt wird" (wie jene mit dem "exzessiven darstellerischen Einsatz des männlichen Geschlechtsteils"). Auf erhellende Szene folgten solche, die als "klarer Fall von kalauerischer Zweckentfremdung" gelten dürfen. So steht die Sinnhaftigkeit des ganzen Unterfangens für den Kritiker durchaus in Zweifel. Im Übrigen gibt Seidler auch einen kompakten Überblick zu allen jüngeren "Woyzeck"-Umsetzungen auf Berliner Bühnen.
Katrin Bettina Müller kann in der taz (6.10.2014) die schwarze Romantik der Inszenierung ästhetisch "durchaus goutieren". Dafür sorgt ihrer Schilderung zufolge nicht zuletzt auch Hartmanns Bühnenbild. "Auf die mit pastoser schwarzer Farbe bemalten und den Raum verengenden Wände werden tanzende Schatten projiziert oder Gräser und Weiden im Wind. (...) Der visuelle und akustische Raum hält das Bühnengeschehen auch da zusammen, wo die Logik der Figuren ins Schleudern gerät und weitere Texte ins Spiel gebracht werden, etwa aus Büchners Briefen an seine Braut oder von Heiner Müller."
In der Süddeutschen Zeitung (8.10.2014) schreibt Til Briegleb, Hartmann könne es nicht um das Stück "Woyzeck" gehen, da man auch von der Geschichte nichts verstehe. Es sei eher "ein Versuch über bedrohliche Zweisamkeit". "Deswegen geht es um Geschichte allgemein, um das Ringen zweier unterschiedlicher Haltungen, Ideologien, man kann das durchaus politisch sehen." Der Abend sei "eine freie Phantasie", "über Gegensätze, die durch ihre Anziehungskraft Geschichte zeugen".
Es werden alle Register gezogen, "lautes, donnerndes Schauspielertheater nimmt seinen Lauf", so Peter Kümmel in der Zeit (9.10.2014). "Woyzeck und Marie tun einander pantomimisch immerzu weh, fressen einander mimetisch auf, stellen einander nach, zerfetzen sich in einem Streit, der bis zum Letzten geht." Was Hartmann als stille Regie bezeichnee, sei doch eher laute, pompöse Herrschaft über Text und Spieler. Dass Regisseur und Schauspieler auf der Basis der "Vorlage", viel und dauerhaft improvisiert haben, merke man dem Ganzen sehr an. "Man hat in dieser Aufführung nicht oft den Eindruck, bei etwas Wahrhaftigem dabei zu sein."
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www.podcast.de/episode/248200549/Sebastian+Hartmann+inszeniert+Büchners+"Woyzeck"/
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2014/10/04/spielwut-und-wut-spiel/
Im Foyer nachher gehört: unfertig, nicht ausgearbeitet, der Anfang wie schlechtes Tanztheater. Und wo ist überhaupt das Konzept? Was das Schlüsselmotiv? Da wird so viel improvisiert, ist das eigentlich replizierbar? Ich verstehe, daß man das so sehen kann.
Aber ich denke: roh, kräftig, hoch riskant, on the edge, aber die Wette ging diesmal auf.
Klar gibt es Dinge, die ich nicht verstehe oder die ich nicht gut finde: braucht es die ganzen anderen Texte? Muß Lillie in Zungen sprechen, was zeitweise zu albern wirkt? Warum auf einmal die große Casinoleuchtbeschriftung 'Nebel'? Nur weil das DT es schon im Budget unterbringt? Und dann zum Abschluß auch noch quälende Spannung, weil sich Lillie durch ein Heiner Müller Textungetüm kämpfen muß, was nicht ohne Verluste aber dann doch in großer Würde vonstatten geht.(@Souffleuse: das ist Quatsch, die Souffleuse muß zweimal ran, na und?)
Aber das trübt nicht, jedenfalls mir nicht, den Abend. Hut ab vor dem Regieteam, das mit Konzept, Bühne, Licht und Ton einen emotionalen Resonanzraum schafft für einen Innen- oder Meta-Woyzcek. Und Verehrung für die beiden Schauspieler, die die Klaviatur komplett bespielen: zärtlich, glücklich, brüllend, sich schlagend, verzweifelt und bei sich.
Schwerstarbeit, aber jedesmal authentisch. Nicht eine langweilige Sekunde. Berührend, auch schreiend komisch und wie ein Schlag in den Bauch. So etwas kann nur Theater, und dafür gehe ich rein. Danke!
Durch die Reduzierung auf zwei Schauspieler kommt der Text für mich viel intensiver rüber. Die Personen geben dabei Ihr Inneres frei und können das Scheitern doch nicht verhindern. Zusammen mit Bühne, Musik und Licht ein großartiger Abend.
Der Weg bis zum dramatischen Ende wird fühlbar.
Ich selbst war bei der Premiere, fand die erste Hälfte grausam, nur Geschrei und unverständliches Getanze, Gebalze im Halbdunkel, dann aber die zweite Hälfte (mit besagtem Gemächt-Einsatz und "alberner" Fantasie-Sprache) grandios, wie ein Sog, wohin er mich gezogen hat, da bin ich mir aber immer noch nicht so sicher.
Wer den Abend kritisiert, ist also der "bürgerlichen Ignoranz" schuldig? Was soll das überhaupt sein??
Im Übrigen ist aus meiner Sicht das Problem von Hartmann Woyzeck nicht, dass er provoziert. genau das tut er m.E. nämlich gar nicht. Leider.
GEFALLEN oder MISSFALLEN gehören zum Theater, seichte und unkonzentrierte Kritiken jedoch weniger: beim kritisieren bitte klüger hinsehen und nicht nur routinieren.
"Warum tötet Woyzeck Marie? Nicht nur wegen der Erbsendiät des Doktors, findet Sebastian Hartmann. Am Deutschen Theater lässt er nur die beiden, also Mann und Frau, aufeinander los. Zu Beginn erzählen Schatten von Schlägen und Stichen, die über die Bühnengrab-Wände flackern, ein hinten offener Kasten, wie frisch mit Teer ausgestrichen.
Hier pendeln die Emotionen zwischen Liebe und Hass, Dramenfragment- und Fremdtexten. Hartmann und seine zwei radikalen Titanen-Schauspieler in Kostümen von dunnemals bürsten sie mit einer Glut gegen den Strich, dass man völlig neu hinhört. Packend, wie Katrin Wichmann Todesangst-Passagen lachend über die Lippen perlen, wie Benjamin Lillie aus einem verröchelnden Gezappel in den Marschschritt gleitet, wie sie sich ineinander verknäulen und verbeißen, mal aus Hass, mal aus Begierde, mal wegen dem Dazwischen.
Hartmann ist naturgemäß radikaler als Leander Haußmanns psychologischer „Woyzeck“ am Berliner Ensemble, darin auch arroganter, setzt Textkenntnis und Sitzfleisch für Pippi-Kacka-Kalauer voraus. Das nervt. Aber es lohnt, weil die 100 Minuten dank der Heiner-Müller-Auflösung am Ende nicht nur Sprachspiel und Bilderrausch sind, sondern auch ein faszinierendes Denk-Experiment. "
Dieses Stück nimmt sich nun Hartmann an. Die Bühne ist ein schwarzer Trichter, aber es ist eine Drehbühne und lässt einen zweiten Raum zu, den des Sees, den Ort des Mordes.
Der Trichter ist ein Traumort, ein Ort der Leere und Verlorenheit.
Nur zwei Schauspieler sind auf der Bühne und spielen den gesamten Text, die Rollen wechseln. Jeden Abend, zu jedem Auftritt gibt es ein neues Zusammenspiel zwischen Mann und Frau, zwischen Liebe und Hass, Anziehung und Abstoßung. Die Schauspieler nutzen diese Freiheit. Sie rollen über die Bühne, schreien, tun sich weh, werden zum Liebhaber, Mörder und Tier. Das Ganze ist sehr anstrengend zuzuschauen. Zumal Woyzeck um vier Textauszüge ergänzt wird:
Lenz
Hessischer Landbote
Herakles 2/ Hydra von Müller und
Bildbeschreibung von Müller aus 1984 am Ende der Inszenierung, passend der Schluss, finde ich.
Klassisch aufgeführt sieht anders aus. Es geht aber Hartmann um die Berührung durch den Text und nicht um seine Bedeutung.
Am Anfang entsteht zwischen den beiden Schauspielern ein Kampf zwischen Liebe und Hass. Sie rollen auf der Bühne in den Trichter hinab, ist das ein Mord oder ein Liebesakt? Die Musik unterstützt die Dramatik.
Mir scheint das Drama entkernt. Was bleibt? Die Beziehung zwischen Marie und Woyzeck. Ein wilder Kampf zwischen Mann und Frau und die Ewigkeit und die Umkehrung. Mann wir Frau, Frau wird Mann. Was entscheidet? Der Augenblick. Jede Beziehung ist eine Entscheidung des Augenblicks. Marie liebt Woyzeck. Aber da ist auch der Tambourmajor und der bietet mehr.
Das Unheil ist vorprogrammiert und es wird nervend durch die Wiederholungen verstärkt. Gerade dann als der Schauspieler sich der Kleider entledigt und zum Tier seines Genitals wird. Der Kampf mit dem Geschlecht dauert lange, fast eine halbe Stunde.
Dann geschieht der Mord und dann folgt ein langer Text, nämlich Müllers Bildbeschreibung, eine ganze Bühnendrehung lang. Ein Text, der dieses Stück aus dem Fragmentarischen zu holen vermag. Und das ist vielleicht die Leistung dieses Abends und die von Hartmann.
Was erwartet ein Zuschauer, wenn er Woyzeck sehen will? Ein Lustspiel, ein Trauerspiel, eine Tragödie… Das wird er keineswegs bekommen. Es ist vielleicht ein wichtiges Psychodrama, das gerade darum Fragment bleiben musste. Und es ist interessant, dieses Fragment um Müllers Bildbeschreibung zu ergänzen. So findet der Mord an die Frau einen Spiegel, nämlich den des Mordes an sich selbst.
Leider gab es das noch viel öfter, wodurch einige wenige durchaus sehenswerte Szenen auch ganz schnell in Vergessenheit gerieten.
Und nach gefühlten 2 Stunden den armen Schauspieler noch eine gefühlte halbe Stunde die Bildbeschreibung aufsagen zu lassen, bar jeden Einfalls oder Haltung, steif an der Rampe stehen und innerlich betend, dass das Gehirn ihn nicht im Stich lasse, ist doch nur eine Bankrotterklärung des Regisseurs.
Herr Hartmann, das muss ihnen doch auch aufgefallen sein!
Das konnten Sie doch schon einmal besser!
Übrigens, wer Büchners Vorlage nicht wirklich gut kennt, dürfte erst recht verloren sein. Okay, das könnte ja auch das "Konzept" sein...
Das Bild im Bild, so läuft die gesamte Inszenierung, eine Bilderflut, zuerst die Schatten zweier Menschen, immer aufeinander zu, es ist der Mord, das Bild wird blutrot, es ist der schöne Mord, dann der Mann, noch stumm, er wie ein Schattenriss, dann sie, Marie, beide in weißen Gewändern, sie fallen wieder ineinander, sie werden eins, keuchen, rollen auf uns zu, so geht das eine gute oder böse Weile, sie können nicht voneinander lassen. Es ist Begier, es ist ein Kampf. Das Licht bleibt kalt, erst langsam kommen sie zur Sprache.
Was dann folgt, weiß ich in der Reihenfolge nicht mehr zu sagen, bis Woyzeck wieder am Boden liegt, stirbt, durch Marie, die Stiefel an seinen Beinen salutieren noch im Sterben.
Hier wird mehrfach gestorben und geküsst und alles ist Mühe unter der Sonn.
Dann steht er nackt und fragt: Was ist der Mensch? Ich kenne den Text, es ist Büchner, aber das ist ein viel größeres Bild, da steht der Gekreuzigte, da wird die Kreatur und da steht der vollkommene Mensch.
Die Szenen, die Figuren aus einem Drama, das ich gut kenne, es wird alles verwoben und gewechselt, dass einem auch schon der Kopf wie ein Muehlrad vorkommt, aber alles unter der Sonn ist Arbeit.
Wie oft schlägt Woyzeck seinen Penis an die Wand, um sein Wasser zu schlagen? Nackt und völlig ausgeliefert, uns, und es ist wie eine Publikumsbeschaemung. Wir halten es kaum aus.
Irgendwann legt Woyzeck seinen Kopf in Maries Schoss und er greint wie ein Kind, irgendwann scheint es so, als erstickten sie das Kind. Was ist der Mensch? Der große Text aus Büchners Brief an die Eltern, gegen Woyzecks Gestammel spricht Marie den Text, sie schreit ihn, so, als würde er nicht nicht verstanden werden können. Was ist der Mensch? Weiß ich's, möchte man schreien.
weiter
kulturhuschen.wordpress.com/
Hartmann macht seinem Ruf auch an diesem Abend wieder alle Ehre. Die 27 Rollen teilen sich nur zwei Schauspieler (Katrin Wichmann und Benjamin Lillie), die wild zwischen den Textbrocken von Franz Woyzeck, seiner Marie, dem Tambourmajor, dem Doktor und der anderen Figuren hin und her springen. Die beiden exzellenten Protagonisten des Abends gehen an ihre Grenzen, fallen über einander her, rollen ineinander verkeilt über den Boden, schreien, fauchen, imitieren Vogelgeräusche, brabbeln in Phantasiesprachen. Original-Passagen, an die man sich dunkel aus dem Reclam-Bändchen oder klassischeren Inszenierungen erinnert, werden mit anderen Büchner-Texten (Der Hessische Landbote, Lenz) und schwer zugänglichen Heiner Müller-Häppchen wie Bildbeschreibung, die Benjamin Lillie in einem langen Schluss-Monolog vorträgt, gemixt.
Hartmanns Woyzeck ist das derzeit wohl radikalste Stück am sonst so traditionsbewussten Deutschen Theater Berlin und steuert auf halber Strecke nach einer guten Stunde zielgerichtet auf die Szene zu, die in (fast) allen Rezensionen breiten Raum einnahm: Lillie setzt in einer Ecke der Bühne zum Striptease an und wird vom Arzt (alias Kollegin Wichmann) zur Urinprobe aufgefordert, da die Auswirkungen der Erbsensuppen-Diät getestet werden sollen. In einer knapp fünfminütigen Performance müht er sich in aberwitzigen Stellungen und mit grotesken Verrenkungen, ruft dazwischen immer wieder “Pippi – los” und “Doktor, ich kann nit”, bevor Benjamin Lillie nach weiteren Nackt-Monologen und einer knappen halben Stunde seine Hose wieder anzieht.
Die Reaktionen fielen an diesem Abend erwartungsgemäß aus: Kichernde Mädchen, die von den ausführlichen Szenenbeschreibungen neugierig gemacht worden waren, amüsieren sich köstlich. Ein älteres Ehepaar, das kurz vor Spielbeginn selbst eine akrobatische Einlage aufs Parkett gelegt hatte, da sie sich wegen vergessener Brille in die falsche Reihe verirrt hatten und die Frau dann kurzerhand quer über den Sitz geturnt war, grummelte die gesamte zweite Hälfte vor sich hin: “Wie kann man den Büchner so verhunzen!”
e-politik.de/kulturblog/archives/894-sebastian-hartmanns-woyzeck-am-deutschen-theater-radikale-reduktion-auf-zwei-personen-geteilte-echo-auf-exhibitionistische-performance-von-benjamin-lillie.html
vielen Dank, tolle Rezension, mir ging es ähnlich, aber ich hätte es nicht annähernd so schön in Worte fassen können.
@Inga: Ihre Meinungen, Gedanken, Vermutungen und Interpretationen zu nicht gesehenen Inszenierungen strengen unglaublich an. Nutzen Sie die Zeit doch lieber und gehen mal ins Theater.
meist vefluche ich die Nachtkritik, doch dann gibt es auch so intensive Beschreibungen eines Theaterabends. Danke. Ich habe nun auch die zweite Inszenierung von Leander Hausmann gesehen, auch eine wunderbare Sicht, weit brutaler, weniger psychologisiert. Es ist fantastisch, wenn man diese Möglichkeiten einer Annäherung an einen Text empfangen kann.
Man sollte wirklich ins Theater gehen und sich treiben lassen, mit oder ohne Worte.
@ Inga, ich lese ihre Texte meist, finde es mitunter schade, dass sie stets negativ bewertet werden. Sie wissen viel, aber ihre Sicht ist so unerträglich negativ. Schade.
(Lieber Sascha Krieger,
dass Sie sich hier unwohl fühlen, ist natürlich misslich. Wir diskutieren unsere Moderationspraxis immer wieder, möchten aber natürlich die Kriterien für die (Nicht-)Veröffentlichung von Kommentaren nachvollziehbar halten. Seien Sie jedenfalls versichert, dass uns Ihr Kommentar noch mal zu denken gibt.
Mit besten Grüßen:
Anne Peter / Redaktion)
Erst aus der eigenen Erfahrung heraus würden Sie vielleicht auch mich besser verstehen, warum ich nach und nach dazu gezwungen wurde, so negativ zu denken. Weil auch ich in meinem Leben - vielleicht den Erfahrungen dieser Marie-Figur ähnlich - ab einem ganz bestimmten Zeitpunkt viel Negatives erfahren habe. Und das bis heute nicht geklärt wurde. (...)
Und noch ein Zitat zu Ihrer Frage, warum ich oft so negativ denke:
"Es is viel möglich. Der Mensch! Es is viel möglich. […] Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?"
Kurz: Wenn Sie einmal konkret erfahren haben, dass die Erde auch kippen kann wie ein umgestürzter Hafen, dann können sie nicht mehr immer nur positiv denken, auch wenn sie es verzweifelt versuchen. Und ausserdem kenne ich keinen Menschen, der nicht aus seinem Elend, Leid und Unglück lieber heraus wollte. Niemand macht es sich darin bequem wie in einem bürgerlichen Theatersessel. Und das ist keine platte Kritik am (Bildungs-)Bürgerlichen. Im Gegenteil, ich spreche auch da aus meiner eigenen (bürgerlichen Herkunfts-) Erfahrung heraus.
Bleibt halt die Frage wo die Erwachsenen hingehen sollen.
Die beiden Schauspieler berichteten, dass es für sie gerade den Reiz dieser Inszenierung ausmache, nie genau zu wissen, was als nächstes passieren und welchen Impuls das Gegenüber setzen wird.
Wer die Chance zum direkten Vergleich hatte, kann bestätigen: An den ersten Abenden nach der Premiere im Oktober 2014 hielten sich Wichmann und Lillie noch stärker an ein stützendes, vorher verabredetes Korsett, inzwischen lassen sie ihrer Spielfreude freien Lauf und erfinden jeden Abend neu. Bei der jüngsten Aufführung war eindrucksvoll, dass auch Voxi Bärenklau als Lichtdesigner noch stärker eigene Akzente setzte: das gute Timing des Wechsels zwischen Licht und Schatten und seine Videoprojektionen verstärkten die düstere Stimmung, während Franz Woyzeck und seine Marie miteinander in dem engen trichterförmigen Tunnel rangen.
Kontrovers wurden am Donnerstag vor allem zwei Szenen diskutiert, die auch schon in den Kritiken der Feuilletons umstritten waren: zum einen die Nacktszene von Benjamin Lillie, als er vom Arzt zur Urinprobe aufgefordert wird, wild durch die Gegend hüpft und “Pippi, los!” ruft, zum anderen sein Ausflug in eine Phantasiesprache, mit der er Katrin Wichmanns Vortrag aus Büchners Hessischem Landboten kommentiert. An diesen beiden Stellen verließen mehrere Besucher türenschlagend den Saal, andere kicherten amüsiert.
Die Meinungen im Publikum gingen beim Nachgespräch weit auseinander: ein Besucher bekannte, dass er mit dem Woyzeck-Stoff noch nie viel anfangen konnte, diese Bearbeitung aber sehr gelungen fand. Eine Frau rief dazwischen, dass Benjamin Lillies Auftritt die erste Nacktszene gewesen sei, die sie amüsiert habe, worauf der Schauspieler mit einem Jubelschrei und gereckter Faust reagierte. Die Gegenposition beklagte, dass die Inszenierung an den fraglichen Stellen zu sehr in Klamauk abdrifte und albern wirke. Eine Besucherin monierte, dass es aus ihrer Sicht dem Zeitgeist geschuldet sei, dass Regisseure sehr ernste Arbeiten zu düsteren Themen durch einen comic relief unterbrechen. Dadurch liefen sie Gefahr, ihre eigene Arbeit zu entwerten.
Die drei Akteure entgegneten darauf, dass sie bei ihrer Probenarbeit nicht weiter über Publikumsreaktionen nachgedacht, sondern ihren Blick auf die Figuren und den Stoff entwickelt hätten. Regisseur Sebastian Hartmann entgegnete auf den Vorwurf des Klamauks, dass die Zuschauer genauer beschreiben sollten, was konkret auf sie albern wirke, dass aber die Szenen dieses Abends genau seinen Humor träfen. Benjamin Lillie sagte, dass die Phantasiesprache für ihn zu Franz Woyzeck gehöre, aus dem es in diesem Moment herausbreche. Auch die Nacktheit gehöre für ihn bei den medizinischen Tests durch den Arzt zur Figur, deshalb habe er dies bei den Proben so angeboten.
Mehr dazu hier: e-politik.de/kulturblog/archives/23672-sebastian-hartmanns-woyzeck-polarisiert-am-deutschen-theater-beim-publikumsgespraech.html