Stille Inbrunst lauter Rufe

von Anne Peter

Berlin, 3. März 2009. Was zuletzt im Licht bleibt, ist ein Lautsprecher – und eine Stimme. Der, dem sie gehört, verschwindet langsam im Dunkeln. Der Apparat überdauert den Menschen. Dieser Schluss fasst das, was den Anstoß für "Radio Muezzin", den neuesten Recherchentheaterabend von Stefan Kaegi, gab, in einer Szene zusammen: In Kairo, Stadt mit 30.000 Moscheen, sollen nach dem Willen des Ministers für religiöse Angelegenheiten im nächsten Jahr nicht mehr die Stimmen ebenso vieler Muezzine gleichzeitig von den Minaretten aus zum Gebet rufen, sondern nur noch die eines einzigen, die über einen Radiosender von den Moscheen empfangen werden kann: Ein- statt Vielstimmigkeit, Zentralisierung statt Kakophonie.

Wo am Ende also nur eine Stimme aus dem Dunkel klingt, sind es am Anfang noch vier. Aus verschiedenen Richtungen, vorn auf der Bühne und an den Seiten des Zuschauerraums im HAU 2 tauchen sie auf. Jene letzte Stimme gehört Mohamed Ali Mahmoud Farag, Zweitplatzierter bei den Weltmeisterschaften im Koranrezitieren und Gewichtheber mit Uni-Abschluss in Jura und Islamwissenschaften.

In seiner Heimat ist er ein Star, gehört zu jenen 30 Auserwählten, die der prestigeträchtigen Tätigkeit auch nach den geplanten Veränderungen noch werden nachkommen dürfen. Und ist einer der fünf Alltags-Experten, die Rimini Protokollant Kaegi diesmal auf die Theaterbühne geladen hat. Diese ist ganz mit Gebetsteppichen ausgelegt sowie mit Ventilatoren und grünen Neonröhren versehen – typische Moschee-Ausstattung in der ägyptischen Hauptstadt.

Der Abend produziert seine eigenen Lücken

Die Biographien der Beteiligten ergänzen und kontrastieren einander: vier Muezzine stehen einem Ingenieur und Radio-Fachmann gegenüber, den es stört, dass man momentan von seiner Wohnung aus mehrere verschiedene, nicht unbedingt wohl zusammenklingende Muezzin-Stimmen hört. Der verwitwete Elektriker mit dem weißen Vollbart, der durch einen Unfall seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte und so zum Gebetsausrufer wurde, versteht nicht recht, warum man ihn das nicht auch in Zukunft tun lassen will, wo er dafür doch ohnehin nicht extra bezahlt wird. Der blinde Koranlehrer plädiert dafür, das Geld, das in die Technik investiert werden soll, besser in die Ausbildung schöner Muezzin-Stimmen fließen zu lassen, und der ehemalige Panzerfahrer, der heute die Moschee-Teppiche staubsaugt, möchte es lieber Behörden und Wissenschaften überlassen, eine Meinung zu haben.

Über die politischen Motive des Stimmen-Zentralisierungs-Vorhabens, über die Kaegi vorher in einem Interview sprach, dass nämlich der Staat auf diese Weise den Leuten in den Stadtrandbezirken, wo die Extremisten besonders stark sind, "das Mikrofon aus der Hand nehmen" wolle, erfährt man leider nichts. Sind das die Konzessionen, die Kaegi gegenüber der ägyptischen Politik machen musste? Oder wollte er einfach seinen Experten das Wort überlassen und ihnen keinen womöglich westlich gefärbten Kommentar aufzwingen? So produziert der Abend seine eigenen Lücken in der Fülle an Information, die er für hiesige Theaterbesucher doch bereithält.

Was das Gebet vom Tage übrig lässt

Im Zentrum stehen die Menschen, deren Arabisch auf Deutsch und Englisch übertitelt wird. Womit Kaegi das ins Blickfeld rückt, was in unserer öffentlichen Wahrnehmung, die Fanatismus-fixiert ist, oft zu kurz kommt. Sie erzählen, ineinandermontiert, ihren von den fünf Gebeten bestimmten Tagesablauf. Einer schlummert nach dem ersten Gebet noch mal ein, ein anderer muss am Abend noch in seine Bäckerei, in der er die zweite Hälfte seines Lebensunterhaltes verdient. Sie sprechen über ihre Bärte und über die Gebetsmale, die durch das Beten auf der Stirn entstehen können. Die szenischen Gesten lässt Kaegi sparsam setzen: Pantomimen der rituellen Waschung, die Abfolge des Sich-Vorbeugens und Nieder-Kniens, Gebetsrufe in alle vier Himmelsrichtungen.

Für jeden Muezzin ist ein individueller Stuhl und im Hintergrund eine Leinwand reserviert, auf der private Fotos oder Aufnahmen aus Kairo zu sehen sind. Bilder der Arbeitsplätze, Bilder von großen Menschenmengen, die auf offener Straße niederknien. Nicht gezeigt werden sollen hier übrigens, so singt der blinde Muezzin, Esel, Hunde, Müll – und Schauspieler.

Es ist ein sympathisch unaufgeregter, manchmal allzu behutsamer Abend, der leise daherkommt, obwohl so viel – und schön! – gesungen wird. Man dürfe die Rufe der Muezzins nicht als Lärm bezeichnen, heißt es. Das käme einem auch gar nicht in den Sinn. "Radio Muezzin" konzentriert sich im übertragenen wie im wörtlichen Sinne ganz auf die Stimmen der Muezzine und auf die Musikalität ihrer Gebetsrufe, auf die lang gehaltenen Vokale, das leicht vibrierende Auf- und Ab, die Ernsthaftigkeit und stille Inbrunst der Vorträger. Immerhin fragt man sich, ob einer Stadt wie Berlin, in der über 200.000 Muslime leben und es rund 100 Moscheen gibt, nur ganz wenige davon repräsentativ mit Kuppel und Minaretten ausgestattet, nicht etwas verloren geht, indem sie laute Gebetsrufe verbietet.

 

Radio Muezzin
von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)
Arabisch mit deutscher und englischer Übertitelung
Konzept und Regie: Stefan Kaegi, Komposition und Musik: Mahmoud Refat, Video: Bruno Deville, Shady George Fakhry, Bühne: Mohamed Shoukry.
Mit: Abdelmoty Abdelsamia Ali Hindawy, Hussein Gouda Hussein Bdawy, Mansour Abdelsalam Mansour Namous, Mohamed Ali Mahmoud Farag, Sayed Abdellatif Mohamed Hammad.

www.hebbel-theater.de

 

Mehr über Stefan Kaegi lesen Sie in der Kritik zu seiner Arbeit mit Airport Kids (gemeinsam mit Lola Arias), die letzten Juni in Lausanne herauskam. Im November 2007 zeigten Kaegi und Arias in München ihr Polizistenprojekt SOKO São Paulo.

 

Kritikenrundschau

"Wofür dankt der Beifallspender an diesem Abend?", fragt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (5.3.2009). "Für die schönen Stimmen der Ägypter? (...) Dafür, dass sie die grünen Neonröhren an den Minaretten auswechseln und ihre Moscheen sauber halten?" Oder gar bei der Wirklichkeit, dass die fünf Leute auf der Bühne das sind, was sie sind? "Das hieße, sich mit ihr einverstanden erklären. (...) Aber wäre es nicht doch kritikwürdig, dass zum Beispiel der überaus nette Hussein Gouda Hussein Bdawy, Gebetsverrichter zweiten Ranges, beim Religionsunterricht die Kinder schlägt, die ihre Suren nicht auswendig gelernt haben?" Die Welt bleibe reicher, mutmaßt Seidler, wenn man ihre Erscheinungen nicht gleich einsortiert. "Insofern ist das Rimini-Theater, dessen Besonderheit Dramaturgen zu durchziselierten theoretischen Ergüssen hinreißt, eigentlich etwas ganz Einfaches und Praktisches: Tourismus im Sitzen - Tourismus der sanften Art natürlich, bei der das Interesse an Wohlwollen geknüpft ist."

Anlass für den Abend ist eine Entscheidung, nach der im nächsten Jahr der individuelle Gesang der Muezzins in Kairo abgeschafft und durch einen zentralen Ausrufer im Radio ersetzt werden soll, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz (5.3.2009). "Um ihre Arbeit brauchen sie dennoch nicht fürchten. Wie die Zuschauer von dem ungleichen Quartett erfahren, hat ein Muezzin verschiedenste Aufgaben in einer Moschee zu verrichten. Sie arbeiten hauptsächlich als Hausmeister, die aufschließen, mit dem Staubsauger die Teppiche reinigen und während des Gebets die Schuhe bewachen." Sie erzählen von sich, von ihrer Arbeit und ihren Familien, "nicht über Religion, sondern über ihr Leben - oder über das, was sie von ihrem Leben preisgeben möchten." Fazit: "Mit 'Radio Muezzin' hat Kaegi ein Stück über einen Ausschnitt der Kairoer Gesellschaft gemacht, der berufsbedingt eher selten auf Bühnen zu sehen ist. Wie beiläufig geht es dabei auch um den Islam als Religion, allerdings vermittelt durch einen sozialen Rahmen, der einen nüchternen Blick gestattet."

Matthias Heine berichtet in der Welt (6.3.2009) von einer Bedingung der Muezzine: "Es dürften keine Schauspieler mitwirken". Dabei beweise "Radio Muezzin", "dass jeder ein Schauspieler wird, sobald er eine Bühne betritt". Mit den fünf Mitwirkenden gehe "eine subtile Verwandlung vor, die ihnen selbst nicht ganz klar sein mag, die aber unübersehbar wird. Und lustigerweise korrespondiert die Größe ihrer Bühnenpersönlichkeit keineswegs mit ihrem Rang in der religiösen Hierarchie." Heine resümiert, dass "Radio Muezzin" "ein Ausflug in den ruhigen, fast banalen Alltag des Islams" sei – "jenseits aller westlichen Gruselbilder und aller östlichen Erregungen. (…) Nur manchmal, wenn etwa der Blinde erzählt, dass er seine begriffsstutzigen Koranschüler schlägt, klafft plötzlich ein kultureller Abgrund."

 

Kommentare  
#1 Radio Muezzin: das Eingeborenendorf durchlaufenGerd Koch, Berlin 2009-03-11 23:25
Ich will mich ärgern und ungerecht sein

Eine Polemik von Gerd Koch, Berlin

„Radio Muezzin“ von “Rimini Protokoll” war für einige Tage auf ‘Sendung’ in Berlin, im HAU
(einer vorzüglichen, innovativen, sehr zu schätzenden location). Ich habe dieses Radio zum Sehen und zum Hören auf der Bühne nicht besucht. Ich habe über „Radio Muezzin“ gelesen und in Berliner und überregionalen Rundfunk-Sendern gehört: positive Meldungen; gute Überlegungen seitens des Radio-Muezzin-Produzenten.

Warum nun bin ich nicht zu „Radio Muezzin“ gegangen? Weil ich mich geärgert habe. Weil ich schon beim Lesen von Vorab-Berichten und Hören von Rundfunkberichten allergisch reagierte: Gut gemeint das Ganze – aber Bertolt Brecht war so frei, mir mein Stichwort zu geben: „Gut gemeint ist das Gegenteil von gut.“


Zeitlich weit vor meiner Geburt gelegen gastierte das Hamburger Tierhandels-Unternehmen von Carl Hagenbeck mit seinen Völkerschauen auch in Berlin, z. B. im Zoologischen Garten: „ ... wenn einen Besucher ob der eigenen Schaulust das schlechte Gewissen plagte, konnte er sich damit beruhigen, dass den Auftritten ein wissenschaftlicher Anstrich verliehen worden war: Häufig wurden die exotischen Gäste vermessen, fotografiert, geröntgt, ihre Sprache, Lieder und Tänze aufgenommen ... “ (Rita Gudermann, unter Mitarbeit von Bernhard Wulff: Der Sarotti-Mohr. Berlin 2004, S. 65 f.)

Und was sagt uns Wikipedia gemeinverständlich zu Völkerschauen? „Die Inszenierung … konnte man teilweise mit Theateraufführungen vergleichen. Deshalb wurden bevorzugt Artisten, Gaukler und Handwerker nach Deutschland gebracht. Alle Teilnehmer mussten gesund und kräftig sein. Es gab drei Typen der Völkerschauen: Zum einen das ‚Eingeborenendorf’, das der Zuschauer durchlaufen konnte, dann Schauen mit geregelten Abläufen der Vorführungen und den freak shows, bei denen stark auf die körperliche Andersartigkeit gegenüber den Europäern hingewiesen wurde. Oft gab es aber auch Mischformen. Wichtig waren auch passende Kostüme und aufwendig gestaltete Bühnen und Kulissen, die ein Bildnis der Heimat darstellten.“ (mein Zugriff vom 7. 3. 2009)

Eine weitere Assoziation: Ich habe im Zirkus sehr gerne die sog. Orientalischen Nächte oder arabischen Fantasias in der Manege betrachtet, ja erlebt, darin die Feuerspucker, die Schlangenbeschwörer, die ruhig daher trottenden Zebu-Rinder oder das wie verirrt wirkende Flusspferd, dann die sog. Berber – von denen jeder wusste, dass es die schlecht bezahlten marokkanischen Zeltarbeiter waren … Später las ich dann beim Philosophen Ernst Bloch, dass so etwas wohl Kitsch sei, aber auch ein Sehnsuchts-Bedürfnis sich melde, ein Traum-Signal – etwas, das von der Manege ausgeht, und eines, das von mir ausgeht: „Volksvergnügen ohne Pause“, „Gaukler treten auf, doch ohne Gaukelei“, „Vorstellung“, „Massenschau“; „Bild der Sensation“, „Südsee in Jahrmarkt und Zirkus“ – das sind Stichworte von Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, Band 1, S. 421 – 426). Ja, im Zirkus wird Orientalismus vor- und ausgestellt, ganz schamlos inszeniert – und eben das nicht verschwiegen. Wunsch-Reise & Reise-Wunsch. Keine Experten des Alltags, keine Ich-Vertreter in der Manege. Keine Völkerschau mehr, sondern: Hier wird gezeigt, was Theater, was szenisches Arbeiten, was Kunst und Artistik (ja eben: Art-istik) vermögen, zu geben vermögen. Alle Achtung.

Wie gesagt: Ich war gar nicht beim „Radio Muezzin“. Ich wollte mich ärgern und ungerecht sein. Kann mir noch geholfen werden?
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