Gleicher Bus, gleiche Richtung

4. Mai 2022. Heute vor 15 Jahren ging nachtkritik.de online. Die Gründung war auch eine Reaktion auf ein sich veränderndes Verständnis von Kritik und Öffentlichkeit. Die Einbahnstraße Kritik sollte für den Gegenverkehr freigegeben werden. Wie sieht die Verkehrslage heute, fünfzehn Jahre später, aus?

Von Christine Wahl

4. Mai 2022. Heute vor fünfzehn Jahren, als nachtkritik.de an den Start ging, stand ich am Tresen der Bornemannbar im Haus der Berliner Festspiele. Das Theatertreffen war eröffnet worden, es herrschte Feierlaune, und plötzlich kam ein Schauspieler auf mich zu, drückte mir eine Flasche Bier in die Hand und begann, sich zu beschweren. Und zwar über mich. Detailreich setzte er mir auseinander, warum ich mit meiner Rezension zu einer Premiere, die kurz zuvor stattgefunden und die er ebenfalls besucht hatte, seiner Meinung nach meilenweit danebengelegen hätte.

Deutungsvielfalt als Relevanzfaktor

In nachtkritik-Termini ausgedrückt, war ich an diesem Abend auf "Gegenverkehr" getroffen. Analog und en miniature zwar, aber im Kern durchaus. "Gegenverkehr" gilt als zentrale Kategorie im nachtkritik-Kosmos. Vor fünfzehn Jahren, zum Gründungszeitpunkt dieses Portals, hatte die Kritik eher Einbahnstraßen-Charakter. Das Zeitalter des Printfeuilletons kannte kein Kommentarwesen; die gedruckte Rezension setzte unter ein ästhetisches Ereignis mehr oder weniger den diskursiven Schlusspunkt. Anderslautende Meinungen wurden – Stichwort Bornemannbar – höchstens mal im direkten Gespräch an Kritiker:innen herangetragen. Damit sie eine nennenswerte Öffentlichkeit erreichten, musste sich schon jemand die Mühe machen, einen Leserbrief zu schreiben – und jemand anders, ihn auch noch zu veröffentlichen.

Als role model indes war der Einbahnstraßenkritiker bereits eine aussterbende Spezies, als nachtkritik.de im Geiste des Web 2.0 von Esther Slevogt, Petra Kohse, Nikolaus Merck, Dirk Pilz und Konrad von Homeyer gegründet wurde. (Und das nicht nur, weil sich das Ende der Dienstwagen-Ära schon damals sachte abzuzeichnen begann.) Der großkritische Machtgestus erschien der durch die akademische Postmoderne sozialisierten Generation, die in den neunziger und nuller Jahren ins Berufsleben eingestiegen ist und zu der ich selbst auch zähle, fremd bis lächerlich. Nicht, dass nicht jede:r von uns recht haben wollte (bitte, wir sind Kritiker:innen!). Es gibt aber eine Überzeugung, die uns alle verbindet: Das ewig Plurale zieht uns hinan. Deutungsvielfalt bestätigt den Relevanzfaktor, erhöht mithin den Aufmerksamkeitsquotienten und adelt so letztlich alle Player im kulturellen Feld. Der Gewinner ist der Diskurs, das maximal perspektivenreiche Gespräch über die Bühnenkunst, bei der es sich ja, wie alle Jahre wieder in den Spielzeitheften der Theater nachzulesen ist, wahlweise um "das Experimentierfeld", "den Spiegel" oder "das Labor unserer Gesellschaft" handelt.

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