An der Wasserfront

von Andreas Wilink

Köln, 15. September 2018. "Teufelslachen" bescheinigte Daniel Kehlmann in der Dankesrede zur Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises vor zwei Wochen in Berlin seiner Romanfigur. Das diabolische unterscheide sich, nach einer Definition von Milan Kundera, vom Lachen der Engel dadurch, dass mit ihm ein "kompromissloser Blick" auf die Welt, wie sie ist, und "die Kraft der Unversöhnlichkeit" Ausdruck fände. Da hört der Spaß auf – oder fängt gerade erst an.

Das Leben als (unangenehmer) Traum

Kehlmann versetzt in seiner mehr poetischen als historischen Nacherzählung "Tyll" Ulenspiegel in die Epoche des sich aktuell zum Jubiläum rundenden Dreißigjährigen Krieges von 1618 und behauptet, verdeckt, Zeitgenossenschaft. Der Autor vermisst die Welt von Gestern – Brünn, Wien und Augsburg bis Holstein und Den Haag – beflissen gelehrsam und streift doch leichtfüßig sprunghaft durch sie hindurch. Der lineare Zeitstrang krümmt sich unter seiner Hand. Nicht umsonst ist der Spiegel Tylls Requisit, zu dessen Paten hier unter anderem das Volksbuch, Grimmelshausens Simplicissimus, Gryphius, Shakespeare und Charles de Costers Roman aus dem 19. Jahrhundert gehören.

tyll 302 560 tommyhetzel honorarfreiNarr mit Königspaar: Robert Dölle, Melanie Kretschmann, Marek Harloff, Peter Miklusz als Tyll
© Tommy Hetzel

Artifiziell als post-barockes, dezent ironisches Totenbuch konstruiert, verdanken die 500 Seiten vermutlich auch Umberto Eco so einiges. Der Fluchtpunkt Vergangenheit, mit "unversöhnlich" geschärftem Auge betrachtet, und das Welttheater als Spielform sind für Stefan Bachmann ideale Markierungen. Entlang derer er schon Genesis, mythische Vorzeit ("Merlin") und das träumerische Spanien des 16. Jahrhunderts (Claudels "Der seidene Schuh") in Bilderbögen eingeschlagen hat. Das Leben ein Traum, stilisiert in wasserfesten Kostümen des 17. Jahrhunderts, wenn auch kein angenehmer.

Schwer geerdete Luftnummern

Olaf Altmanns wadentief unter Wasser gesetzter Bühnenboden im Kölner Schauspiel-Depot produziert ölig schillernde Doppelungen, Brechungen und Spiegelungen – Element des Ungewissen in unser aller Existenz. Der Totenfluss schlägt Wellen. So also schwimmen Herrschende und Beherrschte jammervoll in der Geschichte. Viel Dunkel herrscht in diesem Feuchtgebiet. Auch viel getreulich chronikalisches Erzählen, begleitet teils von wummernd vibrierendem Getön. Über weite Strecken mutet es an, als würden Subjekte und Objekte Bruegel'scher Panoramen und Miniaturen wie Krippenfiguren im leeren Raum aufgestellt und verschoben. Das Inwendige, das der literarische Text hervorkehren kann, wirkt in der – wenngleich streng geführten – Inszenierung dann doch veräußerlicht.

tyll 777 560 tommyhetzel honorarfreiAuf der Blutspur: Peter Miklusz als Tyll und Ensemble © Tommy Hetzel

Dem Schelm ist jede Naivität ausgetrieben, Tyll in den Episoden, Moritaten und Fantasie-Überblendungen nicht aus Jux und Tollerei da. Der Tod seines Vaters Claus – Opfer der Jesuiten und des kuriosen Universalgelehrten Athanasius Kircher (in prägnant geschnittenem Profil: Simon Kirsch) in einem Hexer-Prozess – und sein Verrat an ihm hat den Müllersohn traumatisiert. Und veranlasst ihn, sich gemeinsam mit der Bäckerstochter Nele (quirlig: Kristin Steffen), dem Gaukler Pirmin (ein halb mephistophelisch aasiger Robert Dölle) als ihrem Lehrmeister und Schinder sowie dem Esel Origines auf und davon zu machen. Tylls Luftnummern sind schwer geerdet. Er bewegt sich in einer Blutspur: zwischen Katholischen und Protestanten, Gott und Teufel. Oft ist dieser Tyll nahezu ein Phantom, anwesend und dabei passiv, ist weniger Wahrsager als Wahr-Lauscher und Wahr-Schauer. Peter Miklusz mit breit wehen Kasper-Lippen deutet ihn, gegen Ende des langen Abends, vom Anfang her, dem gewaltsamen Ende seiner Kindheit – der Vergewaltigung. Er erfindet sich selbst: aus dem Schmerz.

Auf Abstand

Der Frechdachs im grün-roten Rhomben-Trikot unter der Schellenkappe, der Clown mit offener Identität, der vorgibt, Tyll zu sein, oder dem die anderen diese Rolle zuschreiben, hat und hält – wie überhaupt alle Figuren – Abstand zu sich selbst. Auf Bachmanns fluidem Spielboden erst recht. In einer entseelten Welt schauen die Spieler, die häufig eher Berichterstatter sind, auf sich wie auf Partikel eines geborstenen Kosmos: Hochgestellte wie der schwedische Schlachtensieger Gustav Adolf und die englische Elisabeth Stewart (Melanie Kretschmann) samt Gatten, dem gescheiterten böhmischen Winterkönig Friedrich ohne Land (rührend schwach: Marek Harloff), oder das geschundene Armsünder-Volk.

Der Spötter-Narr hat – angesichts verheerender Gewalt und Grausamkeit und bei allem notwendigen Erinnern – die Funktion, halbseliges Vergessen und tröstliches (Wieder-)Erkennen aus der Geschichte zu ziehen. Und, was kein Kleines ist, zu überleben!

 

Tyll
nach Daniel Kehlmann, Bühnenfassung: Julian Pörksen, Stefan Bachmann
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Komposition und Musik: Matti Gajek, Choreografie: Sabina Perry, Licht: Hartmut Litzinger, Dramaturgie: Julian Pörksen.
Mit: Robert Dölle, Marek Harloff, Simon Kirsch, Melanie Kretschmann, Nicolas Lehni, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Jörg Ratjen, Kristin Steffen, Ines Marie Westernströer, Markus Westphal.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.schauspiel.koeln

 

Kritikenrundschau

Einen "starken Spielzeitauftakt" hat Hartmut Wilmes gesehen und schreibt in der Kölnischen Rundschau (17.9.2018): "Schon Kehlmanns Episodenreigen verwirbelt Privates mit Politischem und montiert die Zeittafel eigenwillig neu. Bachmann und Dramaturg Julian Pörksen gehen mit ihrer Vorlage ebenso frei um." Bachmann schäle "bildgewaltige Schlüsselszenen" aus dem Stoff, seine Inszenierung lasse "viele Facetten des Buchs leuchten: den Zwiespalt zwischen Forschung und Aberglaube – verkörpert in Simon Kirsch als Drachenkundler Athanasius Kircher – vor allem aber das Motiv- und Parteienknäuel des Kriegs, das heute als Chiffre für das Frontenlabyrinth im Nahen Osten taugt".

"Wer 'Tyll' gelesen hat, wird vielleicht noch deutlicher die ausgeklügelte Struktur des Buches erkennen, wer nicht, kann der Handlung dennoch leicht folgen", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (17.9.2018). "Die Werktreue, die sich Kehlmann einst vom deutschsprachigen Theater zurückgewünscht hat, Bachmann liefert sie." Es gehe alles seinen streng gezirkelten Gang. "Das saugt manchmal etwas Energie aus dem doch sehr dankbaren Stoff, schafft im Ausgleich aber Klarheit und Konzentration. Und jede Menge höchst eindrücklicher Bilder."

"In ihren prächtigen Kostümen arrangieren sich die edlen Damen und Herren immer wieder zu den schönsten, raffiniert beleuchteten Tableaus. Was dann an Atmosphäre noch fehlt, steuert der Musiker Gajek bei", beschreibt Anke Dürr auf Spiegel online (17.9.2018). So könnten sich Stefan Bachmann und sein Dramaturg Julian Pörksen ganz auf Kehlmanns Erzählkraft konzentrieren. "Sie haben den Roman klug eingekürzt und geordnet, ohne ihn komplett seiner raffinierten Komplexität zu berauben." Anfangs habe man noch den Eindruck, sie wollten vor allem Strecke machen, so wenig Raum haben die einzelnen Episoden. "In der zweiten Hälfte des fast vierstündigen Abends aber nehmen sie sich die Zeit, die Szenen wirken zu lassen."

"Exquisites Bilder- und Kostüm-Theater" hat Karin Fischer von Deutschlandfunk (17.9.2018) gesehen. Der Theaterabend könne seine Mittel gegenüber der Romanvorlage behaupten, enthalte sich aber jeder Botschaft: "Als ob wir aus der Geschichte nichts zu lernen hätten." Olaf Altmanns Wasserbad löst bei der Kritikerin "zwiespältige Gefühle" aus: "Es symbolisiert die morastigen Schlachtfelder von damals, leuchtet aber noch die schlimmste Szene, etwa als Tylls Vater als Hexer gehenkt wird, in höchst ästhetischen Bildern aus." Klug als Stationendrama gerafft sei die Romanerzählung; die Regie überlade die Figuren nicht mit Text, lasse Daniel Kehlmanns "humorigen Erzählerton" zu seinem Recht kommen und setze etwa durch Theater-Anspielungen eigene Akzente. Dem Tyll verhelfe Peter Miklusz, "mal diabolisch grinsend, mal kindlich staunend, foppend oder misanthropisch redend, zu jener Leichtigkeit und Schwere, die er braucht: als traumatisiertes Kind, als Zeitzeuge und als im Lauf der Geschichte zu einigem Ruhm gekommener Narr", so Fischer.

Paradox erscheint es Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (18.9.2018), dass "ausgerechnet anlässlich der Feier der Subversion und der Regellosigkeit" eines Tyll Ulenspiegel "die sonst übliche Regiewut zur Ruhe" komme: "Als hätte der Autor Daniel Kehlmann auch bei der Inszenierung seines Textes eine Hand im Spiel, ein Autor, von dem man ja seit seiner Salzburger Rede aus dem Jahr 2009 weiß, dass er das 'Regietheater' nicht nur skeptisch beäugt, das wäre untertrieben, dass er ihm vielmehr die offene Feindschaft bis in den Tod erklärt hat." Bachmanns "Tyll" sei "eine strenge und anstrengende Kunstübung. Erstaunlich textfromm obendrein". Krumbholz bemerkt "pure Schönheit", wobei er die fantastischen Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes hervorhebt. Aber: "Keine Vermischung, keine Ironie, keine Anarchie".

"Das Theater kann dem Roman nicht das Wasser reichen", befindet Andreas Rossmann von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.9.2018). Gesehen hat er Erzähltheater, "das Kehlmanns Sprache in ihrer Schönheit reproduziert, aber theatralisch nicht viel mit ihr anzufangen weiß: Augenfutter für Lesemuffel, das in seiner Cinemascopebreite von den dräuenden Sounds des Musikers Gajek suggestiv unterlegt wird." Die Bühne von Olaf Altmann sei eine "fluide, doch starke Grundlage, die vieldeutig symbolische Wellen schlägt", aber als "eine allzu dominante Setzung" das szenische Spiel einschränke und reduziere; wobei das Kölner Ensemble dennoch "zu ungewohnt großer Form" auflaufe.

Kommentare  
#1 Tyll, Köln: beflissen gelehrsamKaltenbröck 2018-09-16 22:31
Ich habe eine Kritik erwartet und erhielt eine Darstellung der Kultur- und Theoriebeflissenheit des Autors. Wie war es denn nun, ganz banal zu sprechen und nicht aus dem Durchschuss zu deuten: Warum hat es dem Autor nicht gefallen? Schafft das Stück, was das Programm ankündigt? Was sagt die Inszenierung als Spielzeiteröffnung aus? Sagt sie überhaupt etwas aus, beansprucht mithin Zeitgenossenschaft, wie es angeblich die nahezu ausführlicher als die Inszenierung besprochene Romanvorlage tut?

Geht es neben aller Metaphernträchtigkeit noch nebulöser als hier: "Das Inwendige, das der literarische Text hervorkehren kann, wirkt in der – wenngleich streng geführten – Inszenierung dann doch veräußerlicht"? "Viel Dunkel herrscht in diesem Feuchtgebiet." Genau.
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