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Europäischer Dramatikpreis für Caryl Churchill zurückgezogen

1. November 2022. Die britische Autorin Caryl Churchill wird nach Antisemitismusvorwürfen doch nicht mit dem Europäischen Dramatiker:innen Preis ausgezeichnet, berichtet Die Zeit. Nach nochmaliger Beratung am gestrigen Montag habe die Jury ihre Entscheidung aus dem April revidiert. Grund seien neue Informationen zur Autorin, die der Jury zuvor nicht vorgelegen hätten.

Das Gremium reagiert damit auf Kritik an Churchill, die zuerst vom journalistischen Portal ruhrbarone.de vorgebracht und vom Grünen-Politiker und Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Volker Beck aufgegriffen wurde, wie die Stuttgarter Nachrichten meldeten. Beck hatte Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) aufgefordert, seine Schirmherrschaft der für den 20. November 2022 vorgesehene Preisvergabe im Staatstheater Stuttgart zurückzuziehen.

In seiner Forderung stützt sich Beck auf Recherchen des journalistischen Netzwerks Ruhrbarone, das jüngst dargelegt hat, wie sich Caryl Churchill öffentlich in der internationalen Israel-Kulturboykott-Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) engagiere. Zudem weise ihr Stück "Seven Jewish Children", das Churchill 2009 nach einer militärischen Intervention Israels in Gaza veröffentlicht hatte, antisemitische Tendenzen auf. Es war bereits nach seiner Londoner Uraufführung 2009 von Vertreter:innen der jüdischen Gemeinde kritisiert worden, schreibt Die Zeit.

Der Europäische Dramatiker:innen-Preis ist mit 75.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre vom Staatstheater Stuttgart mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg für ein dramatisches Gesamtwerk verliehen. Der Jury gehörten (wie im Jahr 2020) an: Barbara Engelhardt (Intendantin Theater Maillon, Straßburg), Peter Kümmel (Theaterkritiker und Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit), Peter Michalzik (Autor, Vorsitzender der Jury), Petra Olschowski (damalige Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) und Thomas Ostermeier (Regisseur und Künstleri­scher Leiter der Schaubühne Berlin).

(zeit.de / ruhrbarone.de / stuttgarter-nachrichten.de / chr)

Mehr zum Thema: Mehrere Medien kommentieren den Fall Churchill. Hier geht es zur Zusammenfassung der Stimmen.

 

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Kommentare  
#1 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Schlechtes LichtVage 2022-11-02 07:28
Hier wird nun also bereits zugesagter Preis aberkannt, weil die Jury im Rahmen ihrer Beratung nicht ausreichend recherchiert hatte... Wusste die betreffende Autorin, dass sie den Preis im April nur "auf Probe" erhalten hatte? Bei solch einer Summe ist das ein ziemlich verantwortungsloses Vorgehen.
Auch wenn die Vorwürfe stimmen, hat die Autoring "Seven Jewish Children" ja nicht erst kürzlich veröffentlicht, die Kontroverse hätte also von vornherein in die Entscheidung einbezogen werden müssen, nicht erst auf öffentlichen Druck hin. (...) Insgesamt wirft das ein ziemlich schlechtes Licht auf diesen hochdotierten und dadurch auch wichtigen Autor:innenpreis.
#2 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: PeinlichZeitungsleser 2022-11-02 08:17
Ich traute beim Lesen meinen Augen kaum. Das ist wirklich ein unfassbar peinlicher Vorgang, der dann auch noch katastrophal schlecht kommuniziert wird: Es gäbe "neue Informationen zur Autorin, die der Jury zuvor nicht vorgelegen hätten"? Was von den Vorwürfen, die im Raum stehen, war denn im April noch nicht bekannt? Das Stück "Seven Jewish Children" stammt von 2009!!! Und aus ihrem politischen Engagement hat die Autorin nie einen Hehl gemacht. Die Erklärung, aus wessen Feder sie auch immer stammen mag, hält wohl die Leser:innen für unterbelichtet.
Man sollte der versammelten Jury und der im Staatstheater Stuttgart ansässigen Dramaturgie mal deutlich die Leviten lesen; am besten auch gleich den Damen und Herren in den Ministerien, die das mit 75000 Euro (!!!) Steuergeldern fördern, dringend raten, einer solchen Jurytätigkeit gewissenhafter und mit ordentlicher, sorgfältiger Recherche nachzukommen. Diese Form der Ignoranz und Nachlässigkeit macht einen ja richtig sprachlos!
Aber es ist wie so oft in der Politik: Große Ankündigungen, Stuttgart will ganz vorne dabei sein und verleiht gleich einen europäischen Preis, da werden große Reden geschwungen, riesige Plakate und Ankündigungen gedruckt und wenn es dann schief geht, weil das Ganze eben doch nicht so richtig ernsthaft durchgezogen wurde, verstecken die Damen und Herren sich hinter billigen Phrasen. Schafft den Preis ab und gebt das Geld an besserer Stelle aus!
#3 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Wovon die Rede istThomas Rothschild 2022-11-02 09:19
Für alle, die nicht bloß nachplappern, sondern wissen wollen, wovon die Rede ist: image.guardian.co.uk/sys-files/Guardian/documents/2009/02/26/churchill.pdf
Am Tag, an dem die Rückkehr von Netanyahu an die Macht wahrscheinlich geworden ist.
#4 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: EinsichtJ.N. 2022-11-02 16:50
Was hat jetzt Netanyahu damit zu tun?
Im übrigen vermute ich doch, dass es nicht an Informationen gemangelt hat, sondern an Einsicht.
Nun ist es eben jemandem aufgefallen, der es nicht so locker nimmt mit dem bds.
#5 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Unheimliche AktualitätThomas Rothschild 2022-11-02 18:49
"Nun stehen die Chancen gut, dass Israel eine Regierung bekommt, die ausschließlich aus rechtskonservativen bis rechtsradikalen und streng religiösen Parteien bestehen wird. Israelische Araber, die immerhin ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, wären darin gar nicht vertreten. Frauen wären in dieser Regierung stark unterrepräsentiert." der Standard, 2.11.2022. Liebe(r) J.N., verleiht das dem Text von Caryl Churchill nicht eine unheimliche Aktualität? Aber abgesehen davon: soll die Vergabe von Dramatiker*innen-Preisen davon abhängig gemacht werden, ob man mit deren Ansichten übereinstimmt? Sollte man den Nobelpreis für Knut Hamsun posthum (!) zurückverlangen?
#6 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Preis beschädigtLuchino Visconti 2022-11-02 19:58
Auch ich weiß noch immer nicht, was Netanyahu damit zu tun haben soll oder inwiefern irgendwelche Spekulationen einer link(sliberal)en österreichischen Zeitung über die Linie der künftigen israelischen Regierung mit dem Dramatikpreis zusammenhängen. Dieser Preis ist auch nicht der Nobelpreis, schon gar nicht in der Dotierung, Hamsun ist tot und Churchill lebt, es wird auch kein längst verliehener Preis zurückverlangt. Allerdings erinnert mich die Erwähnung von Hamsun und Churchill daran, dass es Selbstgerechtigkeit, politische Ahnungslosigkeit und Antisemitismus sowohl bei Rechten wie bei Linken immer schon gab. Jedoch ist es in der Tat so, dass eine Jury kompetent arbeiten und zu eigenen Entscheidungen stehen sollte. Zuerst etwas zu tun und sich sehr viel später sowie in letzter Sekunde quasi von seinem eigenen Tun wieder zu distanzieren ist ein nicht allzu seriös wirkendes Hü-Hott. Sondern peinlich. Der Preis wurde damit beschädigt. Obwohl er enorm wichtig wäre, gerade in Zeiten, wo allzu oft Regie- und Dramaturgie-Leute glauben, ohne fachkundige Hilfe selbst „Stücke“ verfassen zu können.
#7 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Propagandaskarab 2022-11-02 22:39
@5 --> kleine Korrektur: Israelische Araber könnten sehr gut in der neuen Regierung vertreten sein, wenn Balad mit der Vereinigten Liste eine Wahlgemeinschaft gebildet hätte, sowie Meretz mit der Arbeiterpartei. So fielen beide kleineren Parteien unter 3,25%, und die Stimmen waren de facto verloren.

Warum der äusserst knappe Wahlsieg von N. dem Text eine "unheimliche Aktualität" verleiht finde ich nach Lektüre (danke NK) unklar. Das Stück bleibt - untypisch für die Autorin - platte Propaganda.
#8 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Irrationaler HassJ.N. 2022-11-03 06:34
Vielleicht ist der letzte Kommentar verloren gegangen, also nochmal:
Der Nobelpreis ist mir egal, allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass Günter Grass ihn nicht erhalten hätte, wäre seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS schon damals bekannt gewesen. Ulkigerweise konnte auch dieser sein Herz nicht für Israel erwärmen.
Nun ist dort zufällig gerade gewählt worden, und keiner weiß, wie lange es diesmal hält. Es ist ja auch völlig egal, was Juden tun oder nicht tun. Antisemiten werden immer etwas finden, das ihren irrationalen Hass bestätigt, zur Not wird gelogen. Beim bds ist das genauso, die wollen kein anderes Israel, die wollen gar kein Israel: "from the river to the sea, palastine will be free".
#9 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Nicht zuträglichKunstundFreiheit 2022-11-03 12:26
Ich fände es ja - und dies seit Jahrzehnten - wahnsinnig hilfreich, würde einmal darüber Klarheit verschafft werden, dass Israelis nicht gleich Juden sind, Semiten nicht zwangsläufig Israelis, und demzufolge auch nicht jeder, der gegen die israelische aktuelle Politik etwas einzuwenden hat, ein Anti-Semit sein kann.
Wenn klar würde, dass Zionisten traditionelle bis sektiererische Jahwisten sein können und solche auch aus völlig anderen Ländern nach Israel strömen können, z.B. aus Amerika. Und dass die Zuwanderer deshalb auch nicht unbedingt wirklich Zionisten sein müssen, die glaubenskriegerisch innerhalb des Judentums als Religion auf einem bestimmten Wohnort beharren, der eher in Palästina liegt, sondern auch Menschen sein können, die sich der politischen Einfachheit halber zwar auf den Zionismus berufen, imgrunde aber landnehmerische Absichten verfolgen...
Ich finde es ganz erstaunlich, wie einfach es sich gerade Intellektuelle hier in der moralischen Beurteilung machen! Seit Jahrzehnten. Sogar einfach in der Beurteilung anderer Beurteilenden- Das spricht moralisch nicht für sie und nicht gegen sie, sondern einfach für eine allgemein gewordene Denk- und historische Forschungsfaulheit. Beides ist Intellektuellen und ihrem öffentlich wirksamen Schaffen nicht eben zuträglich.
Ich finde nicht, dass der Preis beschädigt wurde. Jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als andere Preise es inzwischen auch wurden. Ich finde, dass die Mitglieder der Jury beschädigt wurden bzw. sich selbst haben beschädigen lassen.
#10 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Fehlentscheidung Nicht-Deutscher 2022-11-04 17:58
Ein Engagement für BDS kann antisemitisch motiviert sein, muss aber nicht.

Der Text «Seven Jewish Children - a Play for Gaza» enthält Elemente, die für eine "Israel-Kritik" verwendet werden können, er enthält aber keinen "Antisemitismus".

Schade, dass man den Ruf einer hervorragenden Dramatikerin mit dieser Fehlentscheidung ramponiert.
#11 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Breaking The SilenceFrank-Patrick Steckel 2022-11-05 22:11
Es gibt, neben dem BDS, auch noch die Organisation BTS (= Breaking The Silence); sie besteht aus israelischen Soldaten, die in der Okkupationsverwaltung der israelischen Armee arbeiten oder gearbeitet haben und erfahren haben, wie dieser barbarische Vorgang einer jahrzehntelangen Besatzung aussieht und was er bewirkt. Und dagegen protestieren. Churchill Stück ist "a play for Gaza" - die Adressaten sind aber eben auch wir Europäer, die zu diesem Vorgang nichts zu sagen haben, insbesondere die Deutschen, die offenbar immer noch der Meinung huldigen, ihre bedingungslose Unterstützung der israelischen Apartheid-Politik diene der "Wiedergutmachung", und was die linkshassenden "ruhrbarone" und Herr Beck zu sagen haben, sei tapferster Antisemitismus. Es ist aber nur teutonischer Unfug - der immer dann zum Vorschein kommt, wenn Deutschland, wie Frau Merkel erklärt hat, Israel zu einem Element der deutschen Staatsräson erhebt. Es ist heillos.
#12 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Völliger QuatschJ.N. 2022-11-06 13:52
Es mag müßig sein, trotzdem darf man das auch hier nicht so stehen lassen. Es ist so widerlich, von israelischer Barbarei zu sprechen, während die Hamas mit verschenkten Süßigkeiten jeden erfolgreichen Mord an Israelis feiert.
Völliger Quatsch auch, dass in Europa niemand etwas sagen würde.
Das mit der Apartheid bezogen auf Israel wird auch nicht richtiger, je öfter es wiederholt wird.
Ich weiß nicht viel von Israel, aber deutschem Antisemitismus kenne ich gut genug, um ihn auch versteckt in der vorletzten Reihe zu erkennen, wie er heimlich andere bei ihrem offenen Hass auf Juden bewundert.
#13 Dramatikpreis-Rückzug Churchill: Es nervt!Dirk Laucke 2022-11-07 11:02
Dass insbesondere im Kulturbetrieb (israelbezogener) Antisemitismus immer noch als gängige Meinungsäußerung durch zu gehen scheint, nervt einfach nur unglaublich. Churchills Stück ist seit langem bekannt. Ebenso wie bei Äußerungen und Vorgehen von Anhänger*innen der BDS-Kampagne kann hier trefflich die 3D-Regel von Nathan Sharansky angewendet werden, die israelbezogene Kritik auf Antisemitismus prüft: Die Grenze zum Antisemitismus ist überschritten, wenn Doppelstandarts angelegt werden, Delegitimierung und Dämonisierung stattfinden. Der ewige Vergleich mit dem NS oder der Apartheid, das Füllen mit antisemitischen Bildern (Baby-Mörder, Baden in Blut und die anderen ollen mittelalterlichen Kamellen) tun ihr Übriges. Dass viele Engagierte des BDS diese Grenze sehr oft und weit überschreiten (und wortwörtlich die Abschaffung Israels fordern), stellt doch auch die Frage, wie man in so einem Verein ernsthaft mitwirken kann?! Etwa deswegen, weil man - wie Judith Butler - glaubt, die islamistische Hamas befinde sich auf Seiten der globalen Linken? Wie kann man das nur von einer klerikalfaschistischen Organisation behaupten, in deren Gründungscharta die Schuld an beiden Weltkriegen den Juden in die Schuhe geschoben wird? An dieser Stelle wird sich doch ganz deutlich von Links verabschiedet. So, das war mein Senf dazu. Mir reicht's schon.
Vielleicht ein Hinweis auf die zahlreichen Künstler*innen, Kollektive und Einzelpersonen, die sich gegen JEDEN Antismitismus aussprechen: artistsagainstantisemitism.org
Alerta.
#14 Dramatikpreis Rückzug: Reflexhaftmartin baucks 2022-11-07 18:05
Ständig wird nur reflexhaft an der Oberfläche gekratzt.
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