Pappkameraden kennen keine Schuld

von Michael Wolf

Berlin, 2. April 2019. Bla bla bla – so lassen sich die Gespräche bei diesem Abendessen zusammenfassen. Sechs Freunde lästern über gemeinsame Bekannte, produzieren sich mit ihren politischen Ansichten, loben Filme und die eigenen Konsumentscheidungen. Die Buzzwords lauten "Manufactum", "Immobilie" oder "lecker!". Die Sechs sind Überlebende einer aussterbenden Mittelschicht, Angehörige der "Latte Macchiato-Fraktion", gut situierte Berliner zwischen 30 und 40, die sich ihre Spießigkeit noch nicht eingestanden haben.

Egales Plappern

Thomas Ostermeier bringt Maja Zades "Abgrund" an der Berliner Schaubühne zur Uraufführung. Das Setting erinnert an Yasmina Rezas Stücke, aber Zade unterläuft diese Erwartung. Sie hetzt keine konkurrierenden Weltsichten aufeinander und reißt niemandem eine Maske herunter. Was sollten das auch für Masken sein? Die Figuren sind, was sie sind, und das ist nicht viel. In einer Regieanweisung heißt es: "die szenen können dialogisch aufgeteilt werden – ich habe mir 6 figuren (3m, 3f) und ein kind (ein 5 jahre altes mädchen) vorgestellt, es geht aber auch mit weniger schauspielern". Der Text darf also beliebig vergeben werden, unterschiedliche Sprechweisen sieht er nicht vor. Die Botschaft ist deutlich: Angehörige dieser auf Selbstverwirklichung getrimmten Gruppe heucheln Individualität nur. In Wahrheit sind sie so konform wie stumpf. Der Gastgeber (Christoph Gawenda) kocht gern; Stefan (Moritz Gottwald) arbeitet an der Universität und mag Horrorgeschichten, Anna (Isabelle Redfern) litt mal an Flugangst. Alle aber sind sie egal. Ihr Text ist das Plappern von Pappkameraden.

abgrund 1 560 copyarnodeclairProst, Ihr Nasen! Isabelle Redfern, Laurenz Laufenberg, Alina Stiegler, Moritz Gottwald  © Arno Declair

Zade will die Oberflächlichkeit einer Klasse zeigen, ihre Selbstzufriedenheit, ihre Wohlstandsverwahrlosung. Die Figuren haben den Kontakt zum Tiefen verloren, zum Unverständlichen, zum Leid. Es ist wohl Zades eigenes Milieu, und auch das des Publikums. Nicht aus Versehen spickt sie ihren Text mit reichlich Theater-Bezügen ("ich weiß nie wie man das schreibt, cast-orf oder mit d, cast – dorf, also mit dorf wie ort"). Es bleibt aber fraglich, wenn nicht fragwürdig, warum sie für diese Unterrichtsstunde in Selbsterkenntnis ein Kind opfern muss. Denn das ist die Katastrophe, die über den netten Abend hereinbricht. Die fünfjährige Tochter des gastgebenden Paares wirft ihre Schwester aus dem Fenster. Die Eltern trauern nun stumm. Die Freunde bieten Hilfe an, doch als die Mutter des toten Mädchens bei ihnen anruft, gehen sie nicht mehr ans Telefon.

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