Die doch immer dagewesen sind

von Esther Slevogt

15. Oktober 2019. Es ist in diesen Wochen viel von der Deutschen Einheit die Rede. Das dreißigste Jubiläum des sogenannten Mauerfalls naht. Am 2. und 3. Oktober wurde unter der Überschrift "Mut verbindet" in Kiel bereits der 29. Tag der Deutschen Einheit begangen, die per 3. Oktober 1990 in Kraft getreten ist. Es gab also Volksfest, Sonntagsreden und "Einheitsbuddeln". Ja: Einheitsbuddeln. Damit war eine bundesweite Baumpflanzaktion gemeint, um Klimaschutz und Deutsche Einheit zu verbinden. Zwar sollen im Zuge der Aktion insgesamt über 90.000 Bäume gespendet bzw. gepflanzt worden sein. Das deutsche Klima ist trotzdem mieser denn je.

Volksaufstand gegen die Arbeitsnorm

Als ich in meinem westsozialisierten bürgerlichen Heldenleben erst ein Kind und später eine Jugendliche war, wurde als "Tag der Deutschen Einheit" noch der 17. Juni begangen. Bis 1989 war das so. Auch Westberlins enormste Straße, die bis 1989 die berühmteste Sackgasse Europas war, da sie an der Mauer am Brandenburger Tor endete, war (und ist) nach diesem Datum benannt, an. Denn am 17. Juni 1953, so hatte ich es in der Schule gelernt, hätten die Ostdeutschen für die Deutsche Einheit demonstriert und seien dann von Sowjetischen Panzern niedermacht worden. Seit dem Jahr 2000 gibt es am ehemaligen Haus der Ministerien in der Leipziger Straße auch ein Denkmal für diesen "Volksaufstand", wie er inzwischen heißt.

Hierhin, zum damaligen Sitz der DDR-Regierung, waren am 17. Juni 1953 die Bauarbeiter der Stalinallee gezogen, jener damals noch im Bau befindlichen sozialistischen Prachtstraße, auf der die Unruhen als Streik am 16. Juni begonnen hatten: Die Bauarbeiter wollten gegen eine Erhöhung der Arbeitsnorm demonstrieren, die sich für sie de facto als zehnprozentige Lohnkürzung niederschlug. An die Deutsche Einheit haben sie wahrscheinlich überhaupt nicht gedacht. Eher an freie Wahlen, mehr Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Häftlinge in der DDR, die auch wenige Monate nach Stalins Tod im März 1953 immer noch unter seiner Knute stand.

Unter etlichen ideologischen Schichten

Bald hatten mehrere Hundert Demonstranten den Regierungssitz der DDR besetzt und versucht, ihn in Brand zu stecken. Möbel wurden zertrümmert, Rote Fahnen und Parteiembleme verbrannt und Funktionäre verprügelt. Auch anderswo kam es zu Übergriffen auf Staats- und Parteieinrichtungen. Otto Nuschke, der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, war von Demonstranten aus seinem Auto gezerrt und später der Westberliner Polizei übergeben worden, wo man ihn höhnisch der Presse vorführte. Es herrschte also durchaus Lynchstimmung auf den Straßen. Und unter den gewaltsam befreiten politischen Gefangenen dieses Tages waren vereinzelt auch verurteilte Naziverbrecher. Keinesfalls also war alles so unschuldig, wie es später immer hieß. Erst Einheiten der Roten Armee gelang die Räumung des Sitzes der Regierung der DDR. Sowjetische Einheiten schlugen dann schnell den gesamten Aufstand nieder, zu dem sich der Streik ausgeweitet hatte. Und damit alle Freiheitshoffnungen, die viele Menschen an diese Erhebung knüpften.

kolumne 2p slevogtTrotzdem bekomme ich jedes Mal Beklemmungen, wenn ich an der Leipziger Straße am Mahnmal für den 17. Juni vorbeikomme – wie ich überhaupt Beklemmungen bekomme, wenn ich an diesen, seit dem Kalten Krieg so vielfach missbrauchten Tag denke. Unter den vielen ideologischen Schichten, die längst alle Widersprüchlichkeit unter sich begraben haben, die dieser Tag für mich immer hat, wären vielleicht Antworten auf viele Fragen auch der Gegenwart zu finden. Wenn man sie denn finden wollte, statt sich an die simplen Freiheits- und Einheitsfloskeln zu klammern. Es beginnt schon mit der Frage, wer eigentlich diese Leute sind, die der Künstler Wolfgang Rüppel auf der Basis einer zeitgenössischen Fotografie in seinem Glaskachelbild für das Mahnmal verewigt hat: eine merkwürdig verschwommene Masse, in der ich nur sehr mühsam Individuen identifizieren kann.

Brechts Brief über die "scharfen, brutalen Gestalten"

Es gibt einen Brief, den Bertolt Brecht im Juni 1953 an seinen westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp schrieb, der ihn damals offenbar um eine Einschätzung bat. Brechts Einschätzung fiel dann derart aus, dass Suhrkamp lieber darauf verzichtete, sie öffentlich zu machen. So wird bis heute stets nur das zum Bonmot verkürzte Brecht-Wort von der Regierung zitiert, die am besten das Volk auflösen und ein neues wählen solle. Und Brechts ebenfalls nur verkürzt überlieferte, weil schon von der DDR damals nur zensiert veröffentlichte Solidaritätsadresse an Walter Ulbricht.

In seinem Brief an Suhrkamp äußert Brecht zunächst Verständnis für die Anliegen der Demonstranten, die am 16. und 17. Juni 1953 gegen die "unklugen und unglücklichen Maßnahmen" der DDR-Regierung aufgestanden waren. "Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen brutalen Gestalten der Nazizeit, DEN HIESIGEN, die man seit Jahren nicht mehr im Haufen hatte auftreten sehen UND DIE DOCH IMMER DAGEWESEN WAREN." (Hervorhebungen von mir). Auch wenn mir klar ist, dass Brechts Sicht hier eine doppelt beschränkte sein mag: er als privilegierter Künstler einerseits und zurückgekehrter Emigrant andererseits die Vielen und ihre berechtigten Forderungen nach Demokratisierung übersieht, die zwischen den demonstrierenden Arbeitern und den "scharfen, brutalen Gestalten standen", die sich seiner Beobachtung zufolge im Laufe des Tages unter sie mischten: Dieses UND DIE DOCH IMMER DAGEWESEN WAREN begleitet mich seitdem wie ein düsterer Refrain.

Frühform der Aufmärsche selbsternannter Patrioten

Als ich Brechts Brief vom 1. Juli 1953 an Peter Suhrkamp vor ein paar Jahren wieder las, seine darin enthaltenen Schilderungen, wie sich im Verlauf dieses Tages die Parolen der Demonstranten radikalisierten und aus "Weg mit der Regierung!" ein "Hängt sie!" wurde – da hatten in Deutschland gerade die PEGIDA-Demonstrationen begonnen. Plötzlich schien mir, als schildere Brecht hier bereits eine Frühform dieser Aufmärsche selbsternannter Patrioten. Seitdem frage ich mich, nicht nur beim Betrachten von Wolfgang Rüppels Glaskachelbild an der Leipziger Straße, sondern eigentlich immer, wenn ich Fotos der Demonstrationen des 17. Juni sehe: Wer waren, wer sind diese Menschen? Würden sie heute Flüchtlingsheime anzünden? Zumindest einige unter ihnen? Würden Sie "Merkel muss weg!" brüllen und Galgen mit sich führen, um damit in kruder Weise ihre wahren Absichten zu verdeutlichen? Würden sie mit einem Auto voller Waffen am Jom Kipur vor einer Synagoge vorfahren, um unter den Beterinnen und Betern an diesem höchsten jüdischen Feiertag ein Massaker anzurichten? Oder hinterhältig Menschen erschießen, die sie für Muslime halten? Sind das also noch Demonstranten oder schon ein Mob?

Was aber soll das für eine Freiheit sein, die aus dem Geist des Mob sich erhebt, was für eine Einheit? Und so teile ich die Angst vor derartigen Entfesselungen, die aus Brechts Schilderungen des 17. Juni herauszulesen ist, der sich vom brennenden Columbushaus am Potsdamer Platz, das von Demonstranten angezündet worden war, an den Reichstagsbrand erinnert fühlte. Am Tag danach war Brecht mit seiner Familie aus Deutschland geflohen. Das war an diesem 17. Juni 1953 gerade einmal zwanzig Jahre her. Die Nazizeit erst seit acht Jahren beendet. Und nicht durch freie Wahlen, sondern durch die Rote Armee. UND DIE DOCH IMMER DAGEWESEN SIND.

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt dachte Esther Slevogt über Herbert Grönemeyer und die Geschichte des Lautsprechens nach.

 

Kommentare  
#1 Kolumne Slevogt: Geist der FreiheitVerbotene Liebe 2019-10-15 23:45
Ich erinnere, wie meine Mutter diese Angst vor dem Mob teilte und meinen Vater noch im Nachhinein schalt, sich als Diskutant unter ihn gemischt zu haben. Ungeachtet der Tatasache, wie er sich dadurch unversehens gefährdet hatte als gerade Familienvater gewordener Mann, meine Schester war noch keine acht Wochen alt. Mein Vater war einer der Bauarbeiter an der Stalinalle. Er hatte an Wiederaufbau der Staatsoper gearbeitet, am ersten Osterberlinber "Hochhaus" an der Weberwiese und eben auch an der Stalinallee. Er wollte nicht streiken, aber er sah die Ungerechtigkeit gegen sich und die Kollegen und hätte auch den Streik nicht gebrochen. Aber er war dafür, das deutlich zu machen, dass es so nicht weiterginge. Sie hatten alle, durchaus begeistert für das Tempo des Wiederaufbaus der Trümmerstadt, ihr Bestes gegeben und waren erschöpft, auch krank von der vielen und schweren körperlichen Arbeit. Er trat jeden frühen Morgen an mit einer chronisch gewordenen Magenschleimhautentzündung, mit nix als Tee und Haferschleim im Bauch und trug den ganzen Tag schwere Balken über die Gerüste. Als sie als stolze Vorzeige-Bauleute die Staatsoper miteinweihen sollten, ist bei der feierlichen Erst-Aufführung die halbe Brigade, feingemacht in Staude und sauberster Kluft oder geborgtem Anzug - vor Erschöpfung eingeschlafen und hat mit ihrem Schnarchen gestört... Sie gingen also los, um das mal in Ruhe zu klären mit denen, die nicht ihre Genossen waren, aber als Genossen, denen sie vertrauten, die Geschicke ihrer Familien bestimmen wollten. Mein Vater erzählte später, dass sie sich sehr gewundert hatten, dass plötzlich so viele da waren, die sie gar nicht kannten und die auch gar keine Bauleute waren scheinbar. Das war ihnen unheimlich, sie wussten nicht, wie das organisiert worden war, kaum mehr wie sie sich selbst für eine Losgehen organisiert hatten... Dann kamen andere Bauleute zurück und haben erzählt, was weiter im Zentrum loswar, und das da irgendwas zu kippen schien, was gar nicht mehr mit dem zu tun hatte, was sie wollten. Sie bekamen Angst. Mein Vater fragte, ob das denn auch Bauleute seien und die sagten dann, ja. Er ist zur Straße des 17. Juni gegangen und konnte nicht begreifen, welch ein Hass da aufeinmal wütete und versuchte mit Leuten, die er als Bauleute identifizieren konnte zu diskutieren. Dass die da rausgehen sollten und ihre Forderungen anders stellen, dass das hier sich anfühlt nicht mehr wie Streik, sondern Bürgerkrieg, dass man das nicht zulassen darf. Keiner sollte das mehr zulassen wollen nach dem, was sie doch alle erlebt hätten. Meine Mutter sagt, ihm seien, als er damals verzweifelt nach Hause kam, beinahe die augen aus den Höhlen getreten vor Zorn, vor Unverständnis für Unbelehrbarkeit über das, was Faschismus anrichtet, wenn er irgendwo unentdeckt überwintert - sie hatten sich geprügelt und er ist von Bauleuten, die er gar nicht kannte, erst als Streikbrecher beschimpft worden, dann von anderen, die gar keine Bauleute waren, bedroht und später hatte er es geschafft, das Weite zu suchen. Er hat sich geschämt, den Mob nicht gezämt haben zu können. Er dachte, er sei einfach nicht klug genug dafür gewesen und hätte deshalb nicht gut genug argumentieren können... Meine Mutter erzählte, erinnerte sie sich daran, er sei am ganzen Leibe zitternd vor Scham und Wut nach Hause gekommen und sie war so wütend auf ihn, dass er da hin gegangen sei, um zu diskutieren, wo er doch erst nicht einmal streiken gewollt habe. Weil er immer eingesehen hatte, dass der Aufbau und der FRIEDEN das allerwichtigste sei. Für ihn. Für sein Kind. Und seine Frau. Und für alle anderen Kinder, Frauen und Bauleute auch... Es gab, glaube ich, viele wie ihn an diesem Tag. Und auch viele ganz andere.
Der G e i s t der Freiheit hat sich nicht aus dem Mob erhoben, er wurde vom Mob erstickt.
#2 Kolumne Slevogt: die Gründe bleibenmartin baucks 2019-10-16 12:16
Irre ich mich oder kann es sein, dass sie auf diesem Wege im Nachhinein die Niederschlagung des Aufstandes der Bauarbeiter am 17.Juni durch die rote Armee rechtfertigen? Sicherlich ist es wahrscheinlich, dass sich unter diesen Aufstand auch andere Kräfte mischten, aber die Gründe zu diesem Aufstand sind deshalb nicht ausgeräumt. Immer, wenn man den Unzufriedenen den Ausweg nach links verweigert, kommen sie irgendwann rechts heraus. Das ist schon wahr. Jedoch war historisch die Situation hierfür 1953zig noch nicht bereit. Mag sein, dass ein paar ewig Gestrige dort mit agierten. Wahrscheinlich sogar. Aber von dort den Bogen bis heute spannen und sich somit mit der stalinistischen Niederschlagung gemein machen?! Phuuu! Sie wagen sich was. Wenn es gegen die kruden und brutalen Arbeiter geht, darf man das ja wieder. Da gibt es heute wieder einen Konsens.

Mutiger wäre es wohl zu fragen, ob unter denjenigen, welche die friedliche Revolution 1989 organisierten und vorantrieben nicht schon jene wahren, die heute an Flüchtlingsheimen zündeln und Angriffe gegen Synagogen starten? Oder in Dresden und anderswo aufmarschieren? Doch da gebe es dann keine Verknüpfung zu den verhassten Bauarbeiten, denn wir wissen ja, das die AFD und ihr Umfeld nicht zwingend eine Arbeiterbewegung ist oder gar sich aus dem Prekariat speist, sondern die Unzufriedenen dort aus allen Schichten sich aus einem ganz anderen Grund zusammen finden. Was sie eint, ist Hass. Widerwillen gegen moderne Lebensformen und Europa. Ekel vor Kosmopoliten und vielem mehr. Dieser Mop hat keine indirekten Lohnkürzungen im Bausektor zum Grund oder stalinistische Staatsverhältnisse, sondern Abscheu gegen eine Europäische Union, gegen Demokratien an sich, die sich weltoffen verhalten und vieles mehr. Es ist ein Sammelbecken für frustrierte Nationalisten, Rechtskonservative und vor allem Rechtsradikale und Faschistoide, Frauen wie Männer. Wo bitte sehen Sie das Verbindungsglied zwischen Alice Weidel und den Bauarbeitern von damals? Oder macht der Attentäter von Halle auf sie den Eindruck, er habe sich seinen Rücken auf dem Bau krumm geschuftet und sei deshalb bereit gewesen Betende zu erschiessen? Sozusagen Arbeitsüberlastung als Begründung für aggressiven Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit. Nein. Das sehe ich nicht. Ich habe mal Untertage als Bergmann gearbeitet. Ich habe dort niemanden kennen gelernt, der gesagt hätte: Das haben uns die Juden und Ausländer angetan.

Wenn man so mit vielen Türken, Marokkanern und Polen Untertage zusammen schuftet, kommt man auf viele Ideen. Selten auf solche. Ich kam beispielsweise auf die Idee Theater zu machen.
#3 Kolumne Slevogt: mordbegünstigendSündenbock 2019-10-16 19:55
Das ist schon sehr merkwürdig, dass in einem Land politische Ritual-Mörder als ver(w)irrte "Einzeltäter" gelten. In einem Land, das kulturell lautstark auf eine Hauptreligion hält, in der Reue, Buße, Stellvertreterübernahme von Sünden und Versöhnung Kernpunkte des Glaubens und der geübten Rituale sind, gilt jemand, der anderer Religion angehörende Menschen an einem Tag umbringt, der der Reue, dem Gebet, der Dankbarkeit über Stellvertreterübernahme der Sünden und der Versöhnung gewidmet ist, als bedauerlicherweise geistig verwirrte Ausnahme?. Das ist als offiziöse Einschätzung eines Tatmotivs in so einem Land mordbegünstigend idiotisch, oder?.
#4 Kolumne Slevogt: ZahlenHeiner Müller 2019-10-17 06:18
"Natürlich sind zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche."
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