Das Klappern der Erinnerung

von Georg Kasch

Berlin, 28. Februar 2013. Letztlich ist das Alter eine Frage der Haare. Trägt Kurt sie voll und dunkel, bewegen wir uns vor dem Jahr 1970, werden sie heller und fisseliger, nähern wir uns der Wende. Vollglatze heißt: 2001. Das ist markant, eindeutig, hilft bei der Orientierung in einer Geschichte, die derart vor- und zurückspringt wie Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts".

2011 erschienen, erzählt er von vier Generationen einer Familie zwischen 1952 und 2001: Die Kommunistin Charlotte kehrt mit ihrem zweiten Mann Wilhelm aus dem Exil in Mexiko zurück nach Deutschland, um die junge DDR mit aufzubauen. Ihr Sohn Kurt hat in Russland den Gulag erlebt und macht jetzt Karriere als Historiker, ihr Enkel Alexander spürt zunehmend die Enge des Staates, ihr Urenkel Markus interessiert sich primär für Saurier. In seiner verschachtelten Dramaturgie wechselt Ruge immer wieder die Perspektive, kriecht in die Figuren, wertet nicht, sondern schildert die Welt aus ihren Blickwinkeln. Das sind nicht unbedingt die "Buddenbrooks", wie einige Kritiker jubelten, aber doch der faszinierend gewobene Beweis, dass das Private immer auch politisch ist – und umgekehrt.

Fundus der Geschichte

Ruge selbst, mit 14 Uraufführungen gestandener Theaterautor, hat die Fassung besorgt und Stephan Kimmig, den Uraufführungsregisseur, mit ausgewählt, nachdem er dessen Inszenierung von Über Leben gesehen hatte: Auch das eine Familienerzählung über Generationen, sensibel in den Raum der Geschichte gestellt, in dem die einzelnen Wandsegmente nicht recht ineinandergreifen wollten. Hier nun, wiederum von Katja Haß entworfen, verjüngen sich zwei multifunktionale Schrankwände, wie es sie ihn ihrer maßgeschneiderten Eleganz in der DDR auch mit besten Beziehungen kaum gegeben haben dürfte: Hinter den vielen Holzfächern und -türen warten Herd, Spüle, Telefon und Plattenspieler auf ihren Einsatz, und oben, auf den futuristisch geschwungenen Borden, finden sich nach der Pause plötzlich Nippes, kleine Vasen, auch eine Lenin-Büste. Was das Leben so ansammelt ...

Während hinten, unter einem Himmel voller Ost-Lampen (das abnehmende Licht?), die Schauspieler in einer Art Fundus der Geschichte auf ihren Einsatz warten, Perücken und Kleider wechseln, springt vorne die Handlung vor und zurück. Doch anders als in "Über Leben", wo das Vergehen von Zeit als knirschendes Drehen der Bühne Inszenierungsbestandteil wurde, fehlen "In Zeiten des abnehmenden Lichts" eine eigene Position, ein eigener Sound. Über die knapp dreieinhalb Stunden bleibt der Abend perfide neutral, stellt sich kein eigener Rhythmus, kein überzeugender erzählerischer Sog ein. Etwa in der Geburtstagsszene, wo Ruge fliegend zwischen Totale – den Gratulationen, Smalltalk, Reden – und den inneren Monologen Einzelner wechselt. Das plätschert alles lauwarm dahin, ohne dass Kimmig eine Entsprechung für diesen Mahlstrom an Gerüchen und Geräuschen, Geplapper und Gedanken finden würde.

Einzelne ragen heraus

Wenn die Regie auf einzelne Charaktere fokussiert, versinkt um sie meist alles in stummes Schauen. Einzelne ragen dann heraus. Margit Bendokat etwa macht als russische Babuschka das, was sie immer macht, und zwar hinreißend: Mit staunend-schleppender Stimme klaubt ihre wunderliche Alte hellsichtig Witz aus den Worten und stemmt sich doch selbst beim Singen der russischen Lieder erfolgreich gegen eine reine Illustrierung. Oder Christian Grashof als 150-Prozent-Kommunist Wilhelm: Jede seiner Gesten stellt er in äußerster, schmerzhaftester Repräsentanz aus. So wird das Plattenauflegen wie das Gurkenessen der Phrasenhülle auf zwei Beinen zum grotesken Schaustück.

inzeiten1 560 arnodeclair hAlexander Khuon und Bernd Stempel  © Arno DeclairAuch die andern halten sich tapfer, die Hauptrollen sind ja durchweg prominent besetzt, aber sie stemmen sich zu wenig entschieden gegen den klippklappernden Roman-Fortgang, der hier trotz Verschachtelung ein wenig an ein TV-Familiengeschichtsstündchen erinnert, obwohl Kimmig kaum kontextualisiert: Einmal bellen Wende-Tondokumente aus den Lautsprechern, dann wieder brennen im Schwarzweiß-Fernseher vor Mexikofolklore die New Yorker Türme.

Merkwürdig undeutlich bleibt bei allem Alexander Khuons Alexander. Mit Bart und im grünen Parka sieht er aus wie ein ewig junger Che Guevara, ringt aber ziemlich stoffelig um seine persönliche Freiheit. Als Einziger ist er auch bei Abwesenheit anwesend. Vielleicht, weil auch im Roman alles auf ihn als Erzähler hinausläuft, vielleicht, weil er, nachdem er in den Westen geflohen ist, dennoch in den Köpfen aller spukt. Möglich, dass er bei entsprechender Schärfung für diesen Abend eine Schlüsselfigur hätte werden können. Vielleicht.

 

In Zeiten des abnehmenden Lichts (UA)
von Eugen Ruge
Für die Bühne bearbeitet von Eugen Ruge in der Fassung des Deutschen Theaters Berlin
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Dramaturgie: Juliane Koepp. Mit: Christian Grashof, Gabriele Heinz, Margit Bendokat, Bernd Stempel, Judith Hofmann, Alexander Khuon, Elisabeth Müller, Markus Graf, Lasse Stadelmann / Lenz Lengers.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Volker Trauth sagt in Fazit auf Deutschlandradio Kultur (28.2.2013), Eugen Ruge bewahre den Perspektivwechsel und die Zeitsprünge des Buches, genauso wie die Tiefschnitt-Methode, dass er Motive durch die Zeiten hindurch durchdekliniere. Die Bühne vermeide jedes Milieu, Kimmig habe versucht, viele Theatermittel einzusetzen, um den Abend lebendig zu machen. Wenn aber Situationen aus verschiedenen Perpektiven wieder erzählt würden, entstünden Längen. Großes Spiel von Christian Grashof und Margit Bendokat als Altkommunist und russische Schwiegermutter. Abstriche bei anderen Figuren. Das Stück sei ein Gewinn für das Theater, wenn man solche Schauspieler habe wie das DT.

Für Eberhard Spreng ergibt der Abend in der Sendung "Kultur Heute" vom Deutschlandfunk (1.3.2013) kein schlüssiges Mosaik. Zu verschieden sind aus seiner Sicht "die Spielkulturen, zu unverbunden die Fragmente auf der familiären Beziehungslandkarte."

Harmlosigkeit bescheinigt Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (2.3.2013) der Inszenierung. Aus seiner Sicht ist auch von Anfang an "der Wurm der nacherzählenden Zähigkeit drin". Auch zeige sich gleich in der ersten Szene, was dieser Bühnenversion des preisgekrönten Romans fehle: "Eine angemessene Figurenzeichnung, eine schlüssige Perspektive, überhaupt so etwas wie ein Zugriff, der das Geschehen für die Bühne noch einmal neu erfindet." Die Stärke des Buches liegt für diesen Kritiker in den "plastischen Innenwelten, im Rumms der Figuren und ihrem emotional stark gefärbten Blick auf die Welt, aber nicht in ihrer konventionellen Beschreibung".

"Diese Tadellosigkeit ist leicht ermüdend", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.3.2013.) "Man kuschelt sich in die Konsensdecke, fühlt sich nicht unwohl, sieht den nicht unsympathischen Leuten dabei zu, wie sie dreieinhalb Stunden handwerklich famoses DDR-Erinnerungstheater spielen."

Unentschieden findet Irene Bazinger von der FAZ (2.3.2013) die Inszenierung, die sie als Nacherzähltheater bezeichnet. Regisseur Stephan Kimmig versucht aus ihrer Sicht, "die sachlich-kühle Distanz, mit der Eugen Ruge seinen Roman geschrieben und nun selbst dramatisiert hat, auf extra sanften Regiepfoten abzumildern". Über drei Stunden dauere "die gemütlich sich entwickelnde, nichts überstürzende Inszenierung". Neben "erheblichen Längen" und schauspielerischen Schwächen setzt Bazinger auch den "seltsamen Kuschelschluss" des Abends auf ihre Mängelliste, "bei dem Alexander alle Gespenster seiner Vergangenheit in die Bühnenmitte winkt und der Reihe nach abküsst."

Allzuoft verbreite sich an diesem Abend "schwarz gerahmter Leerlauf", gibt Reinhardt Wengierek in der Welt (2.3.2013) zu Protokoll. Zuweilen sieht er gar "eine bleierne Hilflosigkeit" regieren, "die womöglich gemeint war als Versteinerung angesichts entsetzlicher Fakten." Die vornehmlich monologischen Auftritte sind aus seiner Sicht "allerdings derart stark, dass sich kleinliche Gedanken verbieten."

"Stephan Kimmig versucht es am Deutschen Theater Berlin mit dem Mut zur zugespitzten Karikatur" beantwortet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.3.2013) seine Frage, wie sich Ruges Familiengeschichte auf die Bühne bringen lasse. "Mit dieser Klischeeverflachung und der Entsorgung in die leicht zu belächelnde Peinlichkeit tut Kimmig seinen Figuren Unrecht." Der abrupte Wechsel zwischen den Zeitebenen, der Ruges Roman strukturiere, werde "zum diffusen, unkonturierten In- und Nebeneinander der Zeiten". Lob bekommen Bernd Stempel und Margit Bendokat.

 

Kommentare  
#1 Zeiten des abnehmenden Lichts, Berlin: innehalten, zu sich kommenkappes 2013-03-02 17:11
es wird deutlich, dem regisseur kimmig geht es mehr um fragen des lebens und der ars vivendi, als den fragen der kritik nach der kunst und ihren theoretischen diskursen... ihm geht es mehr um das ensemble, die generationen als um den solisten...er will ein innehalten und fragt wie wir denn so leben...und meint das ganz persönlich...er fragt nach dem menschen der längst unter die räder gekommen ist und doch lebt, leben muss, leben will...er sehnt sich nach einem theater des innehaltens, des zu sich kommens...
dass die rolle von a. khuon, in der er dank maske/kostüm vom familiären che guevara zum gestrandeten robinson crusoe wird, nicht aufgeht, liegt an der krebskonstruktion. während sich die familie an weltbildern/ideologien/heimat etc abarbeitet, scheint sein krebs nicht als wirklicher gemeint, sondern überdeckt symbolisch ein krankwerden an der geschichte/ der familie oder die ohnmacht im umgang mit dem verschwinden der weltbilder/ideologien/ heimat und der immer körperlicher werdenden erfahrung der leere, der sich weder autor, noch regie und schon gar nicht der schauspieler wirklich stellen.
der familiäre/schauspielerische umgang mit dem geschenkpapier öffnet einen erfahrungsraum, persönlicher und geschichtlicher art von erschreckendem vergnügen. selten so gesehen.
#2 Zeiten des abnehmenden Lichts, Berlin: gut sodeuthe 2013-03-05 02:14
Natürlich war die "bleiernde Hilflosigkeit" ein Mittel der Inszenierung. Natürlich wirkt alles an diesem Stück hilflos und lang. Gewollt, geübt, bewusst gestaltet. Der Zuschauer sollte nichts als die Frage im Kopf haben: "was ist da eigentlich los"... es ist von Grund auf alles verkehrt, und das ist gut so. Es gab keine Perspektive für diese Familie, für keinen ihrer Mitglieder. Ich habe oft daran gezweifelt, ob dieser Roman als Theaterinszenierung funktioniert. Und er tut es, wenn man sich eine Geschichte erzählen lässt und kein revolutionäres Polittheater erwartet. Und auch keine Neuigkeiten aus der Geschichte. So ist es gewesen, und Stephan Kimmig und Eugen Ruge lassen uns das nicht vergessen, ich betrachte es als Erinnerungstheater und es ist gut so.
#3 Zeiten des abnehmenden Lichts, Berlin: Scharniere quietschen Sascha Krieger Prospero 2013-03-24 12:38
Kein Rhythmus, wenig Ideen, keine Haltung: Stephan Kimmig misslingt der Zugang zu Ruges Roman fasst völlig, was im Buch so großartig wirkt - die Zeitsprünge, die Multiperspektivik - ist hier schwerfällige Behauptung, die Scharniere quietschen durchgängig. Es ist einzig und allein dem Ensemble - allen voran Grashof und Bendokat zu verdanken, dass der Zuschauer von Zeit zu Zeit aus dem Halbschlaf gerissen wird, dass die "große" Geschichte in den ganz "kleinen" Geschichten plötzlich lebendig aufscheint. Ansonsten ist das leider weitgehend uninspiriertes Nacherzähltheater.

Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2013/03/24/polternd-durch-die-weltgeschichte/
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