Das Alleinstellungsmerkmal des Theaters

18. Oktober 2022. Die Gesellschaft wird immer älter und mit ihr das Publikum. Einige Intendanzen versuchen gegenzusteuern. Sie umwerben mit politischen Programmen gezielt jüngere Zuschauer:innen. Ein riskanter Plan.

Von Michael Wolf

18. Oktober 2022. Vor einigen Wochen habe ich das Buch "Die Altenrepublik" gelesen. Der Autor Stefan Schulz beschreibt darin die vielfältigen Probleme und Konflikte, die mit der demographischen Entwicklung einhergehen. Eine gesellschaftliche Herausforderung vergleichbar mit dem Kampf gegen die Erderwärmung stehe uns bevor. Es geht bei dem Thema um weitaus mehr als Rente und Pflege. Auch das Theater wird von der Alterung nicht verschont bleiben, seltsamerweise spielt sie in den Debatten aber kaum eine Rolle. Dabei kann man viele Konflikte auf sie zurückführen oder zumindest vor ihrem Hintergrund betrachten. So etwa die Diskussion um das Schauspielhaus Zürich, das zuletzt in mehreren Medien harscher Kritik ausgesetzt war. Der Vorwurf lautet, die Leitung vergraule mit ihrem (identitäts)politischen Programm das angestammte Publikum und komme dessen ästhetisch konservativen Wünschen nicht nach. Ähnlich lautete die Argumentation vor kurzem bereits in Dortmund und Bochum. 

Mehr als die Hälfte über 50

Man darf davon ausgehen, dass die wegbleibenden konservativen Zuschauer zum großen Teil den älteren Jahrgängen angehören und darüber hinaus, dass diese Jahrgänge die Mehrheit des Publikums bilden. Tibor Kliment, Professor für Empirisches Medien- und Kulturmanagement, warnte schon im Jahr 2016, das Publikum altere deutlich schneller als die gesamtgesellschaftliche Entwicklung es erwarten lasse. Seiner Studie zufolge waren 56 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer des Jahres 2015 über 50 Jahre und ein gutes Viertel sogar über 65 Jahre alt.

Diese Kohorten können wahrscheinlich – sofern die Theater ihre Spielpläne an sie anpassen, gezielt um sie werben und in ihren Häuser auf Barrierefreiheit achten – auch noch mittelfristig für volle oder zumindest halbvolle Säle sorgen. Doch früher oder später werden sie nicht mehr kommen. Man kann mithin jene Programme, die Zuschauer derzeit in Zürich und anderswo in die Flucht schlagen, als Versuche verstehen, sich an den Wünschen der Jüngeren zu orientieren. Es ist sicher nicht verfehlt, bei ihnen ein gesteigertes Bedürfnis nach politischer Verortung zu vermuten. Die Debatte lässt sich somit – ganz nüchtern betriebswirtschaftlich gedacht – als Wettstreit zweier Strategien beschreiben. Die eine will die Bestandskunden kurzfristig halten, auch wenn klar ist, dass sie mittelfristig verloren sind. Die andere will Neukunden werben und hofft, sie langfristig an das bereitgestellte Angebot zu binden. Der einen fehlt die Zukunft, der anderen die Gegenwart.

Unterschätzung des Ästhetischen

Der Plan, neue Zuschauer zu erreichen, muss nicht zwangsläufig daran scheitern, dass es viel weniger Junge als Ältere gibt, da vor allem Gebildete ins Theater gehen und in den späteren Jahrgängen die Akademiker-Quote weitaus höher liegt als in den früheren. Er ist allerdings deutlich riskanter, da man leichter ein bestehendes Publikum verliert als ein neues hinzugewinnt. Zudem ist es nicht unwahrscheinlich, dass Theaterleitungen, die heute diesen Weg beschreiten, gar nicht in den Genuss der Früchte ihrer Arbeit kommen: Weil ihr Programm lange braucht, um Jüngere ins Parkett zu locken, und im Zweifel sogar länger als sie selbst das Sagen haben. Wenn Intendanzen, die Neues versuchen, Eitelkeit und Ignoranz unterstellt wird, könnte es sich dabei tatsächlich um Mut und Verantwortungsgefühl handeln, da sie auf kurzfristigen Erfolg verzichten, um die Attraktivität des Theaters langfristig sicherzustellen.

Jedoch: Das bringt alles nichts, wenn das Ästhetische unterschätzt wird. Es mag sein, dass ein identitätspolitisches und klimabewusstes Programm eher auf der Linie der Jüngeren liegt, die in dieser Hinsicht politisierter oder zumindest engagierter sind als die Älteren. Doch dieses Engagement kann sich an vielen Orten erweisen und bestätigt sehen. Vor allem im Vergleich zu digitalen Räumen ist das Theater viel zu träge, um sich zur Verhandlung politischer Sachverhalte anzudienen. Eine emanzipatorische Agenda kann in anderen Räumen und Netzwerken viel besser abgebildet, kommuniziert, organisiert und demonstriert werden. Zuallererst aus dem stupiden Umstand, dass man ein Theater körperlich aufsuchen muss. Selbst wem das bequem möglich ist, wird sich fragen, warum er oder sie das im Jahr 2022 aufgrund politischer Motive tun sollte?

Auf die Kunst kommt es an

Das Alleinstellungsmerkmal des Theaters ist nicht die politische, sondern die unmittelbar wahrgenommene ästhetische Handlung. Sie ist, schnöde gesagt, der USP des Produkts. Man kann diese Erfahrung weder in sozialen Netzwerken, politischen Foren oder auf Demonstrationen machen. Von ihr hängt die Zukunft des Theaters ab, weil alles andere, was die Theater auffahren, spielend und besser von anderen Medien und Institutionen bereitgestellt werden kann. Anders gesagt: Ich glaube, dass die Qualität und Innovationskraft der Kunst entscheiden wird, wie lange Menschen noch bereit sein werden, ins Theater zu gehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man diese unpolitisch halten muss oder sollte. Wohl aber, dass es ein Fehler sein dürfte, sie als Medium zur Vermittlung von Botschaften oder Forum für Diskussionen zu verstehen. So wird man nicht nur die ältere, sondern auch die jüngere Generation verlieren.

Kommentare  
#1 Kolumne Wolf: GrauKarger Markus 2022-10-18 09:12
Hallo, schade daß sie hier eine graue und nicht tiefschwarze Schrift nehmen.
Leider ist das für Menschen mit einer Sehbehinderung nicht gut lesbar.
#2 Kolumne Wolf: VerdrehungenDieter Schmidt 2022-10-18 09:21
Ach, ach, Herr Wolf. Sie und ihr Freund Simon Strauß wiederholen ja gerne die gegenseitigen Denkfehler, aber das hätte ich nicht erwartet: in diesem Theatertreffen-Jahrgang wurde die 10er-Auswahl ja sogar noch von der ach so unabhängigen Kritiker*innen-Jury als bemerkenswert ausgewählt, und sie wissen sehr genau, welches Stück aus Bochum das Festival eröffnet hat. Wenn darin Politik verhandelt worden sein sollte, dann die aus Dantes Lebzeiten, aber in keiner mir untergekommenen Betrachtung war dies Thema. Ästhetisch vielschichtiges Theater wird auch in Zürich auf jeden Fall geboten, dito in Dortmund. Ob die Neuvertonung des Rings Ihnen gefällt weiß ich natürlich nicht, aber so jung ist Black Cracker mit seinen 45 Jahren auch nicht. Die Debatten, die sie auf der Bühne verorten, finden in beiden Theatern und auch an anderen identitätspolitisch ihre Einstellungspolitiken überdenkenden Bühnen zumeist gerade dadurch statt. Wenn die Theater tatsächlich zur moralischen Anstalt werden, wird diese Moral zudem eher zur Debatte gestellt als ausdiskutiert präsentiert. Oder lesen sie keine Schichten in „Like Lovers Do“ (Sivan Ben Yishai, uraufgeführt an den Kammerspielen München in der Inszenierung der aller gegenwärtigen Debatten bewussten Pınar Karabulut) und keine moralische Positionen in der „Jungfrau von Orléans“? Sie argumentieren an der Realität vorbei und merken nicht, auf wessen Mühlen sie Wasser geben. Oder haben Sie schon vergessen, wer Julia Wissert in Dortmund angreift? Dies geschieht aus politischem Interesse, nicht aus ästhetischer Betrachtung, wie sie genau wissen. Wen wollen sie hier mit ihren Verdrehungen eigentlich für blöd verkaufen?
#3 Kolumne Wolf: TransformationDramaturg 2022-10-18 10:41
Lieber Michael Wolf,
seit Jahren ist uns unser Auftrag mehr als bewusst, "neue" Zuschauende zu gewinnen ohne die "alten" zu verlieren - oft (un-)begleitet von einer wenig kompetenten Kulturpolitik und im geringer werdenden Mitteln für Kommunikation und Vermittlung. Dabei weiß jede*r angehende Unternehmensberater*in, wie entscheidend Dialog, Teilhabe und strategische Planung für erfolgreiche Transformation sind. Seitdem lokale Sparkassenchefs nicht mehr selbstverständlich ein Abonnement des lokalen Stadttheaters haben und der Pausensekt als Distinktionsmittel taugt, bewegen sich unsere Intendant*innen irgendwo zwischen den beiden von Ihnen beschriebenen Strategien.
Leider reiht sich der Text ein in eine Reihe von feuilletonistischen Einlassungen der letzten Zeit, die uns pauschal ein "falsches" Programm zuschreiben, um den an vielen Stellen verheerenden Publikumsschwund zu erklären.
Kurz und radikal vereinfacht gesagt: Zuviel Identität/Politik/Postdramatik vs. Zuwenig "klassisches" dialogbasiertes Geschichten erzählen.
Dabei kommen bei Ihnen und Ihren Kollegen Strauss/Laudenbach/Keim etc. leider zentrale Punkte zu kurz:
- Gerade die Institutionen abseits der Zentren, die eben ein konservativeres Programm anbieten müssen, leiden am meisten unter fehlendem Publikum, während beispielsweise die Berliner Theater in der Mehrzahl gut dastehen.
- Sowohl "junges Publikum" als auch ältere Menschen sind in sich sehr heterogene Gruppen. Oft sind es Schüler*innen und Studierende, die relativ konservative Erwartungen haben und im Sinne des Theaters als moralischer Anstalt einen klassischen Nathan mit Palmen und Message to go erhoffen. Währenddessen erwarten erfahrene Zuschauende nach dem x-ten Brecht mal einen erfrischenden Zugang. Ebenso haben die deutschen Bühnen viele Jahre an migrantisch situierten Menschen vorbeioperiert, die nun, teilweise in der Rente, ein starkes Bedürfnis nach kulturellen Angeboten haben und als Anspruchsgruppe unbedingt in den Fokus rücken sollten
- Identitätspolitik und Breitenwirksamkeit sind keine Widersprüche, wie unter vielem anderen Selen Karas Istanbul und Yael Roenens Slippery Slope unterstreichen
- Theaterbesuche scheitern oft nicht an "falschem" Programm, sondern an unfreundlicher Ansprache an der Theaterkasse, der Unsicherheit der "richtigen" Kleidung und fehlender Begleitung (so banal ist das manchmal)
- "die unmittelbar wahrgenommene ästhetische Handlung" ist nicht der USP des Theaters - die erlebe ich auch im Zoo oder im Stadtmuseum. Doch während ich dem dösenden Gorilla und dem mittelalterlichen lokalen Pflug vollkommen egal bin, bekomme ich im Idealfall im Theater eine gemeinschaftlich gemeinte Kunsterfahrung.
#4 Kolumne Wolf: USP TheaterClaus Günther 2022-10-19 22:27
USP Theater
Theater zehrt von der Live-Erfahrung. Theater ist kulturelles Identitätserlebnis. Theater ist auch – ich bestehe darauf – Bildungskanon.
Damit Theater Spaß macht (bei Oper und Konzert ist es übrigens ähnlich), muss man sorgfältig auswählen und den Besuch vorbereiten. Wenn Einführungen angeboten werden, sind sie – ob in Berlin, Weimar oder Leipzig, wo ich Erfahrungen habe – meist gut besucht.
Was durchgehend fehlt, ist die Ansprache der Zuschauerin, des Zuschauers. Zu jeder Inszenierung gibt es kluge Gespräche: im Programmheft oder in den Medien. Das Theater müsste Wege finden, den Geist dieser Gespräche in den Alltag des Hauses - vor oder nach der Vorstellung oder in der Pause – zu tragen, niedrigschwellig. Um deutlich zu machen, wie wichtig Besucherinnen und Besucher für das Theater sind.
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