Ein Recht auf Unauffälligkeit

11. Oktober 2022. Wer kennt Martin Dibobe? Der erste Schwarze Zugführer war eine Ausnahmeerscheinung im Deutschen Kaiserreich – schlicht deshalb, weil er einen sichtbaren Alltagsberuf ausübte. "Normal" war und ist das bis heute nicht. Der Theaterbetrieb bildet da keine Ausnahme.

Von Natasha A. Kelly

11. Oktober 2022. Dass Rassismus in und durch Sprache reproduziert und transportiert wird, weiß die weiße Mehrheitsgesellschaft inzwischen, auch wenn es ihr nicht immer gefällt, dass einzelne Wörter in Kinderbüchern ersetzt werden (Pipi Langstrumpf) oder ganze Bücher vom Markt genommen werden (Winnetou) müssen. Und natürlich betrifft diese antirassistische Strategie Geschichten, die auch auf deutschen Theaterbühnen erzählt werden. Dennoch scheint das N-Wort noch nicht ganz ausgedient zu haben, sind antirassistische Aktivist*innen noch immer bemüht, sprachliche Rassismen auf deutschen Bühnen zu stoppen. Damit ist aber noch lange nicht Schluss. Denn wie beim Denken und Sprechen haben wir auch das Sehen vom weißen Mann gelernt. Daher reproduzieren wir mit unseren Sehgewohnheiten auch in deutschen Theatersälen – meist unbewusst – koloniale Kontinuitäten und müssten daher im nächsten Schritt auch unsere visuellen Praktiken ändern. 

Koloniales Erbe: Die Entertainmentindustrie

Im deutschen Kolonialismus gab es nur einen Ort, an dem Schwarze Menschen ungehindert arbeiten konnten, ohne dass ihre Anwesenheit in Frage gestellt wurde: In der Entertainmentindustrie. Viele von ihnen waren nicht einmal Künstler*innen und liebten auch nicht, was sie taten. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, blieb für viele aber kein anderer Ausweg, als den rassistischen Klischees zu entsprechen und sich für die Belustigung des weißen Publikums bezahlen zu lassen. Nacht für Nacht ging es mit einem breiten Grinsen hinter rot aufgemalten Lippen auf die Bühne. Noch dazu wurden Schwarze Schauspieler*innen schwarz geschminkt, um das Publikum im Glauben zu lassen, dahinter befänden sich Weiße. Denn war es Schwarzen Menschen auch verboten, weiße Bühnen zu betreten, auf ihre Karikaturen wollte das Publikum dennoch nicht verzichten.

Wer einen normalen Beruf ausübte, wie beispielsweise Martin Dibobe, der erste Schwarze Zugführer bei den Berliner Verkehrsbetrieben, erlangte zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnell Popstar-Status und übernahm unfreiwillig eine gesellschaftliche und politische Repräsentationsfunktion für alle im deutschen Kaiserreich ansässigen Afrikaner*innen aus den deutschen Kolonien. Dibobe setzte sich für ihre Gleichstellung ein, erntete aber dafür nicht immer nur Bewunderung. Als Deutschland mit dem Versailler Vertrag seine Kolonien abgeben musste und Dibobe wenig später auch seinen Job verlor, war er gezwungen, das Land zu verlassen. Seine Spur verliert sich in Liberia. Was von ihm bleibt, ist eine Fotografie, die ihn als stolzen Zugführer in Uniform zeigt. Sie hängt in der Eingangshalle des U-Bahnhofs Hallesches Tor in Berlin Kreuzberg, ohne dass jemand wirklich weiß, wie das Bild dahin gekommen ist und warum es dort eigentlich hängt.

Was es uns auch nicht verrät, ist die Komplexität seines Lebens als Schwarzer Mann im deutschen Kaiserreich, auch wenn er mit seiner Anstellung bei den Berliner Verkehrsbetrieben sicherlich eine Ausnahme bildete. Schauen wir uns die vielen Schwarzen Entertainer*innen seiner Zeit an, so ist auffällig, dass ihre Schwarzen Körper nicht dieselbe vermeintliche Neutralität genossen wie weiße Körper. Sie wurden in der Vorstellungswelt der weißen Zuschauer*innen zum Objekt stilisiert, auf das widersprüchliche kolonialisierte Imaginationen projiziert wurden. Was zurück bleibt ist die Tatsache, dass Schwarze Körper bis heute politisiert werden. Auf deutschen Theaterbühnen sind Schwarze Menschen gezwungen, stereotype Rollen anzunehmen – Ärzt*in oder Anwält*in spielen sie in der Regel nicht.

Rassifiziertes Wissen

Koloniale Kontinuitäten haben wir im Gepäck, ob uns das bewusst ist oder nicht. Und diese beeinflussen auch unsere Sehgewohnheiten. Indem wir sie mit jeder Inszenierung zu befriedigen suchen, sind wir aktiv daran beteiligt, den Kolonialrassismus visuell am Leben zu halten. Wer also glaubt, dass Schwarze Schauspieler*innen nicht die Rolle der Ärzt*in oder Anwält*in übernehmen können, tut genau dies.

Im deutschen Kolonialismus wurden Kunst und Kultur dazu instrumentalisiert, um das rassifizierte Wissen der Zeit nicht nur zu vermitteln, sondern auch, um es zu reproduzieren und zu legitimieren. Da Gesellschaften sich in der Kulturfrage als auch in der Kulturpraxis über die Zeit verändern, stellt sich die Frage, warum wir an diesen kolonialisierten Sehgewohnheiten festhalten wollen: Warum gehören rassistische Stereotype und Blackfacing immer noch zum Theateralltag in Deutschland? Warum werden sie nicht verboten? Kunst, Kultur und Gesellschaft haben sich immer über die Zeit verändert. Warum an alten Theaterpraktiken festhalten?

Einschränkung der Kunstfreiheit

In der kolonial beeinflussten Kulturpraxis werden Bedeutungen und ihre Kontextualisierungen auch durch Theaterinszenierungen verbreitet. Diese brachten bestimmte Subjekt- und/oder Objektpositionen hervor: Während weiße Menschen nie als weiße Menschen wahrgenommen wurden, sondern immer nur als Menschen, werden Schwarze Menschen nie als Subjekte, sondern stets als Objekte betrachtet. Ebenso wie Sprache durch die Nichtbenennung von weiß als Norm Rassismen reproduziert, werden auf diese Weise auf der Bühne rassistische Sehgewohnheiten reproduziert.

Die Folgen: dadurch, dass das Weißsein unsichtbar und unmarkiert bleibt, werden weiße Schauspieler*innen bis heute zu vermeintlich neutralen Körper stilisiert, die jede Rolle spielen können. Schwarze hingegen werden in ihrer Kunstfreiheit eingeschränkt, denn sie können in der Vorstellungswelt des weißen Publikums nicht jede Rolle übernehmen. Für sie sind lediglich bestimmte Klischeerollen vorbehalten. In "Black Skin, White Masks" (1952) schreibt der postkoloniale Vordenker Frantz Fanon von der Entfremdung der eigenen Schwarzen Selbstwahrnehmung, die weiße Blicke hervorrufen. Die weiteren Folgen sind psychologisch und führen dazu, dass Schwarze Schauspieler*innen zudem in ihrer Würde verletzt werden. Deutschland ist schon lange an dem Punkt, Theater "neu zu denken". Der Anspruch an alle Theatermacher*innen muss daher sein, antirassistisch, antisexistisch und intersektional zu sein, damit das Theater im 21. Jahrhundert ankommen kann.

 

Kommentare  
#1 Kolumne Kelly: FragenKlara 2022-10-11 23:32
(...) Wo passiert denn noch das sogenannte „Blackfacing" auf deutschen Bühnen? Das traut sich doch längst keiner mehr! Warum das nicht verboten ist, fragt Frau Kelly. Tja, wer soll es denn verbieten? Und wer kontrolliert, dass sich auch alle an das Verbot halten? Die Polizei in jeder deutschen Theateraufführung? Merken Sie selbst, oder? Fragen über Fragen…
#2 Kolumne Kelly: Belege?Zweifler 2022-10-15 11:09
"Auf deutschen Theaterbühnen sind Schwarze Menschen gezwungen, stereotype Rollen anzunehmen – Ärzt*in oder Anwält*in spielen sie in der Regel nicht." Gibt es dafür irgendwelche Statistiken als Belege? – Ich denke nicht. Seit Jahren sind die Theater hierzulande aktiv und entschlossen ihre Ensemble zu diversifizieren und das vielerorts mit großem Erfolg. Solche Aussagen stellen die Leistungen dieser Bewegung in Abrede und diskreditieren gerade auch die Arbeit vieler nichtweißer Künstlerinnen und Künstler. Vielleicht gehen wir alle mal wieder mehr ins Theater und schauen uns deren Arbeit an? Dann werden wir recht schnell feststellen, wie breit deren Rollenrepertoire inzwischen wirklich ist.
#3 Kolumne Kelly: Homöopathisches VeränderungenMascha 2022-10-15 13:23
Ich glaube Zweifler, Sie müsste einfach Ihren eigenen Rat befolgen und öfters ins Theater gehen. Dann würden Sie sehen, daß Natasha A. Kelly Recht hat. Sie diskreditiert nichts, sondern stellt einfach fest. Die homöopathischen Veränderungen, die aktuell an wenigen Häusern zu verzeichnen sind, sind weit weit davon entfernt, irgendeinen Mainstream zu erreichen.
#4 Kolumne Kelly: ErwiderungZweifler 2022-10-15 15:50
Liebe Mascha, schauen Sie mal nach Bochum / Dortmund / Karlsruhe / Kassel / Hannover / Oldenburg / Gießen / Bremen / Darmstadt / Nürnberg / Mannheim / Oberhausen / Schaubühne / Kammerspiele München / Resi / DT Berlin und natürlich ans Gorki. Als homöopatische Veränderungen würde ich das nicht benennen. Da zeichnet sich ein ganz anderes Bild. Vielleicht fragen wir da mal nach, ob die Künstlerinnen und Künstler dort gezwungen sind "stereotype Rollen anzunehmen" und "keine Ärzt*in oder Anwält*in" spielen dürfen. Sicher ist das ein Prozess, der noch längst nicht beendet ist, aber wenn Sie sich die Entwicklungen in den Schauspielschulen diesbezüglich ansehen, dann sieht man, dass es hierzulande eine sehr positive Entwicklung in Richtung diverserer Ensemble gibt. Und darüber kann man sich doch auch endlich mal freuen!
#5 Kolumne Kelly: Zuviel SchulterklopfenMascha 2022-10-16 11:25
@Zweifel. Für Ihr schulterklopfendes (Selbst?)lob scheint mir wenig Anlaß zu bestehen. Erstmal zählen Sie nur beliebige Städte auf, bleiben aber die Information schuldig, was da konkret jetzt passiert sein soll. Zum Beispiel in Karlsruhe - oder in Darmstadt, Gießen, Bremen oder dem Resi.
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