Wachstum oder Zukunft

von Christian Tschirner

17. April 2019. Seit etwa einem Jahr bereite ich für das Hamburger Schauspielhaus das Hamburger Menetekel vor, ein partizipatives Projekt, bei dem Jugendliche die Zukunft der Stadt von den Wänden lesen, um sie dann auf einem Kongress mit Expert*innen zu diskutieren. Diese Zukunft, soviel kann man jetzt schon sagen, sieht nicht besonders rosig aus. In den vielen Gesprächen dazu – mit Lehrer*innen, Stiftungen, Künstler*innen – war immer wieder zu hören: Die Jugendlichen mit einer geballten Ladung alarmierender Nachrichten zu konfrontieren, sei doch gerade jetzt – gemeint ist das Erstarken rechtspopulistischer Parteien – das falsche Signal. Gerade jetzt müsse man doch das Vertrauen in Politik und Gesellschaft stärken, alles andere füttere ja die von rechts geschürte Hysterie. Ich bin anderer Meinung. Es gibt keinen Grund, das Vertrauen in Politik und Gesellschaft zu stärken. Wir stecken in einer zivilisatorischen Krise und gerade der hilflose Versuch, das zu leugnen, beschleunigt den Erfolg der Rechten. Warum?

FridaysForFuture 560 GeorgKurz u"Fridays for Future"-Demo in München © Georg Kurz / Fridays for Future

Zunächst ein Blick in die Geschichte: So wie große Teile der liberalen Öffentlichkeit heute, war die – damals mehrheitlich marxistische – Linke beim ersten Auftritt des Faschismus auf der Weltbühne vollkommen überrascht. "Wie konnte es sein, dass sich ganze Massen der kleinbürgerlichen Bevölkerung, besonders der Jugend, den Faschisten zuwenden, wo doch die Marxist/innen eine so strahlende, überzeugende und vernünftige gesellschaftliche und politische Alternative angeboten hatten und dazu noch die historischen Gesetzmäßigkeiten auf ihrer Seite hatten? Der Erfolg des Faschismus musste den meisten Marxist/innen als Anomalie der Geschichte erscheinen", schreibt der Geschichts- und Politikwissenschaftler und Betreiber der Internetseite faschismustheorie.de Mathias Wörsching. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrunderts hinein fand eine fieberhafte Ursachenforschung statt. Schon frühe Interpret*innen des Faschismus – Zetkin, Radek, Gramsci, Bloch u.a. – nahmen die Motive der Faschist*innen ernst, versuchten sie zu ergründen und denunzierten sie nicht einfach als amoralisch. (Leider nannten auch sie schon alle möglichen rechten Bewegungen faschistisch und begründeten so den inflationären Gebrauch des Begriffs.)

Rassistische Ökologie

Die vielfältigen Antworten auf die Wie-kann-es-sein-Frage lassen sich in drei große Gruppen einteilen: sozialökonomische Antworten, die den Faschismus als Antwort auf Verunsicherung und Abstiegsängste des Kleinbürgertums interpretierten; historische Antworten, die die Ursachen eher in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs (plus dem Versagen der Linken bei seiner Verhinderung) und der darauf folgenden Wirtschaftskrise sahen; und sozialpsychologische Erklärungsversuche, die, wie zum Beispiel die Kritische Theorie, eine autoritäre, patriarchale Grunddisposition der Anhänger*innen in den Vordergrund stellten. All diese Motive sind vermutlich kaum voneinander zu trennen, sondern wirkten bei der Entstehung des Massenphänomens Faschismus Anfang des letzten Jahrhunderts zusammen.

Eine weitere – gewissermaßen apokryphe – Erklärungsgruppe ist die von Franz Borkenau in den 30er Jahren begründete Modernisierungstheorie. Danach ist der Faschismus keine rückwärtsgewandte, sondern nach vorn gerichtete Ideologie, die – mit fragwürdigen Mitteln – versucht, ein objektives gesellschaftliches Entwicklungshindernis zu beseitigen. Da sich die notwendigen Maßnahmen mit herkömmlichen Mitteln nicht begründen und durchführen lassen, radikalisiert die bürgerliche Gesellschaft schon vorhandene ideologische Aspekte bis zum Faschismus. Als einen späten Vertreter dieser Theorie könnte man den 1922 geborenen bayrischen Schriftsteller Carl Amery bezeichnen. In seinem 1998 veröffentlichten Essay "Hitler als Vorläufer - Auschwitz der Beginn des 21. Jahrhunderts" versucht er zu zeigen, dass der Faschismus eine Antwort auf die im 20. Jahrhundert aufkommende Frage nach "den Bedingungen eines nachhaltigen Weiterlebens der Gattung auf einem begrenzten Planeten" war. Die Problematik einer wachsenden Bevölkerung in Europa und einer relativ unproduktiven Landwirtschaft, die mit den gegebenen Flächen kaum in der Lage sein würde, den Nahrungsbedarf zu decken, war (bis zur Grünen Revolution in der Landwirtschaft) real und ein viel diskutierter Topos. Hitlers Antwort und zentral für seine Ideologie, so zeigt Amery, war ein primitiver Darwinismus, der mit der Überzeugung kombiniert war, dass Deutschland zum Untergang verurteilt sei, wenn es das Problem der "Überbevölkerung" nicht löse. "Für alle reicht es nicht", sei Hitlers Grundüberzeugung gewesen, sein Unterwerfungs- und Vernichtungsprogramm die logische Konsequenz. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder nimmt diesen Gedanken in seinem Buch "Black Earth" (2015) auf. Hitler und Millionen seiner Anhänger, so Snyder, waren davon überzeugt, dass das ökologische Gleichgewicht des Planeten gefährdet sei. Die Antwort darauf war eine rassistische Ökologie: Durch Vernichtungskrieg und Massenmord sollte das natürliche Gleichgewicht wiederhergestellt und den deutschen Familien ein besseres Leben ermöglicht werden.

Die einfache Antwort der Rechten auf das Problem der Ressourcenknappheit

Es ist nicht zu übersehen, dass auch für uns ökologische Fragen ins Zentrum rücken. Status- und Wohlstandsverluste in den alten Industrieländern (sozialökonomische und -psychologische Erklärung) sind nur eine Seite der Medaille. Auf der Habenseite kann die Globalisierung gewaltige Status- und Wohlstandsgewinne in Ländern wie China, Indien, Brasilien verbuchen. Eine riesige neue Mittelschicht in diesen Ländern und ihr Wunsch, Anschluss an den westlichen way of life zu finden, verschärfen das ökologische Dilemma: Trotz aller Absichtserklärungen und Theorien ist es nie gelungen, Wirtschaftswachstum und Ressourcenverschleiß zu entkoppeln. (Der einzige Moment, in dem der weltweite CO2 Ausstoß eine kurze Verschnaufpause einlegte, war nach der Finanzkrise 2008.) Für die Annahme, die Entkopplung von Wachstum und Verschleiß könnte in naher Zukunft gelingen, besteht wenig Grund. Das Scheitern der deutschen Regierung, die eigenen, nicht mal besonders ambitionierten Klimaziele zu erreichen, ist dafür emblematisch. Und inzwischen läuft die Zeit davon: Das Wachstum, auf dem unser Wirtschafts- und Politikverständnis fußt, zerstört in immer rasanterem Tempo unsere Biosphäre. Der Klimawandel ist dafür nur das populärste Beispiel: Überfischung, Überdüngung, Waldverlust, Bodenverlust, Artensterben, Grundwasservergiftung – all das bewegt sich inzwischen in erdgeschichtlichen Dimensionen. Das ist nichts Neues, und nicht einmal für die politische Rechte. Im Gegenteil, die verschiedenen Meldungen dazu sind so alltäglich geworden, dass sie in der Regel nur ein Schulterzucken hervorrufen.

HamburgerMenetekel 560 SinjeHasheiderProbenbild vom "Hamburger Menetekel", Ende Mai 2019 am Deutschen Schauspielhaus © Sinje Hasheider

Die rechte Antwort auf diesen Widerspruch ist klar und einfach: Es reicht nicht für alle, rüsten wir zum Verteilungskampf. Sprechen wir, wenn's sein muss, allen anderen das Lebensrecht ab. Oder noch besser: Geben wir ihnen die Schuld an der ganzen Misere! Die neoliberale Marktideologie braucht nur ein kleines Stück in Richtung Darwinismus verschoben zu werden, und schon scheint das Problem gelöst. Das ist alles andere als irrational und folgt einer klaren, instrumentellen Logik. "Das Klima wandelt sich, solange die Erde existiert. … Seit die Erde eine Atmosphäre hat, gibt es Kalt- und Warmzeiten", heißt es im Grundsatzprogramm der AFD. Wie Trump und viele andere Rechte leugnet sie nicht etwa den Klimawandel – sie bestreiten einfach, dass seine Ursache wesentlich im menschlichen Wirtschaften zu suchen ist. Die Botschaft ist ganz einfach: An unserer Art zu leben muss sich nichts ändern, sorgen wir einfach dafür, dass alle Anderen außen vor bleiben. Die Position ist wissenschaftlich unhaltbar, klar. Leider muss ich sagen, dass sie mir konsistenter erscheint als die einer Klimakanzlerin, die zwar in dramatischer Weise vor schmelzenden Eisbergen posiert, aber jahrzehntelang nicht die leiseste Anstrengung unternimmt, etwas dagegen zu tun. (Viele meiner Freunde und Kollegen sprechen mit Empörung von den Klimaleugnern der AFD und besteigen ganz selbstverständlich den Flieger nach München oder Wien – wer, bitte, soll uns das abnehmen?)

Wir Vielen sind Teil des Problems

Obwohl Europa an den Außengrenzen längst wieder hermetisch abgeschottet ist, profitiert die Rechte vom Phantasma eines "Flüchtlingsnotstands". Warum? Weil inzwischen nicht nur die Vorstellung, der westliche Lebensstandard ließe sich global verallgemeinern, obsolet geworden ist, sondern buchstäblich jeder Tag, den wir an diesem Lebensstandard festhalten, handfeste Fluchtursachen in anderen Regionen der Welt produziert. Auch das ist nicht neu. Die Rechte hat eine Antwort auf das Problem: Menschenrechte sind was für Schönwettertage, wenn es hart auf hart kommt, zählen Stamm, Nation, Familie. Es hat wenig Sinn, darauf mit moralischer Entrüstung zu reagieren. Edle Gesinnung ist wohlfeil, solange sie nichts zur Lösung des Widerspruchs beiträgt. "Werden die tugendhaften Liberalen, wenn die selbstverschuldete Selbstzerstörung erst einmal weit genug fortgeschritten sein wird, an ihrer gewissenhaften Unschuld festhalten können?", fragt Carl Amery. Dabei muss es nicht um Wasserstellen und Reiskörner gehen: Im Wahlkampf 2009 stand die Brandenburger Linke für einen Ausstieg aus der Kohleförderung. An der Regierung beteiligt, kassierten sie dieses Ziel: Rund 20 Prozent des Haushalts fließen aus der Braunkohle in die Landeskassen – 20 Prozent weniger für Museen, Theater, Schwimmbäder, Kindergärten? Wen kümmern da Klimaopfer im südlichen Afrika.

Wenn die Hypothese nur zum Teil richtig ist, wird ein Kampf gegen Rechts nur zu gewinnen sein, wenn es eine glaubwürdige linke Antwort auf den oben beschriebenen Widerspruch gibt. Im Moment scheint sich noch nicht einmal die Phantasie sehr weit in diese Richtung zu bewegen. Obwohl vollkommen unhaltbar, ist die Hoffnung, alle Menschen dieser Erde werden eines schönen Tages so leben können wie wir (und am besten so wie wir urbanen Künstler*innen!), immer noch weit verbreitet. Dafür sind wir leider zu viele. Und auch wir Vielen sind – das ist die bittere Wahrheit – bisher nicht Teil der Lösung, sondern Teil des globalen Problems. Die linke (oder vielleicht auch nur liberale) Idee universeller Lebensrechte auf diesem Planeten lässt sich glaubhaft nur vertreten, wenn wir Wege aufzeigen können, unseren Ressourcenverbrauch drastisch zu reduzieren. Das ist alles andere als banal; die Situation ist so dramatisch, dass ein komplexer Umbau der Gesellschaft – wirtschaftlich, kulturell, politisch – in relativ kurzer Zeit nötig ist. Und das, ohne die Freiheitsgewinne der letzten 50 Jahre zu verspielen. Ein glaubhaftes Engagement gegen rechts muss deshalb mit einer radikalen Ausrichtung auf eine solidarische Verteilungs-, Klima- und Ressourcengerechtigkeit verbunden sein. Wer die Dramatik der Situation – wie sie von unzähligen Wissenschaftler*innen beschrieben wird – leugnet oder auch nur verschweigt, muss sich nicht wundern, wenn rechte Ideologen allen Appellen und Erklärungen zum Trotz auf dem Vormarsch sind. Jedes Weiter so treibt uns, noch bevor uns das ökologische Desaster mit voller Wucht erwischt, dem politischen Desaster entgegen – es ist das Produkt unserer Rat- und Tatlosigkeit, entspringt buchstäblich der Mitte unserer Gesellschaft.

Tschirner Christian c bastian lomsche uChristian Tschirner wurde 1968 in Lutherstadt-Wittenberg geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Tierpfleger, später ein Schauspielstudium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Er erhielt ein Engagement als Schauspieler in Frankfurt/Main, wurde dann freier Regisseur und Autor. Seit 2009 ist er Dramaturg, zunächst am Schauspiel Hannover, seit 2013 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

Kommentare  
#1 Essay Christian Tschirner: Nachfragefragend 2019-04-17 12:18
von wem ist das zitat im 2. absatz? und wohin führt der link? da ist kein*e autor*in erkennbar - wäre für hinweis dankbar!

(Danke für die Nachfrage. Diese Angabe hat gefehlt. Das Zitat stammt von Mathias Wörsching, das ist jetzt auch im Text ergänzt. Freundliche Grüße – sd/Redaktion)
#2 Essay Christian Tschirner: die schweigende Communityfragend 2019-04-24 02:33
... interessant, dass die sonst so kommentar-wütige nachtkritik-community hier seit einer woche schweigt - die blasen-diskussionen wie die gerade heißgekochte zur volksbühnen-nachbesetzung offenbaren sich da doch auch als schutzraum vor der welt da draußen.
danke jedenfalls an redaktion und autor für einen text, über den ich aber auch nach einer woche noch nachdenke.
#3 Essay Christian Tschirner: TermineArkadij Zarthäuser 2019-04-29 17:54
Ich will mich bei dem, was "fragend" an dieser Stelle alles so offenbar geworden ist, nicht lange aufhalten (der Dreischritt des Kommentars Nr.2 ist für meine Begriffe hinlänglich bekannt , in durchaus (im wahrsten Sinne des Wortes "gewollt") ärgerlicher Art zusammengefügt aus Unterstellung, Forderungshaltung und einem gehobenen Daumen zu einem Artikel, der es in der Tat verdient, daß nach ihm, ohne Nennung etwaiger Hinsichten, was denn so zu denken gab, lediglich der Daumen gehoben wird, um sich moralisch vor einer -eigens subsummierten community- damit zu brüsten, ihn gelesen und kommentiert zu haben ...- ich selbst muß jetzt bezüglich des Inhaltlichen mißlicherweise an dieser Stelle zunächst in ähnlicher Form verbleiben, da ich zu einem späteren Zeitpunkt zu posten gedachte und mir das Tempo nicht durch irgendeinen Aktionismus diktieren lassen möchte- ), an dieser Stelle nur darauf hinweisen, daß das "HAMBURGER MENETEKEL" in den Teilen "Kongreß" (ab 15:30 Uhr jeweils) und "ZUKUNFTSMUSIK" (jeweils ab 20 Uhr) an den Tagen 24., 25. und 26.5.2019 im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu erleben sein wird. Heute ist in gewisser Weise ein Jahrestag, da ich genau seit dem 29.4.2018 (seit der Spielplanvorstellung zu diesem Termin) von jenem Projekt weiß und seitdem auf meinem "Theaterfahrplan" habe (ich habe mich für den 26.5. entschieden; an diesem Tag kommt zu den 8 Schulen noch eine neunte hinzu, in der mein Wahllokal liegt). Entschuldigen Sie bitte, "fragend", daß ich den hier vorliegenden Text dann an der Praxis gemessen, die ich erlebte, zu "würdigen" versuchen werde; vorher habe ich aber noch eine Mondlänge Zeit, mir in aller Ruhe die einzelnen Schulen in ihrer Umgebung zu gewärtigen, nach der guten alten Methode "Rias".. post scriptum: Die Spielplanvorstellung für die Spielzeit 2019/2020 des Deutschen Schauspielhauses ist auf den 12. Mai terminiert (Beginn: 11 Uhr).
#4 Essay Christian Tschirner: Werdet unregierbar!PM 2019-05-13 22:24
"In den nächsten zehn Jahren werden viele von uns sich zwischen faschistische Bewegungen und ihre Ziele stellen müssen; nicht nur im physischen Raum, sondern auch im politischen, im medialen, kulturellen und rechtlichen Raum. Denn die Erben von Hitler und Mussolini versuchen, das humanistische Denken, den Rationalismus und die Wissenschaft aus diesen Räumen zu verdrängen. Wenn ich Recht habe, wird dies zu einem Globalen Frühling führen – danach wird die jetzige Zeit des Irrationalismus und der Fremdenfeindlichkeit wie die letzte Zuckung einer alten Welt der Hierarchien und des Aberglaubens erscheinen. Um dahin zu kommen, müssen wir eine Reihe von Reflexen entwickeln, die es uns ermöglichen, den Menschen radikal gegen Autoritarismus und Maschinensteuerung zu verteidigen."

Essay von Paul Mason im aktuellen freitag: www.freitag.de/autoren/der-freitag/werdet-unregierbar?fbclid=IwAR2W0pXuMD6NzkfIeR15HljjxKjq0LL6FfSjfs_CC1Q_23d7Vu5l72p8aJQ
#5 Essay Christian Tschirner: Gemischte Gefühle Arkadij Zarthäuser 2019-06-21 18:22
"Vermischtes aus gemischten Gefühlen", so habe ich selbst gerade meine folgenden Notizen-Splitter, ich sehe einfach, daß es zu mehr heute nicht reichen wird, zumal ich ein wenig daran kränkele, noch Motivation für diesen Thread aufzubringen, nunmehr beinahe eine Mondlänge nachdem ich das "Hamburger Menetekel" am Europawahltag erlebte, überschrieben.
Warum tat ich das ? Warum "Gemischte Gefühle" ?? Unter anderem, weil nach den drei Abenden zum "Hamburger Menetekel" erstaunlich wenig Resonanz festzustellen gewesen ist; es gab spärliche Vorberichte von der Sache, aber Kritiken, Erfahrungsberichte, Würdigungen gar in den diversen Gazetten ??? Asche, niente !! Dabei wäre, wie ich es im Thread zu "Nein zum Geld" kurz andeutete, zum "Hamburger Menetekel" wohl mindestens zu sagen, daß es ein trefflich koinzidenter Theaterausdruck der FFF-"Streiks" geworden ist, wohl der stärkste theatrale Resonanzraum dieser mindestens im bundesdeutschen Raum !
Gretas Erststreik ist am 20. August 2018 gewesen, währenddessen sich das "Hamburger Menetekel" mit der Spielplanvorstellung am 29.4.2018
öffentlich zu formieren begann, mit seiner zunächst explorativen, zumindestens nach außen hin, und entwicklungsoffenen Ausrichtung, welche dann wohl auch von den FFF-Streikgegebenheiten eingeholt und nicht unwesentlich beeinflußt wurde. Selten habe ich bei einer Theatersache so sehr den Eindruck gehabt, daß ein Publikums-Nachgespräch (oder gar Publikumsnachgespräche etwa im Rahmen von "Tagen der offenen Tür" an den betreffenden Schulen) einen gehörigen Zugewinn erwirtschaften könnten, muß ich gestehen, denn, wie es den Schülern selbst in den Monaten so ergangen ist, wie die Entschlüsselung der diversen Menetekel-Zeichen letztlich (wie kontrovers zum Beispiel ?) vor sich gegangen ist, wie allerlei Alltagserfahrungen (zum Beispiel beim "Abnehmen", also "Durchpausen" der Teks) beschaffen gewesen sind, davon erfuhr und erfahre ich seitdem eigentlich beinahe sträflich wenig (bei all der Aktivität, die dafür steht, ist das ein bemerkenswerter Befund, finde ich). Ein wenig wirkte dann auch die Veranstaltung selbst so, auch Pausengespräche zwischen den dreiteiligen "Lesungs-"Parcours und der Zukunftsmusik ließen das immer wieder vernehmen, als würden die Schüler, grob gesagt, ein wenig vorgehalten, um in einer Verbindung aus Backstageführung und politisch gerade angesagten Vorträgen zu brisanten Themen gleichsam chorisch bloß mehr sekundierend (!) zu agieren, also in etwa so, als hätte die Idee mit den Referaten schon gestanden und die Schüler dann erst dabei ins Spiel gekommen sind, diese Idee (irgendwie unangreifbar) zu motivieren (gerade die Spielszene, die meinen rosafarbenen Parcours eröffnete, wirkte in eben diesem Sinne sehr künstlich, sehr wenig wie aus persönlicher Schülerperspektive je empfunden und entwickelt, nicht wirklich dystopisch: Jugendliche, die ihr Verschwundensein, ihr "Simulacrondasein" bejammern und dann vor der Expertin in Sachen Internetrgeschichte der "Heilsbotschaft" entgegenzufiebern; im Alltag sehe ich dagegen vermutlich eben jene Schülerinnen und Schüler in einem ganz anderen Selbstverständnis als User der neuen Medien, als ihre vehementen Einforderer und Genießer). Denn natürlich war diese spannende Theatersache, fast möchte ich die interessanten Vor- und Pausengespräche mit einigen VertreterInnen anwesender Initiativen und Organisationen bzw. nicht minder mit anderen "Kursisten" und überhaupt ihr Wirklichwerden als Indiz für die Qualität der Erfahrung
anführen, welche das "Hamburger Menetekel" ermöglichte, alles - nur kein Schulstreik !! Mich verwundert insofern auch ein wenig die Einleitung Herrn Tschirners, daß die Einwände von Eltern bzw. Lehrern so vehement gewesen sein sollen bezüglich einer "Desillusionierung der Jugend" etwa, zumal Herr Zimmering mit einigen der Schulen bereits in "Heimaten" zusammengearbeitet hat.

Zudem sind es ja auch (sogar mehrheitlich) Schulen, zB. ausdrückliche "Club of Rome"-Schulen, die sogar dafür bekannt, gar ausgezeichnet mitunter, dafür sind, auf besagte Weise die Jugend zu "desillusionieren" - auch die Einleitung wirkt für mich dann leider wieder so, als halte man die Schüler (oder gegebenenfalls die Sorgen von Lehrpersonal bzw. Eltern) hier ein wenig vor (for sake oft the message). Zwei Institutionen der Jetztzeit (und nicht der Systemwandelzeit einer möglichen Zukunft) machen hier etwas mit Schülern, wohl sehr wohl auch soetwas wie Vertrauen befördernd, einfordernd, benötigend; das ist nun einmal irgendwie das Scharnier, wo dieser, nicht "Streikäquivalent" sein könnende, Theatertag notwendig ins Knatschen geraten muß, schon rein institutionell verstanden; von einer Reibung, einer produktiven, einer als problematisch empfundenen mitunter, einer überhaupt thematisierten, erfahre ich nichts. Was mir auch ein wenig fehlt an der Sache, ist soetwas wie eine "Expertenvielstimmigkeit" (Rede und Gegenrede) in den einzelnen Segmenten; oder sollen wir diese Experten so unter der Rubrik "alternativlos" tatsächlich in der Danielrolle fassen, als strebten in etwa die realen Zungen, die quasi gekaperten Sprayer, die annährend um die Zukunft sich betrogen wähnende (?!!?) Jugend mit ihren Zeichen, ihrem neuen Wein , vorbehaltlos in die Schläuche unserer ältesten Seminarsystemprogramme - das geht mir, katalysiert durch die "Mitleidenden" (ich finde diese Signaposition aus "Das halbe Leid" an dieser Stelle wirklich passend) von der FH Flensburg (und ihren leidigen Alternativfragen, die zu entschieden daherkamen und zu wenig wirklich Wege voneinander zu scheiden vermochte, die explizit wählbar gewesen werden, so daß stets ein diffuses "Ist schwieriger, ist komplizierter" den Fritz Zorn in uns evozieren könnte) für wahr zu glatt. Wenn es im Programmheft etwa sinngemäß heißt, daß die Graffitis entweder etwas besagen und es Bände über unsere Gesellschaft spricht, wenn man diese geflissentlich übergehe, oder nicht minder Bände über unsere Gesellschaft, wenn das wirklich nur Schmiererei wäre, so klingt das jedenfalls für meine Ohren auch noch so, als ginge man gar nicht davon aus, daß es mit uns , unserer sprichwörtlichen gesellschaftlichen Mitte, wirklich so schlimm bestellt ist, daß das ja eigentlich garnicht sein könne ; der Text von Herrn Tschirner scheint mir da von einem anderen Kaliber zu sein.
Ich sehe allerdings schon einen Unterschied, ob jemand zum Zwecke einer Liberalismuskritik auf die Pointe einer auch nach kommunistischer Hegelianerei quasi Stellenbeschreibung für einen Faschismus, hier den Hitler-Faschismus, auf selbsterfüllende Systemlogik der Geschichtsdialektik, auf ihren wunden Punkt, verweist oder diese Argumentations- und Provokationsfigur gleichsam inhaltlich bejaht, außerhalb ihrer argumentativen Rolle. Herr Tschirner hat hier an dieser Stelle meineserachtens an etwas erinnert, das, für eine neue Selbstpositionierung dringend erforderlich, geschichtlich tatsächlich (auch gegen etwaigen Aktionismus übrigens, siehe den dankenswerterweise zu stehen gekommenden Passus über inflationären Gebrauch) aufgearbeitet und in Anschlag gebracht gehört, denke ich, allerdings muß da für meine Begriffe viel mehr Lebiges rein, denn der Alltagsmensch redet sehr oft (und nicht immer zu unrecht), so, daß etwas zu voll ist (beziehungsweise scheint), und wer über "Flugscham" zu berichten hat, der sollte wohl auch nicht zu ferne legen, wie der Traum vom Fliegen so entstehen kann, um es ein wenig dunkel , ich gestehe, es hier (zunächst) gegenüber dem "Hamburger Menetekel" dabei bewenden zu lassen. Wenn irgendeine(r) etwas Weiterführendes zum "Hamburger Menetekel" gesichtet haben sollte, zB. auf der Netzseite einer der beteiligten Schulen oder sonstwo im Medienhallraum, würde ich gerne davon lesen und ggfls. wieder darauf einzugehen versuchen, denn spannend war das Projekt..
#6 Essay Christian Tschirner: Bruno LatourKulturalswandel 2019-06-22 10:23
Ein Problem in unserer Theaterlandschaft:
Die Klimakatastrophe hat ganz offensichtlich keinen oder nur einen marginalen Platz in den Spielplänen...und im Diskurs.
Es sei dringend empfohlen für Theatermacher*innen und Kritiker*innen:
"Das terrestrische Manifest" von Bruno Latour
#7 Essay Christian Tschirner: Dank + mehrArkadij Zarthäuser 2019-06-22 18:51
#7
Vielen Dank für diese Leseempfehlung, die, genau zum 72. Geburtstag Bruno Latours, zudem auch noch sehr zeitig ist. Ich sprüh es an jede Wand, daß ich mich immer wieder über aufrichtige Empfehlungen dieser Art freue (zunächst las ich mir die im Netz befindlichen Rezensionen aus der ZEIT (27.6.2018, Elisabeth von Tadden) bzw. vom Deutschlandfunk Kultur (26.7.2018, Andrea Roedig) durch, was auch eher nach Empfehlung, mindestens Reibung, klang) , wie ich mich, irgendwie anders gesehen, auch immer wieder über solche Rechtzeitigkeiten freuen kann, so wie es jetzt, wieder etwas anders, rechtzeitig noch sein könnte, mir hier an der HMT noch den "Sportchor" (nach Elfriede Jelinek) zu geben, der sich dann auf seinen Weg zum Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielstudierender (23.6.-29.6.2019, im DT Berlin) machen wird. Dort wird "Sportchor" (des 3. Studienjahrgangs der HMT Rostock) dann am 27.6.2019 (um 20 Uhr) zu sehen sein. lg aus HRO
#8 Essay Christian Tschirner: wichtigster TextKulturwandel 2019-07-16 11:23
Der sehr wahrscheinlich wichtigste Text der Saison.. herzlichen Dank!!.leider zu wenig diskutiert im Forum. Jetzt böte sich nochmals eine Chance...
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