Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Narrative ohne Zukunft
Nationales Storytelling
1. November 2022. Vieles was heute immer noch als unverrückbares Element deutscher Kultur gilt, wurde erst im 19. Jahrhundert überhaupt Teil des nationalen Storytellings. Was davon ist eigentlich noch zukunftsfähig? Fragen, die sich jüngst wieder bei einem Besuch der Wartburg stellten.
Von Esther Slevogt

1. November 2022. Neulich war ich zum ersten Mal auf der Wartburg, jenem Monument deutscher Identitätsstiftung. Seit der Schulzeit war der Bau durch meine Vorstellungswelt gegeistert – durchaus toxisch besetzt als zwiespältige Angelegenheit zwischen demokratischem Aufbruch und rechtsnationalistischer Verkrustung. Jetzt bin ich endlich mal hingefahren.
Eine Melange aus Fakten und Fiktion
Ihren Ruhm als Nationalmonument verdankt die Wartburg bekanntlich der Tatsache, dass hier der Reformator Martin Luther im 16. Jahrhundert als Übersetzer des Neuen Testaments die hochdeutsche Sprache erfand und dreihundert Jahre später Studenten der Universität Jena in Memoriam Luthers und seiner deutsche Identität stiftenden Tat beim ersten Wartburgfest ein einheitliches und demokratisches Deutschland forderten. Zu Institutionalisierung ihrer hehren Ziele hatten die Studenten sich damals zu einer Burschenschaft zusammengeschlossen. Die Erfüllung ihrer Ziele dauerte, wie wir wissen, noch eine ziemliche Weile. Heute wecken hier in Rudeln herumstehende Burschenschaftler in vollem Ornat allerdings eher Zweifel, ob sie noch immer so löbliche Absichten wie dereinst verfolgen. Überhaupt stellen sich beim Besuch der Wartburg verschiedene Fragen zu kultureller und nationaler Identität. Und wie es damit eigentlich weitergehen kann, welche Geschichte(n), Institutionen und Monumente dafür überhaupt noch tauglich (also rettbar) sind. Aber fangen wir von vorne an.
Denn die Wartburg, die da als Behauptung Jahrhunderte alter deutscher Geschichte über dem Thüringer Wald thront, hat ihre heutige Gestalt erst im 19. Jahrhundert erhalten. Noch als beim Wartburgfest im Jahr 1817 auf einer Flagge erstmals auch die heutigen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold in Erscheinung traten, blickte die Burg auf eine ziemlich lange Existenz als Ruine zurück. Erst danach begann ihr Wiederaufbau, der eigentlich ihre Neuerfindung war: als sie im damals in lauter Kleinstaaten zerrissenen Deutschland zum Center-Piece eines neuen nationalen Storytellings wurde. Die prachtvollsten und historisch aussagestärksten Säle auf der Wartburg sind sogar erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden: als Kaiser Wilhelm II. hier die nationalistische Ausschmückung (und tendenzielle Fiktionalisierung) des Orts in völlig neue Dimensionen trieb – unter anderem inspiriert von Richard Wagner, aber auch von byzantinischen Sakalbauten, weshalb die Wartburg eine eklektizistische Melange aus historischen Fakten und sie ausmalender Fiktion (nicht zuletzt aus dem Geist des Theaters) ist. Dabei aber daher kommt, als sei das, was hier erzählt wird, ewige, unumstößliche Wahrheit.
Die alten Narrative ächzen
So bietet die Wartburg bestes Anschauungsmaterial zu vielen akuten Themen unserer unter Druck geratenen (sogenannten) Leitkultur, während man die vielen Säle durchstreift, die von einer Führerin emphatisch als Zeugen glorreicher deutscher Geschichte, Kultur- und Geistesgeschichte seit dem Mittelalter gepriesen werden: "Auf diesen Steinen stand schon Goethe!", sagt sie einmal, der die nationale Bedeutung des Ort natürlich auch bezeugen musste. Auch der bürgerliche Bildungskanon, der gerade im Zeitraffer verfällt, ist ja in der gleichen Zeit wie die Ausgestaltung der Wartburg entstanden. Nun ist er alt und welk geworden, sein Relevanzverslust erschüttert altehrwürdige Kulturinstitutionen.
Denn die alten Narrative ächzen unter dem Komplexitätsanspruch heutiger Identitätskonstruktionen und verlieren deshalb ihre verbindendes und identitätsstiftendes Potenzial. Bei ihrer Überlieferung wird auch gern ignoriert, was nicht der gewünschten Wahrheit dient. Dass etwa beim Wartburgfest auch eine frühe Bücherverbrennung stattgefunden hat. Oder Martin Luther Juden hasste und ihre Synagogen brennen sehen wollte. Die "Judensau" am Dom der "Lutherstadt Wittenberg" darf aber als Zeugnis nationaler und religiöser Identität dort verbleiben, statt ins Museum oder besser noch in den Giftschrank der Geschichte zu wandern. Mit ähnlichem Impetus wie gegen die Demontage des obszönen und beleidigenden Reliefs wehren sich viele gegen die Entfernung diskriminierender und beleidigender Formen und Vokabeln aus Büchern und Sprachgebrauch, weil sie das für einen unverbrüchlichen Teil ihrer Identität und Geschichte halten.
Deutschnationales Neuschwanstein
Wie aber Identität und Geschichte überhaupt konstruiert und ausgemalt werden, das ist am Beispiel der Wartburg, diesem deutschnationalen Neuschwanstein, exemplarisch zu studieren. Deswegen sind sie weder ewig gültig noch unverrückbar.
Das alles kann und muss verändert und weiterentwickelt werden. Dazu braucht es nicht zuletzt ein neues Storytelling, wenn gelingen soll, diese Themen und Geschichte(n) samt ihrer Protagonist*innen in die Zukunft zu führen – dass Orte wie die Wartburg eines Tages nicht nur noch von Rechten besucht oder ihnen allein als ideologische und identitätsstiftende Referenzpunkte dienen. Das gilt für unseren Kanon warscheinnlich auch.
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Den schönsten Blick auf die Wartburg hat man, wenn man die Drachenschlucht bis ganz nach oben geht, wo der Rennsteig beginnt, auch wenn er noch nicht danach aussieht - gibt nett Abstand zum völkischen Generalverdacht gegenüber thüringischer Heimatliebe oder ähnlich. Und was den Goethe angeht: der war halt überall, ich habe mich ziemlich geekelt mein Lebtag, dass noch an jedem Türstein in Weimar zu stehen scheint: "hier saß Goethe am ... sturzbetrunken und erdachte den Weg zur Steinin nach Kochstedt" - ich habe mir das erst abgewöhnt, nachdem ich im schönen absamistisch durchgekitschten Mittenwald vor einem Hausportal auf einer schön barockisierten Gedenktafel las, dass ebenda Goethe einst genächtigt hätte - so habe ich Schmunzeln gelernt über allns vordergründig Völkische und Habacht vor allem vordergründig Anti-Völkischen-
Über den Judenhass vom Luther ließe ich mir allerdings gern was Neues erzählen, schließlich war Jesus ein Jude, wenn auch vermutlich ein Essener Orthodoxer? Da darf man fragen, was genau wohl Luthers tiefste Motivation war, die Bibel ins Teutsche zu übertragen?