Das Mutlabor

von Christian Muggenthaler

27. November 2019. Es ist sieben Jahre her, da führte die Regisseurin Kathrin Mädler das Publikum des Theaters Ingolstadt in den Untergrund. In den Kasematten alter Befestigungsanlagen arrangierte sie unter dem Titel Das Monster weint in unheimlicher, stockdunkler Umgebung ein beängstigendes Crossover zweier Texte: "Frankenstein" von Mary Shelley und die "autobiografischen Aufzeichnungen" des KZ-Lagerkommandanten Rudolf Höß. Es ging um jenes Experiment, in dem ein Gelehrter aus totem Material eine lebende Kreatur erschafft – ein zwar grusliges, aber rein literarisches Produkt. Und es ging um jenen schrecklichen Versuch, ganze Volksgruppen durch Massenmord aus dem Menschenkreis zu entfernen – ein Projekt, in dem aus Ideologie widerliche Wirklichkeit wurde.

monster2 280q u"Das Monster weint", Theater Ingolstadt 2012 © Ludwig OlahMädler zeigte: Das Böse kommt recht einfach in die Welt, ohne dass auch nur bemerkbar wäre, durch welche Tür es eingetreten ist. Auf einmal ist es da. Jetzt, als Intendantin des Landestheaters Schwaben, das seinen Stammsitz im Stadttheater Memmigen hat, ist das immer noch eines ihrer Themen: das, was im Untergrund lauert, der Umschlag von dem, was ja nur gesagt und gedacht wird, in die Wirklichkeit, das Verdrängen von Humanität durch die Verwüstungen von Schwarz-Weiß-Ideologien. Aus Der Reisende, der Bühnenadaption eines Romans von Ulrich Alexander Boschwitz aus dem Jahr 1938, macht sie ein zeitloses Modell der Ausgrenzung und Entmenschlichung, während ziemlich zeitgleich auf der Studiobühne in Ein deutsches Mädchen die – wahre – Geschichte einer Aussteigerin aus der Neunazi-Szene dramatisiert wird.

Heraufordernde Ästhetik, leidenschaftlicher Spielplan

Intendantin Kathrin Mädler macht, kein Zweifel, politisches Theater und sie hat, wiederum kein Zweifel, frischen Wind nach Memmigen gebracht. Dort, ziemlich fernab von den größeren Theaterzentren, ist Theaterkunst zu sehen, die schon bald nach Mädlers Amtsantritt 2016 auch überregional wahrgenommen wurde: Mädlers Inszenierung von Christoph Nußbaumeders Historiendrama Margarete Maultasch – auch hier geht es unter anderem um die lähmende Kraft des blinden Dogmatismus – war für den diesjährigen deutschen Theaterpreis "Der Faust" nominiert, und 2019 gehörte das Landestheater Schwaben zu den mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichneten Häusern, weil, so die Jury, das Landestheater für herausfordernde Ästhetik stehe, für einen leidenschaftlichen und politischen Spielplan und einen starken Fokus auf das Junge Theater.

Wichtige Inszenierungen am Landestheater Memmingen unter der Intendanz von Kathrin Mädler

Das staatsministerielle Lob des Hauses Grütters hat weiteren Schwung gegeben hinein in eine Spielzeit 2019/2020, die das Motto "Es kommt darauf an" trägt und in der Gemengelage von Ängsten und Visionen die Position der Theaterkunst ergründet. Angefangen haben Mädler und ihre Chefdramaturgin Anne Verena Freybott in der Saison 2016/2017 mit einer Mischung aus "Mut und Blauäugigkeit", wie sie selbst sagen, mit viel Zeitgenossenschaft der Produktionen, vielen Uraufführungen, immer an Themen und Saisonmotti entlang, mit jungen Autor*innen, jungen Regisseur*innen, jungen Ausstatter*innen. Der eingegangene Weg abseits ausgetretener Pfade hat sich schnell als solide Start- und Landebahn für aufregende, gelungene, gedanklich herausfordernde und die Sinne kitzelnde Theaterstücke herausgestellt. Das Haus besitzt mittlerweile spürbar ein Gütesiegel. Das vor allem über Mundpropaganda weiterverbreitet wird, sagt Freybott.

Geschichten mit Haltung zur Gegenwart

Einerseits setzt das Team auf klare Erzählungen, auf Geschichten, weniger auf hochartifizielle Sprachspiele. Diese Erzählungen haben immer einen konkreten Bezug zur Gegenwart, sind Stellungnahmen in ihr. Theater ist in Memmingen nicht zuletzt: Haltung. Und andererseits werden Setzungen und Brechungen verwendet, die neue Blicke ermöglichen. Das Publikum ist ausgesprochen offen, freundlich und neugierig, wie man in der Stadt hört, manchmal aber auch irritiert über die drei Peers in der "Peer Gynt"-Inszenierung in der Mädler'schen Anfangssaison oder aktuell über die Besetzung von Frauenrollen durch Männer und Männerrollen durch Frauen in Julia Prechsls Einrichtung der Räuber.

Aber diese Brechungen sind nicht Selbstzweck, sondern haben ihren Sinn im Aufbrechen von festgefahrenen Sichtweisen, Rollenbildern, Klischees. Und sie sind auch Folge eines bewussten Setzens auf eine neue, frische, gern auch weibliche Sicht auf die Stoffe.

Reisende 4 560 c Monika Forster u"Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz  ©  Monika Forster

Der besagte spürbar frische Wind entsteht aus einem solchen neuen Blick. Die Zuschauer goutieren es im Großen und Ganzen; 1.350 Abonnente sind für ein solches Haus mit 400 Plätzen recht beachtlich. "Im dritten Jahr", sagt Mädler, "ist nochmal was passiert": Die Konsequenz des eigenen Handels werde belohnt, das motiviere, mache Mut. Mit einem Spielplan, der klare Linie hat, Kante zeigt, zu Neuentdeckungen einlädt, kann auch die "Provinz" schnell zu einem bundesweit registrierten Theaterzentrum werden.

Weil es nicht so sehr viele Kulturinstitute vor Ort gebe, gebe es "viel Freiheit für die eigene Linie", sagt Mädler. Das bedeute einerseits: "Wir mussten nur kommen." Und genau wegen dieser relativen Überschaubarkeit andererseits eine gute Möglichkeit, ein Netzwerk vor Ort zu knüpfen. Ein Beispiel: die Zusammenarbeit mit den Kirchen. Oder den Museen. Oder unter dem Dach der "sozialen Stadt". Seit 2016 gibt es auch die Bürgerbühne Schwaben.

Erfolgsformel Kommunikation

Ausgangspunkt von allem: die überaus kommunikativen, offenen, zugewandten Persönlichkeiten von Intendantin und Chefdramaturgin. Wenn man mit ihnen spricht, gehen ihre Statements fließend ineinander über. Und wenn sie die "ganz große Offenheit" in der Stadt ihrem Theater gegenüber schnell schätzen und lieben gelernt haben, wie Freybott sagt, gilt das mindestens genauso andersherum.

Offenheit geht immer nur wechselseitig. Ein Geist, der das Haus prägt. Als sie einmal mit Verwandten neugierig durchs Fenster in die offenen Werkstätten des großen Erweiterungsbaus von 2010 geschaut habe, habe man das neugierige Grüppchen gleich eingeladen, zu genauerer Inspizienz hereinzukommen, erzählt Alexandra Wehr, Pressereferentin der Stadt Memmingen.

Das Landestheater Schwaben

Musentempel ist nicht mehr

Eine besondere Stärke des Hauses ist also sein Wirken in die Stadtgesellschaft hinein. Das ist deutschlandweit zwar nicht direkt neu, kann es für jeden einzelnen Ort dann eben doch wieder sein, wenn man dort bemerkt, dass die Themen und Menschen vor Ort erstgenommen werden, dass das Theater sich öffnet und mit der Bürgergesellschaft kooperiert. Musentempel ist nicht mehr. Auch das wird gern wahrgenommen.

Der Memminger Kulturamtsleiter Hans-Wolfgang Bayer beispielsweise, der die Arbeit am Landestheater als "sehr anregend, animierend, gegen den Strich gebürstet" beschreibt, mag einen solchen "partizipativen Anspruch", wie er sagt. Mag Kunstprojekte wie jene, als unter dem Titel "Vereinigte Vergangenheiten" das Landestheater zusammen mit der Künstlergruppe "geheimagentur" sich auf die Suche machte nach Geschichten und Relikten aus der Region Allgäu, unter anderem die für Regionalgeschichte so bedeutsamen "12 Artikel" aus der Zeit der Bauernkriege, um daraus Material für eine "Zukunftswerkstatt" zu gewinnen.

Glasklare Bühnenbildästhetik

Diese Frische, diese Offenheit trägt das Theater auch in die Region – und darüber hinaus. Das Stadttheater steht im Mittelpunkt eines Zweckverband-Netzes von 21 Kommunen in Bayerisch-Schwaben, dazu kommen weitere Gastspielorte bis nach Österreich und in die Schweiz. Insgesamt 80 Reisen unternimmt das Theater so in der Spielzeit, was bei den Inszenierungen stets berücksichtigt werden muss.

Unter anderem kommt es in dem Schauspielhaus, das auch stark auf das Junge Theater setzt und mit einem Ensemble von zwölf Schauspieler*innen 15 Eigenproduktionen auf die Bühnen bringt, immer wieder zu diesen präzisen, starken Bühnenbildern, dieser glasklaren Ästhetik von zumeist jungen Talenten. Wie Mareike Delaquis Porschka und ihr sich während der ganzen Handlung entfaltendes gigantisches Monster aus Ballonseide im "Reisenden". Birgit Leitzinger mit ihrem "Räuber"-Kampfgestell. Oder das zuckersüße Kartonagen-Pünktchen-Outfit von Franziska Isensee in "Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse".

Zwischen Inspiration und Frustration

Von ihren bisherigen Stationen am Staatstheater Nürnberg und am Theater Münster hat Mädler ein Netzwerk dieser Talente mitgebracht, die sich künftig noch stärker entfalten werden. Die Macherinnen eines Theaters, das nicht mit einem besonders üppigen Haushalt gesegnet ist, siedeln das eigene Tun deshalb irgendwo auf der Wegstrecke zwischen Inspiration und Frustration an: Man spürt die Grenzen, die aber zugleich auch Ansporn für Phantasie und Kreativität sein können.

Immerhin führt das dazu, dass das Theater Memmingen aus der Region herauslugt und wahrgenommen wird. Ist bestimmt kein Schaden für die Stadt Memmingen und alle anderen Mitglieder des Landestheaters Schwaben.

 

Muggenthaler 100 NNChristian Muggenthaler, geboren 1962, studierte Geschichte und Germanistik in Regensburg. Er lebt und arbeitet als Journalist und Autor in Regensburg und in Backnang, wo er als Dramaturg und Hausautor am Bandhaus Theater tätig ist. Außerdem erarbeitet er an verschiedenen Theatern unter der Überschrift "Lyrik ist nicht schwierig" Gedichtinterpretationen mit dem Publikum und schreibt für verschiedene Tageszeitungen und Magazine (Foto: Peter Litvai).

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