Ich weiß es nicht

von Wolfgang Behrens

10. März 2020. Erlauben Sie (ich verwende hier die generische Höflichkeitsform: alle Menschen, die ich duze oder die von mir geduzt werden wollen, sind selbstverständlich mitgemeint) – erlauben Sie mir, Ihnen ein kleines, mir aber umso eindrücklicheres Begebnis aus meiner Studienzeit zu erzählen! Ich hatte damals das Glück, noch zwei Semester bei Ernst Tugendhat zu hören, bei einem der damaligen Meisterdenker der Freien Universität Berlin und Vorreiter der sprachanalytischen Philosophie im deutschsprachigen Raum, der übrigens vor zwei Tagen seinen 90. Geburtstag beging. Im Wintersemester 1991/92 hielt Tugendhat seine letzte Vorlesungsreihe an der FU, die später auch im Druck erschienenen "Vorlesungen über Ethik". In der Regel trug er im zum Bersten gefüllten Hörsaal eine knappe Stunde vor, ein zweiter Teil war der Diskussion gewidmet.

Das Eingeständnis bedrückte ihn nicht

In einer dieser Diskussionen trug es sich zu, dass der damalige Wissenschaftliche Assistent und heute in Frankfurt lehrende Professor Christoph Menke ein gewichtige Frage stellte, vielleicht war es sogar weniger eine Frage als vielmehr ein scharfsinniger Einwand (wobei mein eigener Scharfsinn leider nicht ausreicht, ihn genau zu rekonstruieren). Und dann geschah das Unerhörte: Ernst Tugendhat legte eine Hand auf seinen Kopf – eine für ihn äußerst typische Geste – und überlegte eine längere Zeit; dann sagte er bescheiden: "Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich weiß es nicht. Das ist ein Problem."

Ich war fassungslos: Der große Ernst Tugendhat kapitulierte vor der Frage eines Assistenten! Und es kostete ihn noch nicht einmal Überwindung, dies zuzugeben. Wenn ihn in diesem Augenblick etwas bedrückte, dann waren es höchstens die Hand auf seinem Kopf und vielleicht die Einsicht, einen bereits abgeschlossen geglaubten Gedankengang doch noch nicht genügend durchdacht zu haben. Das Eingeständnis bedrückte ihn nicht.

Der Satz ist nicht vorgesehen

Ich habe so etwas weder vorher noch nachher jemals erlebt. Der Normalfall in solchen Situationen war und ist ein weit ausholendes Blendwerk oder aber ein bewusstes Ignorieren der Frage durch eine Antwort, die auf alle möglichen Fragen passt, nur nicht auf die gestellte. Der einfache Satz "Ich weiß es nicht" scheint einer der allerschwersten zu sein, zumal, wenn er auf ureigenstem Terrain geäußert werden soll. Und es gibt ja sogar Positionen und ganze Berufsstände, für die dieser Satz nicht einmal vorgesehen ist: für Dramaturginnen zum Beispiel (ich verwende hier und im Folgenden das generische Femininum, alle nicht-weiblichen Dramaturgen etc. sind selbstverständlich mitgemeint). Dramaturginnen sind ja genau dafür angestellt, alles zu wissen. Wenn auf einer Probe die Frage aufkommt, in welcher Phase des 30-jährigen Krieges wir uns im Stück gerade befinden und was genau die Franzosen damit zu tun haben – die Dramaturgin muss es wissen, denn dafür wird sie bezahlt.

17 Kolumne behrens k 3PBei den Kritikerinnen verhält es sich gar nicht so anders. Denn eine Kritikerin bezieht in einer Rezension zumeist die Position der allwissenden Erzählerin, die zur Gänze über das gesehene Ereignis Auskunft zu geben weiß. Das Wissen wiederum, dieser Position Genüge tun zu müssen, kann schon einmal gewisse Panikattacken auslösen und zu entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen führen. Nehmen wir als Exempel: mich! Und zwar mich zu der Zeit, als ich noch ein Kritiker war. Schweißausbrüche bekam ich beispielsweise immer dann, wenn von der Bühne plötzlich in ein Stück eingeschobene Fremdtexte erklangen und ich mir meiner Pflicht bewusst wurde, die künftigen Leserinnen meiner Rezension über die Herkunft dieser Texte zu informieren. Der Notizblock auf meinen Knien diente im Grunde nur dazu, charakteristische Satzfragmente und Wortkombinationen aufzuzeichnen, mit denen ich dann ein paar Stunden später bei books.google.de den Inspirationen der Regisseurinnen auf die Spur zu kommen suchte. Aber können Sie sich den Horror vorstellen, wenn books.google.de nichts ausspuckte (wie es mir etwa einmal bei Frank Castorfs Judith geschah, da Google skandalöserweise von Artauds "Heliogabal" keine Kenntnis besaß)?

Sei objektiv?

Noch schlimmer war es bei Musik, denn ich konnte ja schwerlich eine Musikerkennungs-App mitlaufen lassen. Also stolperte ich nach jeder Premiere wie ein Huhn durch die sich leerenden Foyers und fragte alle möglichen Leute: Was war das für ein Song, als der Hauptdarsteller nackt in die Bluttonne getunkt wurde? Ich musste es wissen, denn ich war ja der Kritiker, der morgen alles in einen Zusammenhang zu bringen und letztgültig zu beurteilen hatte. Und ich kann sogar – horribile dictu – berichten, dass ich Unverstandenes und nicht Erkanntes zu verschweigen trachtete, um weder die Autorität meines Textes noch die meines Urteils zu untergraben. Wobei dies möglicherweise weniger meiner Eitelkeit geschuldet war als vielmehr einer Forderung, die die Textsorte Kritik seit jeher an die Schreiberin stellt: Sei objektive Instanz (zumindest näherungsweise)!

Wobei es eigentlich schade ist, dass sich Kritikerinnen so oft diesem scheinbaren Zwang zum allwissenden Erzählen ergeben. Manchmal jedenfalls wünschte ich mir, dass sie häufiger eine Tugendhat'sche Bescheidenheitsgeste zuließen. Ein "Ich habe das nicht verstanden". Ein "Ich weiß es nicht". Oder ein "Ich kann darüber nicht abschließend urteilen". Zugegebenermaßen dürfte es sehr schwer sein, so zu schreiben und damit zugleich die eigene Autorität in Frage zu stellen – zumal man sich im Netz schon lange gegen einen unendlichen Strom allwissender Schnellbeurteilerinnen zu behaupten hat. Aber vielleicht wäre ein derart tastendes Sprechen über Kunst dem Gegenstand ohnehin gemäßer. Kein einzelner Text kann das hermeneutische Potential eines Kunstwerks ausschöpfen – das wird wohl kaum eine Kritikerin bestreiten. Warum aber treten dann nahezu alle Kritiken mit dem Gestus auf, als könnten sie es?

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

Zuletzt fragte sich Wolfgang Behrens, was hinter der Regiseur*innen-Behauptung steckt, dass sie keine Kritiken läsen.

Kommentare  
#1 Kolumne Behrens: Muss man das wissen?martin baucks 2020-03-10 09:46
Und was zum Himmel ist dieses „Schisma des Irshu“ riefen sie damals in ihrer Judith Kritik aus. Das war sehr witzig. Ich bemühte mich Sie aufzuklären. Nur frage ich mich: Muss man das denn wissen? Wollen Sie tatsächlich die Ansprüche des Hörsaal der Universitäten direkt auf die Bühne übersetzt sehen? Geht man nicht in das Theater, um sich vom Hörsaal zu erholen?!
#2 Kolumne Behrens: fantastischSchieland 2020-03-10 10:57
Vielen Dank für diese Kolumne! Den Niedergang der Geste des Sich-Auf-Den-Kopf-Fassens kann man aus einem kürzlichen Vortrag von Holger Friedrich über seine Digitalstrategie auf YouTube ersehen. Ihm dient sie nicht dazu, Unwissen anzuzeigen, sondern die geballte Unverständlichkeit der hinter ihm gezeigten Folien abzufedern. Hoffen wir aber, dass diese Geste nach Corona nicht vollends aus dem Repertoire der Gelehrten verschwindet.
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