Don't cry. Work!

von Esther Slevogt

18. März 2020. Da haben wir nun den Salat, beziehungsweise das Virus. Plötzlich wird zum Existenzproblem, was das Theater stets als Alleinstellungsmerkmal stolz vor sich herträgt: die physische Kopräsenz. Die Anwesenheit echter Körper in einem echten Raum. Gegen die grassierende Ansteckungsgefahr hilft nicht mal, die vierte Wand wieder hochzuziehen. Zu spät. Unser bürgerliches Heldenleben findet jetzt auf unbestimmte Zeit hinter verschlossenen Türen statt.

kolumne 2p slevogtDas Corona-Virus ist in diesem März 2020, was für Kaiser Wilhelm Zwo im August 1914 der Erste Weltkrieg war: als er keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kannte, die fröhlich in den Krieg zu ziehen hatten. Jetzt macht das Virus aus Künstler*innen, Zuschauer*innen und Kritiker*innen gleichermaßen Verbannte von der öffentlichen Bühne. Verwirrt und ungekämmt (dafür mit gewaschenen Händen) sitzen wir jetzt vor unseren Rechnern und hoffen, dass aus dem world wide web Antworten in unsere Quarantäne dringen. Beobachten mit wachsender Wut, wie überall nicht nur das Virus, sondern auch ein ungeheurer Egoismus sich ausbreitet. Und decken uns dabei selbst heimlich und massenhaft mit Toilettenpapier ein. Als manifestierte sich in der Panik, mit der alle sich plötzlich darauf stürzen, nicht geradezu plakativ die buchstäbliche Angst um den eigenen A ...

Kein Theater, keine Kirche, keine Passionsspiele

Grenzen werden geschlossen, vor Krieg und Not geflüchtete Menschen in den griechischen Lagern ihrem Schicksal überlassen, um das Alleinverfügungsrecht an Medikamenten gekämpft, die noch nicht einmal existieren. Alle haben Angst, aber es dürfen keine Gottesdienste mehr stattfinden. Und Theater eben auch nicht mehr. Sogar die Passionsfestspiele in Oberammergau im Mai sind von der Absage bedroht. Dabei wurden sie 1634 aus Dank für eine überstandene Pestepidemie gegründet. Und nun knickt man aus Angst vor einem Virus ein? Ist das kein Widerspruch? Jetzt müssten die Spiele doch erst recht stattfinden, nähme man ihren Auftrag ernst. Und so läuft die Angst mit dem Virus um die Wette.

Und die Künstler*innen? Bangen um ihre Existenz. Die Kritiker*innen, die ihre Kunst reflektieren, ebenso. Und nachtkritik.de. Denn wir leben vom Schreiben über Theater. Ob wir dann noch leben werden, wenn die Theater irgendwann wieder spielen? Ob wir dann noch darüber berichten können? Oder werden wir tot sein? Pleite? Der Bildschirm schwarz. Weil eben ein System davon lebt, dass es ein System ist. Wenn nach und nach seine Teile wegbrechen und sich in die Vereinzelung verabschieden (müssen): Dann stirbt am Ende auch das System. Die Gesellschaft. Die Theaterlandschaft. Wir. Alle.

Retter*innen der offenen Gesellschaft

Doch Ihr Theater und Künstler*innen, die Ihr um Eure Existenz fürchtet – besinnt Euch: Ihr seid systemrelevant! Genauso wie es Ärzt*innen und Pflegekräfte, Apotheker*innen oder Supermarktverkäufer*innen, Kassierer*innen und Friseur*innen sind. Allerdings wird das niemand merken, wenn Ihr nur um Eure Gagen und Einnahmen fürchtet. Tut etwas! Kämpft! Ihr, die Ihr immer behauptet, die Welt besser als Euer Publikum zu kennen und zu verstehen. Jetzt könnt Ihr es beweisen. Macht Pläne, verbreitet Hoffnung, lest, musiziert und spielt den Menschen etwas vor. Erste Ansätze gibt es ja schon. Lasst uns den Gedanken der offenen Gesellschaft in Zeiten des Shutdown behüten. Hinschauen, erklären! Dass wir sie unversehrt zurück erhalten, wenn alles vorbei ist: unsere Freiheit, unsere Grundrechte. Und unsere Theaterlandschaft auch. Haben wir keine Angst, gehen wir an die Arbeit!

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?


Zuletzt dachte Esther Slevogt über angestaubte Fragen einer wichtigen Studie nach.

 

Kommentare  
#1 Kolumne Slevogt: eigentlich richtigKünstler 2020-03-18 09:59
Das ist natürlich ein richtiger Text. Eigentlich. Gemeinsam spielen, auf die Art und Weise wie Darsteller es tun ist für manche Sänger, Spieler, Musiker allerdings nicht möglich (manche müssen obwohl sie Angst haben), da sie nicht wie im (bspw.) Büro Abstand voneinander halten können! Kreativ bleiben soll und kann man aber! Unbedingt!
#2 Kolumne Slevogt: nächste WocheBjörn Lengers 2020-03-18 12:03
Liebe Esther,
zunächst Danke für diesen Text.
Zu allen Herausforderungen, die jetzt im Privaten und Institutionellen bestehen, kommt die Frage "Wie Theater ohne physisches Publikum spielen" vielleicht zum ersten Mal wirklich drängend hinzu. Mir ist allerdings "Krise als Chance" im Moment noch sehr zu früh, und auch alle fix aus dem Hut gezauberten Lösungsansätze. Im Moment sehen wir zu, wie eine Hochleistungsmaschinerie von jetzt auf gleich gestoppt wird. Darum erstmal Schadensbegrenzung.
Dann haben wir alle voraussichtlich mehrere Monate Zeit kreativ zu werden, für Neues. Dass Präsenzveranstaltungen mit hunderten Zuschauern vor dem Herbst wieder möglich werden, halte ich für unwahrscheinlich. 2020/21? Keine Ahnung.
Ich glaube nicht, dass Theater nur möglich ist, wenn ich "dieselbe Luft des Schauspielers atme". Aber es gibt derzeit auch nichts, was ansatzweise dasselbe Erlebnis vermittelt. Eine (von vielen) Aufgaben ist also, über befriedigende Alternativen nachzudenken. Noch mal neu zu denken, was ist, was Theater zu Theater macht? Wenn die "Luft" das knallharte Ausschlusskriterium ist, stehen wir mit leeren Händen da.
Insofern ja, gehen wir an die Arbeit. Vielleicht ab nächste, übernächste Woche.
#3 Kolumne Slevogt: nicht der Normalfallmartin baucks 2020-03-18 14:29
Man sollte das alles vom Leben her begreifen. Je mehr Impfstoffe Menschen entwickeln, um so mehr Viren werden sich entwickeln, die Resistenzen ausbilden. Das Leben variiert solange bis es überleben kann. Das gilt für uns und Viren zugleich. Auch wir betreiben keine andere Strategie. Es ist ein ewiger Kampf, der nie enden wird. Ob die jetzigen Maßnahmen für uns die Richtigen sind, muss sich erst noch erweisen. Wenn ja, sind sie für die Viren in jedem Fall falsch und sie werden abermals mutieren, um ihre Existenz zu sichern. Nichts anderes tun wir. Der Kern des Lebens aller Wesen besteht darin Fortzubestehen. Ob dieser Virus sinnvoll ist, angesichts einer so hohen menschlichen Population, darüber kann man ethisch nicht entscheiden. Statt einer Entscheidung ergreifen wir Maßnahmen. Niemand entscheidet sich leichtfertig freiwillig für den Tod. Und diejenigen, die ihr Leben fahrlässig gefährden, betrachtet die gefühlte Mehrheit als Idioten und ablehnenswert. Es entspricht nicht unserer modernen Ratio Katastrophen als positiv anzunehmen. Das ist verständlich. Fürchten wir doch im Allgemeinen den Tod zu recht.

Das diese Maßnahmen sich mit den politischen Wünschen einiger Menschen decken, lässt sich, im Angesicht einer Pandemie, nicht vermeiden. Grenzen, Theater, Kinos, Kirchen und Clubs schließen. Das haben sich verschiedene Gruppen aus unterschiedlichen Gründen schon oft gewünscht. Sie werden die Regeln der sozialen Distanz fälschlicherweise begrüßen und für sich als positiv annehmen, in der Hoffnung, dass etwas davon auch noch über die Katastrophe hinaus Bestand haben könnte. Achten wir also darauf, dass der Wiederherstellungspunkt nach der Pandemie der Selbe ist wie zuvor. Es darf keine Instrumentalisierung und keine Hoffnung darauf geben, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung eines Virus der Regelfall werden.

Die Clubs und Theater werden wieder öffnen. Momentan verlagert sich das Öffentliche in das Digitale. Das sollte nicht der Normalfall werden. Dies ist keine Übung für die neue Ausgestaltung unserer Zukunft. Wir werden in den Alltag zurückkehren und wieder feiern und jubeln und glücklich und kritisch sein, kreativ und leidenschaftlich, auch wenn das Einigen nicht gefallen wird.
#4 Kolumne Slevogt: Gedanken zum StreamingBjörn Lengers 2020-04-06 11:49
Seit dem Erscheinen dieser Kolumne sind zweieinhalb Wochen vergangen, in dieser Zeit ganz schön viel Zeit. Und so sind, was das Theaterschaffen in dieser Zeit angeht, einige interessante Entwicklungen zu beobachten. Um mal eine herauszunehmen: Streaming.

Wie so vieles, was heute (notgedrungen) alltäglich wird - Videokonferenzen, digitale Lehre - habe ich den Eindruck, dass vorher in der Breite im Grunde nie richtig drüber nachgedacht wurde, es war schlicht indiskutabel. Jetzt passiert es zwar, aber kaum eine Äußerung dazu kommt ohne den Hinweis aus, dass es "das echte Theatererlebnis natürlich nicht ersetzen" könne.

Ja klar! Wenn es so wäre, wäre es ja längst ersetzt! Und natürlich ist es was anderes, aber was? Das lernen wir gemeinsam gerade. Die Diskussion dreht sich dabei vor allem nach wie vor um das Was und Wie, die Technik und Erzählweisen, Produktionswerte, Kamerazahl und -regie. Die Konzentration liegt auf dem Senden. Für mich ist aber ein entscheidender Punkt das Empfangen. Im Theater wird darüber wenig nachgedacht, weil das ja klar ist: man sitzt da auf einem (hoffentlich bequemen) Sitz, Licht aus, Handys aus, ruhig sein, los geht's. Beim Streamen (übrigens ein unglücklicher Begriff, weil doch im Moment hauptsächlich Aufzeichnungen zu sehen sind) aber weiß man nicht, wie zugeschaut wird: Smartphonebildschirm, mit/ohne Kopfhörer, im Bett, inmitten der Familie, wann?
Wie geguckt wird macht einen Riesenunterschied. Formate, die sowieso damit arbeiten, dass sie digital konsumiert werden, haben dies einfach akzeptiert und erzählen anders. Für Theaterstreaming ist das auch ein Weg, aber dann kommen Theatertypische Erzählweisen unter Druck. Oder man entwickelt neue Konventionen für's Theaterstreaming? Möglichst bequemer Sitz, Licht aus, Handy aus, ruhig sein, los geht's?

Da ich eine VR-Brille zuhause habe, kann ich sagen: bestimmtes Streaming funktioniert sehr gut, sobald ich mit Kopfhörer und -seher ;) konzentriert auf einem Kino-ähnlichen, virtuellen Bildschirm zusehen kann. Wenn der Produktionswert stimmt (zum Beispiel bei dem Angebot der Metropolitan Opera) habe ich ein sehr gutes Erlebnis, was neben der guten Bild- und Tonqualität im Wesentlichen damit zusammenhängt, dass es bei solchen Produktionen ja ehrlicherweise eh' kaum auf eine Kopräsenz ankommt, auf Interaktivität schon gar nicht.

Insofern drängt sich mir der Gedanke auf, dass ein Grund für die Binsenweisheit der Überlegenheit von Live-Theater (Oper, Konzert) schlicht die mangelnde Konzentration und schlechte Technik zuhause ist. Ein anderer ist, dass es gar nicht so sehr auf den jeweiligen Inhalt ankommt, sondern auf den Ausflug zum Theater, das Treffen von Menschen, das Pausenbier, etc. Relativ profane Dinge.

Anders gesagt: bestimmte Produktionen können als Streaming fast genauso gut funktionieren, wenn die Bedingungen stimmen. Vermutlich gerade die großen Headliner, die aufwändigen Musik- und Schauspielproduktionen, die das Publikum im Grunde nicht mitdenken.

Zumindest zwei Dinge fallen mir dazu ein: wenn ein Theater vor allem senden will, wenn es nur um die Qualität des Produkts ohne Rücksicht auf einen Rück-Kanal geht, tritt es in Zeiten von Streaming auf einmal in einen weltweiten Wettbewerb ein, theatre isn't local anymore.
Ist daher, zweitens, nicht die Einbeziehung des Publikums auch im Digitalen dringend geboten? Und sind nicht eher die kleineren Formate, die sowieso schon viel mehr mit der Anwesenheit von ZuschauerInnen gearbeitet haben, ein Markenkern von Theater?
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