Die versteinerten Kinder

5. Oktober 2022. Der Neoliberalismus hat die Entsolidarisierung vorangetrieben. Aber muss man das so hinnehmen? Wäre es nicht besser, sich die Gesellschaft und das Theater in ihrer Mitte als Tisch vorzustellen, an dem Viele Platz nehmen? Dortmunds scheidende Chefdramaturgin Sabine Reich denkt über ein freieres, offeneres, vielfältigeres Stadttheater nach.

Von Sabine Reich

"Erinnerst du dich noch an unsere Spiele / Alle verstecken sich, einer muss warten / Gesicht am Baum oder an einer Wand / Die Hand über den Augen, bis der letzte / Seinen Platz gefunden hat, und wer gesehen wird / Muss um die Wette laufen mit dem Sucher. / Wenn er zuerst am Baum steht, ist er frei. / (…) Und manchmal wird der letzte / Weil er zu gut versteckt ist, nicht gefunden. / dann warten alle, die versteinert dastehn, / jeder sein eigenes Denkmal, auf den letzten. / (…) Dann fällt die Auferstehung aus." (aus: Heiner Müller; Zement)

5.  Oktober 2022. Vor sieben Jahren habe ich mich schon einmal vom Theater verabschiedet und einen Text auf nachtkritik veröffentlicht mit dem Titel "Der blinde Fleck". Damals ging es um das Stadttheater, das sich selbst in den Blick nehmen sollte und seine eigenen Strukturen und Narrative kritisch zu hinterfragen habe. Nun könnte auch dieser Text "Der blinde Fleck" heißen, aber jetzt geht es nicht allein um die kritische Befragung des Theaters, sondern um das, wofür die Theater stehen und was sie repräsentieren: Es geht um ihr Verhältnis zur Stadt, zu dem Raum, den wir teilen. Oder nicht teilen. Das Theater kann von der Stadt träumen, die es nicht gibt, und es braucht die Stadt, um von sich selbst zu träumen.

Dionysos kehrt zurück. Er kehrt zurück in die Stadt, die ihn verachtet, die seine Mutter tötete, ihn nicht anerkennt und fordert nun Respekt. Zu Recht. Sein eigener Großvater und seine Tanten, die Elite der Stadt, haben ihn verraten. Sein Cousin, der König betont: "Frei ist jeder hier in dieser Stadt". Zu Recht. Die, die von der Stadt anerkannt werden, die dazu gehören, sind freie Bürger. Für alle anderen gilt dieses Freiheitsversprechen nicht. Es gilt nicht für Dionysos, den Pentheus in Ketten legen lässt.

Doch Pentheus beharrt auf seiner Wahrheit und so stehen sich zwei Wahrheiten und ein Freiheitsversprechen gegenüber. Unausweichlich nun die Tragödie. Die Freiheit des tanzenden, trinkenden Gottes muss vor den Toren, jenseits der Stadt erkämpft werden. Kann sich nur außerhalb und gegen diesen Raum, gegen diese Ordnung entfalten, weil diese Ordnung bereits der Fehler ist. Dionysos folgen die Bakchantinnen, Frauen und Mütter, die mit ihm die Stadt verlassen. Am Ende, als eine Mutter ihren Sohn tötet, bleibt Schuld. Die Stadt, die bereits schuldig wurde an Dionysos Mutter, an ihm, erkennt erst dann ihre Schuld, als sie das Eigene tötet, das, was sie liebt.

Leicht lässt sich diese Geschichte übertragen auf unsere Städte: "denn frei ist jeder hier in dieser Stadt", das sagen die, die frei sind. Und das sind nicht alle. Frei sind die, die sich ohne Angst in der Stadt bewegen, ohne willkürliche Polizeikontrollen, ohne rassistische, sexistische, diskriminierende Über- und Angriffe. Zwei Wahrheiten und ein Freiheitsversprechen, das für die einen gilt und für die anderen nicht. Versprechen der Aufklärung und des Humanismus, die darauf warten, eingelöst zu werden.

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