Mehr Vulkan geht nicht

von Verena Großkreutz

Zürich/online, 27. Juni 2020. Was für ein starkes Bild. Warum träumen, warum erwachen? Gerade räsonierte die Conférencière über die Möglichkeit, die coronabedingte "Lücke in der Zeit" sinnvoll zu nutzen, erscheine doch zuvor Unveränderbares plötzlich veränderbar, da switcht die Kamera zu den Außentreppen des Züricher Opernhauses: zu Tenor Iain Milne, der sich dort niedergelassen hat, um sich der Arie "Pourquoi me réveiller?" aus Massenets "Werther" hinzugeben. Irgendwann zieht es den Singenden zum Bauzaun, der ihn vom Vorplatz der Oper trennt, wo sich eine kleine Gruppe ZuhörerInnen eingefunden hat. Er schaut und singt sehnsüchtig zu ihr hinüber. Social Distancing lässt grüßen, aber es steht auch die Antwort auf die betonisierende gesellschaftliche Frage im Raum: Wer gehört wohin?

Suaden zum Zeitgeschehen

Es sind diese subtil ausgeloteten Beziehungen zwischen Text und Musik, die Antje Schupps und Gregor Brändlis "Revue 2020 – Zurück ist die Zukunft" sehenswert machen. Als Videostream der Festspiele Zürich ersetzt sie das eigentlich geplante Projekt, das als Riesenspektakel auf dem Züricher Münsterhof stattfinden sollte – im Schatten eines 30 Meter langen Zeppelins. Corona funkte dazwischen. Antje Schupp, die bei den diesjährigen Festspielen einen Förderpreis erhalten hatte, um dieses Projekt zu verwirklichen, musste umdenken und neu konzipieren. Es entstand ein ästhetisches Chamäleon, das sich "ein filmisches Essay in sieben Kapiteln" nennt: eine Revue aus sieben Kurzfilmen, die sich unterschiedlicher musikalischer Gattungen und Genres bedient: Song, Chanson, Schlager, Oper, Requiem – von allem ein bisschen, dazu mehr oder weniger einnehmende Suaden zum Zeitgeschehen. Und alles natürlich unter strenger, freilich ironisch gebrochener Erfüllung der coronabedingten Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln: Das Orchester wird durch eine Combo ersetzt, die Chöre agieren im Zoom-Konferenz-Modus, die SolistInnen auf Distanz, Requisiten werden desinfiziert und per Angel oder Müllzange überreicht.

Revue2020 Kapitel3 560 Revue2020 uEinsam auf weiter Flur: der Opernsänger © Revue 2020

Es galt, ganz im Sinne des Festival-Mottos, Parallelen zu ziehen zwischen der gerade eingeläuteten 20er-Dekade und den 1920er Jahren. Nichts einfacher als das, denkt sich die Conférencière: "Mehr Vulkan geht nicht" – angesichts der drohenden Klimakatastrophe, den Flüchtlingsdramen, der Pandemie und so weiter. Und sie zeigt sich verwirrt ob der Paradoxie unserer Zeit: Weltuntergangsstimmung stehe tiefer Hoffnung gegenüber, sozialer Zusammenhalt dem Erstarken autoritärer Regimes, es herrsche Aufbruchsstimmung und Stillstand, Tod und Frühling zugleich. "Es scheint alles irgendwie im Umbruch." Das Jahr sei gerade mal sechs Monate alt, und die ganze Welt stehe Kopf.

Die fantastische, charismatische Lisa-Katrina Mayer, die als Conférencière und Chanson- und Jazzsängerin brilliert und dabei des Öfteren vom fein ziselierend trommelnden Martin Gantenbein begleitet wird, offenbart sich als das perfekte Bindemittel zwischen den sieben Einzelfilmchen. Sie zieht alle theatralen Register: mit Eleganz und Derbheit, Introvertiertheit und Exaltiertheit, hinterfragendem Ernst und draufgängerischer Komik – mit wildem Locken-Bob, im Paillettenkleid, Burleske-Outfit, Frack oder pitschnasser Tunika.

Revue2020 Kapitel3 Mayer 560 Revue2020 uConférencière Lisa-Katrina Mayer © Revue 2020

Ihre Partylaune muss im vorgeschriebenen leeren Raum verpuffen, aber einmal darf sie OpernkollegInnen treffen: Im Kulissenlager, immer auf Abstand ("Wir dürfen hier nur zu zweit stehen"), besäuft man sich mit Champagner, singt "Im Feuersturm der Reben" aus Strauss' "Fledermaus", nachdem schon die Chöre – zugeschaltet per Zoom-Tool und ebenfalls beschwippst – den Comedian-Harmonists-Schlager "Ein bisschen Leichtsinn kann nicht schaden" zum Besten gegeben haben.

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