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archiv » Theater Münster (34)
Theater Münster

27. November 2022. Molières "Der Geizige" heißt am Theater Münster ohne Artikel und damit genderneutral "Geizige". Das Haus kündigt an: "Wir spielen den Klassiker in allen Rollen mit unserem Frauenensemble." Was wäre da alles möglich gewesen! Die Hinterfragung von Geschlechterrollen und –klischees. Die Verschiebung der Figurenanlagen: Wie könnte sie aussehen, eine alte, raffgierige Matriarchin, die ihren Kindern die Butter auf dem Brot (und die ersehnten Homo-Ehen) nicht gönnt und sich in den verlogenen Worten ihrer Schleimerinnen sonnt? Aber man muss leider feststellen: Der Artikel ist weg, aber sonst ändert sich in Münster nichts.


Theater Münster

1. Oktober 2022. Diese "Orestie" ist die erste große Schauspiel-Premiere nach dem Wechsel der Schauspielleitung, nachdem Katharina Kost-Tolmein bereits Anfang des Jahres die Intendanz übernommen hatte. Schon die Ankündigung, dass der Abend in der Übersetzung von Peter Stein zusammen mit drei neuen Texten von Sivan Ben Yishai, Miru Miroslava Svolikova und Maren Kames gezeigt wird, legte die Latte auf Wettkampfhöhe. Die Texte der drei Autorinnen widmen sich Iphigenie, Kassandra und schließlich Elektra. Sie reflektieren ihre Bedeutung sowohl für das Familiengefüge der Atriden als auch metatheatral für die Dramaturgie der "Orestie" selbst, wodurch die patriarchalen und nicht selten auch misogynen Strukturen und Handlungsmuster der Tragödie vielfältig kenntlich werden. So heißt es schon in Iphigenies eindrucksvollem Eröffnungsmonolog von Sivan Ben Yishai: "Ich bin die, die gestorben ist, bevor die Geschichte losging / Ich bin der Zündfunke, der Firestarter."


Theater Münster

14. Mai 2022. "Wir setzen auf Ihren klaren, ungetrübten Blick", tönt es anfangs vom Zuschauerbalkon zu uns herab. Aber klar sieht man erst einmal nicht. Besser, man sieht leicht schielend, etwas weitsichtig auf dieses feministische Mischwerk aus sanftem Horror, schockierender Kirchenkritik und fröhlichem Patriarchenbashing. Dann werden zumindest die groben Umrisse klar. Links ein Bett, rechts ein Bett, darauf und daneben viel bunt verstreuter Mädchenkram. Wir sind in einem katholischen Mädcheninternat für Schläferinnen, Schlafkranke, die zu viel träumen. Und da geschehen ungeheure Dinge.


Theater Münster

24. April 2022. Ob sie wohl anders agieren würden, wenn sie es wüssten? Der Müßiggang der feinen Gesellschaft, die sich im Landhaus des Juristen Basov versammelt, entscheidet über das Schicksal der gesamten Menschheit. Andreas Kriegenburg hat die Fallhöhe von Maxim Gorkis "Sommergästen" im Theater Münster mit diesem Kniff quasi ins Unendliche gesteigert: Unter die Figuren, die zwar auch beim russischen Schriftsteller schon das Ende ihrer Hoch-Zeit, aber nicht gleich das Ende ihrer Spezies ahnen, mischen sich fahle Gestalten, die über Wohl und Wehe entscheiden.


Theater Münster

Münster, 19. Februar 2022. Wer oder was überlebt? Vor allem: was. Die Menschheit beschäftigt sich mit dem Gedanken an ihr Ende. Und nimmt doch an, dass etwas sie überdauern wird, irgendwelche Materie, organisch oder anorganisch. Der hilfreiche Altersgedanke, dass die meisten Dinge um einen herum nach uns immer noch da sein werden, trifft ja auch die Menschheit. Aber es gibt auch die Möglichkeit optimistischerer Langzeitprognosen: Was, wenn die Menschheit noch sehr lange überlebt, aber alles vergisst? Globale Amnesie in der Endphase des Anthropozän?


Theater Münster

6. November 2021. Dass sich Shakespeares Komödien nicht zuletzt aufgrund des Crossdressings hervorragend eignen, um fröhlich mit Geschlechterstereotypen zu spielen, ist ja hinlänglich bekannt. Deswegen war es gewiss eine gute Idee des Theaters Münster, "Was ihr wollt" von Julia Prechsl inszenieren zu lassen, die schon in ihrer Memminger Räuber-Inszenierungen Rollenbilder ironisierte. Als Bonbon sieht die Münsteraner Aufführung vor, die beiden Geschwister Viola und Sebastian Abend für Abend gegenzubesetzen: Rose Lohmann spielte gestern Viola, ihren Zwillingsbruder Sebastian gab Paul Maximilian Schulze. Heute werden die beiden ihre Rollen tauschen.


Theater Münster

Eine Frage von Treu und Glauben

von Kai Bremer

Münster, 15. September 2021. Felicia Zellers "Wirtschaftsdramatik" trifft seit einiger Zeit landauf, landab einen Nerv. Aber gerade weil sie weiß, wie Märkte ticken, dürfte ihr klar sein, dass ein erfolgreich etabliertes Label Segen und Fluch zugleich ist. Schließlich lebt der Kapitalismus von Expansion und fordert unnachgiebig regelmäßig das nächste heiße Ding, das idealerweise den Markenkern nicht aufweichen darf und trotzdem Neues bieten muss. Um es vorweg zu nehmen: "Der Geldkomplex", den Max Claessen gestern am Theater Münster inszeniert hat, erfüllt diese Anforderungen mustergültig.


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Viel Blut auf weißem Nachthemd

von Anna Landefeld

Münster / Online, 5. Juni 2021. Aus schwarzer Unschärfe kommt sie auf uns zu. Leicht wankend, leicht gebückt die Arme ausgebreitet, als wolle sie uns gleich überwältigen und mit ihrem violetten Mantel verschlucken. Näher kommt sie, diese Gestalt mit dem silbernen Haar, dem bleichen Gesicht und dem mythisch-gekrönten Haupt. Wer ist sie? Sie wird uns warnen, noch bevor es richtig losgeht: "Denn ich bin all das, was Sie befürchten." Die Augen weißäpfelig, auf der Stirn starrt das dritte in Auge in blau. Die Geschichte, raunt die Heidnische dunkel, sei immer die Geschichte der Helden, der Gewalt, und wer diese habe, habe die Macht. Kurzum: nicht die Frauen*. Die wurden über Jahrhunderte christlich-patriarchal geframed und in zwei Kategorien eingeteilt: Jungfrau oder Hure? Unbefleckte Gottesmutter Maria oder sündige Maria Magdalena, Zeugin von Jesus' Tod und Auferstehung.


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Wo Unheil gedeiht

von Sascha Westphal

Münster, 10. Oktober 2020. Nichts als Grauzonen. So war es schon vor über hundert Jahren, als dem Chemiker Fritz Haber zusammen mit Carl Bosch die Ammoniaksynthese gelang. Damit war der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Produktion von Kunstdünger gemacht. Die Ammoniaksynthese ermöglichte aber auch die Produktion von Giftgas und dessen Einsatz als Massenvernichtungswaffe im Ersten Weltkrieg. Habers Ehefrau, die Chemikerin Clara Immerwahr, protestierte als überzeugte Pazifistin vergeblich gegen seine Bestrebungen für einen Gaskrieg und erschoss sich schließlich im Garten der gemeinsamen Villa nach einer Party, mit der Haber den ersten erfolgreichen Einsatz von Giftgas gegen die französischen Soldaten gefeiert hatte.


Theater Münster

Wie wir es gespielt haben, bleibt in der Luft

von Gerhard Preußer

Münster, 21. Februar 2020. Väter werfen Schatten, stehen im Licht und verdunkeln diejenigen, die nach ihnen kommen. Martin Heckmanns' Vater Jürgen Heckmanns hat als bildender Künstler Figuren gestaltet, giacomettiartige Papiermenschen, deren Schatten ebenso zu ihnen als Kunstwerk gehören, wie ihre aus vergänglicher Materie gestaltete Form. Martin Heckmanns hat nun ein Requiem geschrieben für seinen Vater, nicht nur für ihn, für alle deutschen Väter seiner Generation. Aus dem Schatten dieses im letzten Jahr gestorbenen Künstlervaters ist der Dramatiker Heckmanns längst herausgetreten, so kann er souverän mit ihm umgehen. Der autobiographische Kontext ist in dem nun in Münster uraufgeführten Text spürbar, aber nicht dominierend.


Theater Münster

Freier Fall

von Kai Bremer

Münster, 9. Januar 2020. Die Erinnerung an den 2003 verstorbenen FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann verblasst nur allmählich in Münster, wo seine Frau bis heute Ratsmitglied ist. Es ist also nicht ohne lokale Brisanz, dass gestern im Schauspiel der Stadt das neueste Stück von Annalena und Konstantin Küspert aufgeführt wurde, das sich diesem politischen Hans Dampf der späten Kohl-Ära wie der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün unter Gerhard Schröder widmet. Regie führte Ruth Messing, die hier schon eine Stadtrecherche und in Aachen Küsperts "Der Westen" inszeniert hat. Eine vielversprechende Konstellation.


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Schuld und kaum Sühne

von Gerhard Preußer

Münster, 28. September 2019. Kann man mit Fassbinders Filmen aus den 70er/80er-Jahren die Gegenwart verstehen? Das Schauspiel Münster versucht es jedenfalls. Und da Deutschland viel Vergangenheit hat, braucht es entsprechend viele Filme – Frank Behnke hat sich die gesamte BRD-Trilogie Fassbinders vorgenommen: "Die Ehe der Maria Braun", "Die Sehnsucht der Veronika Voss" und "Lola", alles an einem Abend. Mit seinem fünfzehnköpfigen Ensemble stemmt der Regisseur ein Großprojekt.


Theater Münster

Alle gegen alle

von Gerhard Preußer

Münster, 10. Mai 2019. Das Bild kennt man: eine Gruppe von ausgehungerten Gestalten, halbtot auf einem Floß liegend, um einen improvisierten Mast mit roter Fahne zur Menschenpyramide arrangiert, einem sehr fernen Schiff am Horizont verzweifelt zuwinkend. So hängt Theodore Guéricaults Monumentalgemälde "Das Floß der Medusa" im Pariser Louvre. Und so beginnt Stefan Ottenis Inszenierung nach dem gleichnamigen Roman Franzobels in Münster. Gemälde, Roman und Bühnenfassung greifen ein historisches Ereignis auf, den berüchtigsten Schiffbruch des 19. Jahrhunderts. Berühmt, weil er schon damals, lange vor dem Holocaust, zeigte, dass der Mensch sich keine Grenzen setzen kann, auch nicht die, die man optimistisch Humanität oder Menschlichkeit nennt. 


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Zwei Todesfälle und ein Orca

von Gerhard Preußer

Münster, 16. November 2018. Nein, ganz tot sind wir nicht, nur halb. Eine alternde Gesellschaft sind wir. Da geschieht es uns Recht, dass uns eine junge Autorin ein lustiges Stück über das Sterben liefert. Warum verrennt sie sich in ein so morbides Thema? Weil es zwei Glanzrollen für ältere Schauspielerinnen ergibt. Von solchen Schauspielerinnen gibt es viele (von solchen Zuschauerinnen noch mehr), von solchen Rollen wenige. Deshalb hat Svenja Viola Bungarten, die gerade erst den Berliner Studiengang "Szenisches Schreiben" abgeschlossen hat, ein Stück über zwei alte Frauen und eine Leiche geschrieben.


Theater Münster

Boulevard und Bergman

von Sascha Westphal

Münster, 28. April 2018. Alle Blicke richten sich auf die Dame mittleren Alters, die ganz alleine mitten auf der großen Bühne steht. Sie will sich scheiden lassen, endlich soll Schluss sein mit einem Leben, in dem sich alles wie gedämpft anfühlt, das ohne Liebe und damit ohne jedes Gefühl ist. Mit jeder weiteren Frage, die ihr die übrigen neun Ensemblemitglieder aus dem Zuschauerraum heraus stellen, gibt die von Carola von Seckendorff gespielte Noch-Ehefrau mehr von ihrem emotionalen Elend preis. Auf jede der mal ungläubig und mal mitfühlend, mal herablassend und mal desinteressiert klingenden Fragen antwortet sie in dem gleichen apathischen Tonfall. Ihrer leidenschaftslosen Ehe mag sie entkommen, obwohl auch das nicht wirklich sicher ist. Ihrem trostlosen Leben wird sie nicht entrinnen.


Theater Münster

Zu oll / zu doll

von Kai Bremer

Münster, 22. Dezember 2017. Es ist noch keine vierzehn Tage her, als hier der bisher letzte Kommentar in der vehement geführten Debatte um Stefan Ottenis Shakespeare-Inszenierung "Die Fremden / Der Kaufmann von Venedig" am Theater Münster erschien. In ihr ging es immerhin um den Antisemitismus in Shakespeares Drama und um nicht weniger als die Frage, ob zumindest einige Szenen der Inszenierung unreflektiert eine antisemitische Bildästhetik pflegen. Gestern nun kam am selben Haus mit Max Frischs "Andorra" (und zum Teil denselben Schauspielern) ein Stück zur Aufführung, das sich dem Thema Antisemitismus ganz eindeutig stellt.


Theater Münster

Jeder kreist um sich allein

von Sascha Westphal

Münster, 4. November 2017. "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?" Dreimal erklingt diese Frage und mit ihr auch die anderen Fragen aus Shylocks berühmtem Monolog. Allerdings hält er ihn, wie von Shakespeare vorgesehen, nur ein einziges Mal. Zuvor ist es der Prinz von Marokko, einer der glücklosen Freier der umschwärmten Millionenerbin Portia, der sich Shylocks Worte zu eigen macht und voller Verzweiflung fragt: "Hat nicht ein Muslim Augen?" Im letzten Akt greift schließlich noch Nerissa, Portias Begleiterin, den Monolog auf und stellt ihn noch einmal in einen etwas anderen Kontext. Nun ist es eine Frau, die die Männer daran erinnert, dass alle Menschen sterben, wenn sie vergiftet werden.


Theater Münster

Wie man mündig wird

von Kai Bremer

Münster, 22. April 2017. Als Joël Pommerats "Wir schaffen das schon" wenige Tage nach den Pariser Attentaten im November 2015 erstmals inszeniert wurde, zog es umgehend die Aufmerksamkeit des Theaterpublikums der französischen Hauptstadt auf sich. Ein Stück über die Anfänge der Französischen Revolution ganz in der Gegenwartssprache gehalten und ohne historistischen Kitsch? Davon versprachen sich offenbar viele Pariser Antworten auf drängende Fragen. In der aktuellen Spielzeit haben sich gleich mehrere deutsche Theater des Revolutionsdramas angenommen, Dortmund zunächst, gestern – am Vorabend des ersten Wahlgangs in Frankreich – Münster.


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Trotz Rumba

von Kai Bremer

Münster, 29. Dezember 2016. Theaterkritik funktioniert oft wie die das Drama nach Gustav Freytag. Erst ist alles gut, dann folgt der Wendepunkt und schließlich – tata! – die Katastrophe, vulgo der Verriss. Die Alternative: erst Meckern, dann Wendepunkt und – tata! – Happyend, vulgo Lob und Begeisterung. Undramatisch ist die Theaterkritik eigentlich nur im Ausnahmefall, nämlich wenn alles gut oder alles schlecht ist. Nur ist sie dann langweilig und sieht (Variante "alles gut") so aus:


Theater Münster

Noch nicht ganz und schon nicht mehr

von Michael Laages

Münster, 25. September 2016. Im großen Summen und Brummen des Erinnerns an die Reformation in Deutschland vor 500 Jahren will und wird das Theater mit diesem Stück wohl nicht so recht mitklingen – schon weil der vielseitige Dramatiker John von Düffel, dessen "Martinus Luther" jetzt mit der Uraufführung am Theater in Münster noch vor dem eigentlichen Start den Beginn vom sogenannten "Luther-Jahr" markiert, den Anlass eher ausspart: den religiösen Um- und Aufbruch, der auch und vielleicht vor allem ein politischer war im Kernland des alten Europa. Geschickt hat von Düffel einen minder populären Ansatz gewählt und erzählt von Luther auf der Bühne einerseits vor und andererseits nach dem historischen Fortschritt der Reformation.


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Die Nacht der reitenden Raptoren

von Gerhard Preußer

Münster 23. April 2016. Seit der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers 2008 reißt der Nachschub von Stücken über die Finanzkrise für die deutschen Theater nicht ab. In Münster setzt man aber auf einen der älteren Texte: Lucy Prebbles "Enron" behandelt nicht nur eine Insolvenz von 2001, sondern wurde auch schon vor fünf Jahren zum ersten Mal auf Deutsch gezeigt. Der Vorteil von "Enron" ist seine Verständlichkeit. Dass Belehrung und Unterhaltung keine Gegensätze sind, hat schon Brecht postuliert und der war Prebbles Vorbild. Wer nicht weiß, was "special purpose entities" einer Aktiengesellschaft sind, dem wird es hier lustig erklärt.


Theater Münster

Das perlt aber heute wieder

von Tim Schomacker

Münster, 18. Dezember 2015. Als hübsch beziehungsreiches Damoklesschwerter-Quartett baumeln vier blankpolierte Blecheimer über der Bühne. Drinnen ist Blut. Theaterblut. Eben haben sich die besonders tatkräftigen unter den republikanischen Genueser Verschwörern großzügig eingerieben damit. So sind sie hinausgezogen in die Gassen des Fürstentums, um dem designierten neuen Herrscher Gianettino Doria, Neffe des altgewordenen alten, den Garaus zu machen. Bühnenblut fungiert hier als Kriegsbemalung und Schlachtspur zugleich. Geschickt schließt die rot triefende Maskerade die diversen Inszenierungen, also die Intrigen und Initiationen innerhalb des Stücks, und damit auch die Inszenierung des Stücks.


Theater Münster

Das Schweigen nach den Schüssen

von Kai Bremer

Münster, 4. September 2015. "An eye for an eye / And a tooth for a tooth / And anyway I told the truth / And I'm not afraid to die." Immer und immer wieder, sanft und gleichwohl entschieden singt der Chor, der inzwischen nicht mehr auf der Bühne steht, sondern in den ersten beiden Zuschauerreihen sitzt, Nick Caves The Mercy Seat. Auge um Auge, Zahn um Zahn – dieses in seinem Ursprung rechtliche Prinzip wird gerne als grausame Rachsucht diffamiert, ohne zu bedenken, wie sehr die alttestamentliche Forderung dem zuerst Versehrten Genugtuung verheißen kann. Caves Song weiß von diesem archaisch anmutenden Gefühl und er weiß um die Ambivalenz dieser Forderung angesichts deren Überbietung durch das christliche Gebot der Feindesliebe.


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Weichzielverlustzirkus

von Kai Bremer

Münster, 22. Mai 2015. Intermediate Bulk Container sind – zumal in der Variante mit Stahlkäfig – eine feine Sache. Üblicherweise werden in ihnen sehr effizient Flüssigkeiten transportiert. Aber wenn man rund 60 von ihnen im Theater versetzt auftürmt, ergeben sie nicht nur eine tolle Kletterwand für akrobatisch talentierte Schauspieler, sondern zugleich auch einen gewissen proletarischen Flair. Da glaubt man Beckmann gleich, dass er im Hafen von Hamburg ist. Und die IBCs haben noch einen Vorteil: Wenn man sie anständig befüllt, stehen sie nicht nur stabil übereinander. Man kann zumindest aus einigen von ihnen Wassermassen auf die Bühne strömen lassen, die Beckmanns trauriges Heimkehrerdrama zu einer regelrechten Untergangsgeschichte verdichten.


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Die amourösen Grundrechenarten

von Tim Schomacker

Münster, 27. Februar 2015. Es ist erstaunlich wenig von Ständischem die Rede oder von Standesgemäßem in diesen neunzig Minuten. Kaum einmal kommt die Familie ins Spiel oder das Geld, wenn es um die Partnerwahl (oder auch -abwahl) geht. Für einen Text von 1634 sind die Figuren überraschend bei sich in Liebesdingen. Beziehungsweise Unliebesdingen: So greint und jault Lilly Groppers Angelique krabbelnd über den Boden – "er war mein ganzes Leben!" – um dann in überspanntem Lachen sich selbst zu richten für den Moment: "Ist das peinlich!" Und spätestens ab hier weiß man nicht mehr, was Angelique schwerer wiegt: der Herzschmerz – oder das Bild, dass sie unter Herzschmerz abgibt.


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Grubenlampe am roten Stern

von Tim Schomacker

Münster, 16. Januar 2015. Um Namen war er selten verlegen, der Herr Williams. In Frühlingsstürme, das vor knapp zwei Jahren in Münster seine deutschsprachige Premiere feierte, hieß die lieblich-höhere Tochter Heavenly. Diesmal schickt Tennessee Williams dem Bergarbeiter und Arbeiterrechte-Agitator Birmingham Red die Bergarbeiter-Tochter Star in die Arme. Red und Star. Diesen roten Stern zu entziffern, dürfte nicht schwer gefallen sein im amerikanischen Süden der mittleren 1930er Jahre, der Zeit der Großen Depression.


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Ein Vorstadt-Endspiel

von Sascha Westphal

Münster, 14. November 2014. Mit einmal gibt es kein Halten mehr. Die Worte sprudeln nur so aus Sharon heraus. So etwas hatte sie bisher noch nie erlebt. Ihre neuen Nachbarn, das ein paar Jahre ältere Ehepaar Mary und Ben, haben sie und ihren Freund Kenny zu sich in den Garten eingeladen. Eine Grillparty, wie sie doch einst so charakteristisch für das Leben der US-amerikanischen Mittelschicht war.


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Wo sich der chinesische Drache wölbt

von Tim Schomacker

Münster, 11. April 2014. Ob sie die Plätze der toten Seelen markieren sollen? Ein Parteitagsauditorium andeuten? Oder gleich beides? Hochgradig symbolisch jedenfalls stehen sie da, die Reihen baugleicher knochenweißer Plastikstühle, die sich im ebenerdigen schwarzen Bühnenraum bis in angedeutete Unendlichkeit fortzusetzen scheinen.


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Blaue Flecken auf unserer Haut

von Kai Bremer

Münster, 16. Februar 2014. Es gibt ja nicht wenige Stadttheater, die zu punkten versuchen, indem sie auf neue Dramatik setzen. Die Folgen dieser Politik sind hinlänglich bekannt und kritisiert. In Münster setzt man seit dem Intendantenwechsel vor anderthalb Jahren auf eine etwas andere Strategie: Zwar haben auch Uraufführungen den Weg auf die Bühne gefunden, vor allem aber sind es deutsche Erstaufführungen englischsprachiger Dramatik, die neben den klassischen Verdächtigen den Spielplan bereichern. So eröffnete die Intendanz von Ulrich Peters Alexi Campbells boulevardeske "Apologia", kurz darauf folgte eine Szenensammlung von Caryl Churchill und vor knapp einem Jahr inszenierte Schauspiel-Chef Frank Behnke Tennessee Williams Frühwerk "Frühlingsstürme". Diese Ausrichtung ist nicht dumm. Schließlich kommen so weit prominentere Namen auf die Bühne als bei den meisten Uraufführungen.


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Es ist egal, aber

von Sascha Westphal

Münster, 20. Dezember 2013.Die Welt da draußen mag kaputt und korrupt sein, die Krise allgegenwärtig und ihre Folgen greifbar nah. Aber drinnen, in der Wohnung der Familie Stockmann, innerhalb ihrer weißen Wände, ist alles in bester Ordnung. Noch haben sie große Hoffnungen und Zuversicht. Noch trifft man sich unbeschwert mit den Freunden zur Bandprobe. Noch fällt es leicht von Veränderungen zu träumen und von der nahenden Zukunft zu reden.


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Die DNA des Ungewissen

von Tim Schomacker

Münster, 20. September 2013. Nein, Aufsehen wie die Entschlüsselung des menschlichen Genoms (oder zumindest der Erstabdruck des Codes auf einem Zeitungstitel) erregt dieser Abend nicht. Ein Biochemiker kommt zwar vor, später. Irgendwann stellt auch wer die Frage nach dem freien Willen in den Raum. Aber einen Satz mit einem dicken Fragezeichen zu sagen, stellt noch keine analytische Haltung dar.


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Im Ayşengrund

von Kai Bremer

Münster, 8. März 2013. Wenn Ältere von den 60ern erzählen, erscheinen die oft stereotyp – grau-lethargisch oder aber pastell-idyllisch. Doch ganz egal, wie sie wirklich waren: Klar ist, dass die Verhältnisse weit festgefügter waren als heute. Lebensneugierige Frauen etwa, die es aus einem abwechslungsreichen Leben, aus einer Großstadt gar, in die Provinz verschlug, hatten es nicht leicht. Besonders, wenn sie es gewohnt waren, sich zu schminken, sich modisch zu kleiden und laut zu feiern. Oder wenn sie vor dem Umzug davon geträumt hatten zu studieren. In den Marken ihrer neuen Heimat konnte es ihnen passieren, dass schon ihr Wunsch zu arbeiten zum Affront wurde.


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Heavenly's Creatures

von Tim Schomacker

Münster, 22. Februar 2013. Wenn das kein Bild für Stillstand ist: Ein großer Ventilator steht mitten auf der Bühne und dreht sich vor sich hin. Er sieht dabei aus wie ein Propeller, der von einem Flugzeug träumt. Darüber hängen Hollywoodschaukeln wie Damoklesschwerter. Sie gehe jetzt auf die Veranda, wird die höhere, wenn auch verarmungsbedrohte Südstaatentochter Heavenly – was für ein Name! – am Ende sagen, und werde warten, bis einer von beiden Männern wiederkommt.


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Occupy the sky

von Kai Bremer

Münster, 22. September 2012. Wie wir schon berichtet haben (hier und hier), hat in Münster nicht das Theater, sondern die Stadtleitung den Spielzeitauftakt bestimmt. Nämlich mit einer Groteske, mit der schon andere Kommunen über die Stadtgrenzen hinweg Schlagzeilen gemacht haben, indem eine fette Kürzungsdebatte losgetreten wurde. Besonders perfide an diesem Akt ist, dass er mitten in die Vorbereitungen fiel. Die Frage zum Auftakt war nun, ob sich die Theaterarbeit von diesem Handstreich beeindruckt zeigt. Gegeben wurden im Schauspiel am Freitag Alexi Kaye Campbells in England und Australien erfolgreiches Stück "Apologia" als deutschsprachige Erstaufführung und gestern Schillers "Räuber". Zweimal der Blick in die Abgründe der Familie – nicht gerade das, was zumindest andere Theater unter "Gegenwart" verstehen.


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