Im Reich der Betonköpfe

von Sascha Westphal

Essen, 11. August 2018. Der entscheidende Satz fällt schon recht früh. Er stammt von dem syrischen Arbeiter Ahmad. Und so wie der Schauspieler Mustafa Kur ihn hervorstößt, ist er mehr als nur Ausdruck einer Beobachtung, sondern wird zur flammenden Anklage. Für Ahmad ist das riesige Zementwerk, das der französische Baustoffkonzern Lafarge bis in den Herbst 2014 hinein im Nordosten Syriens betrieben hat, eine Miniatur Syriens. Wer die Geschichte dieser Fabrik, die am 19. September 2014 von IS-Kämpfern eingenommen wurde, erzählt, berichtet der Welt zugleich von allem, was in Syrien seit dem Ausbruch der Proteste gegen das Assad-Regime geschehen ist.

IS-Truppen vor den Toren

In "The Factory", einem Auftragswerk der Ruhrtriennale, lassen der Autor Mohammad Al Attar und der Regisseur Omar Abusaada eine Frau und drei Männer von der Zementfabrik erzählen, die Lafarge nicht einmal schließen wollte, als die IS-Truppen schon kurz vor deren Toren standen. Jeder der vier hat seine Perspektive, und ihre Geschichten kollidieren immer wieder. Die Fakten selbst sind dabei relativ unstrittig, aber sie lassen sich ganz unterschiedlich interpretieren. So entsteht nach und nach ein komplexes Geflecht von Erzählungen und Rechtfertigungen, von subjektiven Wahrheiten und eigennützigen Motiven, das vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel über die Interessen verrät, die den syrischen Bürgerkrieg bis heute befeuern.

Factory1 560 DavidBaltzer uDie von Frankreich im Stich gelassene Zementfabrik als Sinnbild für Syrien. Von links nach rechts:
Lina Murad, Saad Al Ghefari, Ramzi Choukair und Mustafa Kur in "The Factory" @ David Baltzer

Anders als alle anderen internationalen Konzerne hat sich Lafarge nicht mit Beginn des Bürgerkriegs aus Syrien zurückgezogen. Die Verantwortlichen in Paris wollten das gigantische Werk unbedingt halten. Also sind ab 2011 Gelder an verschiedene Kriegsparteien geflossen. Auch der IS hat mehrere Millionen Dollar erhalten. In der gleichen Zeit wurden aber die im Werk tätigen syrischen Arbeiter ihrem Schicksal überlassen. 2012 kam es zu mehreren Entführungen von Lafarge-Mitarbeitern oder deren Familienangehörigen, bei denen der Konzern untätig blieb. Die Entführten mussten selbst das Geld aufbringen.

Selbst als im Spätsommer 2014 schon klar war, dass die Strategie von Lafarge nicht aufgehen würde und der Verlust der Fabrik quasi unvermeidlich war, durften die letzten verbliebenen Arbeiter die heftig umkämpfte Region nicht verlassen. Wer vor der heranrückenden Front fliehen wollte, dem wurde mit Kündigung gedroht.

Jenseits einer Wahrheit

All das haben die durch eine von Ahmad geschriebene E-Mail angestoßenen Recherchen der von Lina Murad gespielten französischen Journalistin Maryam zutage gefördert. Ihre Suche nach der Wahrheit über die Fabrik steht im Zentrum von Mohammad Al Attars Stück, das strukturell einer typischen Film- oder Fernsehdokumentation gleicht, es gibt kaum Dialoge oder klassische Spielszenen. Meist wenden sich die vier Figuren, zu denen neben Maryam und Ahmad noch Firas, ein einflussreicher syrischer Geschäftsmann und ehemaliger Anteilseigner der Fabrik, und Amr, ein syrisch-kanadischer Unternehmer mit engen Verbindungen zu dem Großkonzern, gehören, direkt an das Publikum. Al Attar schneidet ihre Erzählungen wie ein Filmemacher gegeneinander und simuliert so Offenheit. Scheinbar findet keine Wertung statt. Alle vier haben ihre Haltungen, und die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Hinter Masken

So offen und demokratisch ist Omar Abusaadas Inszenierung allerdings nicht. Sie bezieht von Anfang an eindeutig Stellung und lenkt neben dem Blick auf die vier Protagonisten dieses Recherche-Projekts auch die Sympathien des Publikums. Zu Beginn tragen Maryam, Firas und Amar von Mohamad Omran gestaltete Masken, die ihre Gesichter in Betonbüsten verwandeln. Sie nehmen sie zwar umgehend ab, setzen sie zum Ende hin wieder auf und werden so zu absurden Denkmälern ihrer eigenen Geschichte.

Factory2 560 DavidBaltzer uAllein auf weiter Flur: Whistleblower Ahmad (Mustafa Kur) © David Baltzer

Nur Ahmad hat keine solche Maske. Er bleibt er selbst, das ausgebeutete Opfer, das im Publikum gleichermaßen Wut provozieren und Mitleid erregen soll. Während Mustafa Kur zum Schluss mit Tränen in den Augen referiert, wie Ahmad und seine Familie unter widrigsten Umständen in die Türkei fliehen, und das Leid der syrischen Zivilbevölkerung regelrecht greifbar macht, präsentieren Lina Murad, Ramzi Choukair und Saad Al Ghefari ihre Figuren als eitle Selbstdarsteller, die Menschen wie Ahmad nur benutzen.

Moralische Karikatur

Al Ghefaris Amr hat zwar von Beginn an die Züge eines narzisstischen Aufschneiders, der sich fortwährend selbst in Szene setzt. Aber am Schluss geht er eindeutig zu weit. Mit der entsprechenden Geste legt er nahe, dass Amr selbst in dem Moment, in dem er von einem Attentäter angeschossen und schwer verletzt wird, noch ein Selfie macht. Der Kriegsgewinnler wird damit endgültig zur Karikatur. Auch Lina Murad und Ramzi Choukair überzeichnen Maryam und Firas mehr und mehr. Die moralische Entrüstung der Journalistin ist nichts als eine Pose, die ihr Aufmerksamkeit sichert, und der Unternehmer entpuppt sich als manipulativer Macho, dessen Frauenverachtung symptomatisch für sein ganzes Handeln ist.

Der Hang von Regisseur Abusaada zum Denunziatorischen auf der einen Seite und zur Verklärung der Ausgebeuteten auf der anderen ist zweifellos wirkungsvoll. "The Factory" bewegt einen. Aber Empörung, die sich selbst genügt, steht einer genauen Analyse der Strukturen, die Mohammad Al Attar offenlegen will, letztendlich im Weg.

 

The Factory
von Mohammad Al Attar
Deutsche Übersetzung von Sandra Hetzl, englische Übersetzung von Anna Galt
Uraufführung
Regie: Omar Abusaada, Musik: Saleh Katbeh, Bühne & Kostüm: Bissane Al Charif, Video: Rami Farah und Samer Ajouri, Licht: Denise Potratz, Regieassistenz: Amer Okdeh, Maskendesign: Mohamad Omran.
Mit: Lina Murad, Ramzi Choukair, Saad Al Ghefari, Mustafa Kur.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.ruhrtriennale.de


Mehr zu: von Regisseur Omar Abusaada und dem Dramatiker Mohammad Al Attar besprachen wir im September 2017 Iphigenie bei der Volksbühnen-Bespielung des Flughafengeländes Berlin-Tempelhof

 

Kritikenrundschau

Die Inszenierung erzähle die Geschichte der Fabrik aus verschiedenen Perspektiven, chronologisch gebrochen und in einem starken Bühnenbild von Bissane al Charif. "Die Anklage richtet sich eindeutig gegen den menschenverachtenden, nur auf seinen Profit bedachten Konzern", so Stefan Keim von Deutschlandfunk Kultur (11.8.2018). "'The Factory' ist ein starker, gut gespielter Abend, Dokumentartheater mit surrealen Momenten."

Politisch brisant sei die mittlerweile justiziable Verstrickung des französischen Baustoffkonzerns Lafarge in den syrischen Bürgerkrieg, schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (13.8.2018) – allerdings nicht in der Form, in der Al Attar und Abusaada sie im Essener Pact-Zollverein erzählten. "Dafür unterscheiden sich die vier Perspektiven, die in diesem Rechercheprojekt gegeneinander geschnitten werden, nicht exemplarisch genug." Firas und Amr, als Geschäftsleute die beiden sinisteren Figuren des Quartetts, blieben diffus; was sie, außer Geldgier, antreibe, sei "eine Leerstelle in der offenen Dramaturgie des Stücks", so Krumbholz. Regisseur Abusaada neige dazu, "die Figuren in die Karikatur zu treiben", szenisch passiere in der einem Fernsehfeature ähnelnden Aufführung "wenig Aufregendes", so Krumbholz: "Statt den Stoff und seine Botschaften nach und nach aus Szenen und Dialogen herauszuschälen, wird der Inhalt mühsam vorangetrieben wie ein widerspenstiger Esel. Das bleibt, so beklemmend die Geschehnisse an sich sind, zäh und ermüdend."

Trotz der unterschiedlichen Wahrheiten, die das Geflecht unterschiedlicher Figuren-Perspektiven anbiete, machten Al Attar und Abusaada in ihrer dokumentarischen Produktion "keinen Hehl daraus, für wen sie Partei nehmen", schreibt Benjamin Trilling in der taz (13.8.2018): "Leuchtende Arbeitshelme bedecken am Ende der Inszenierung die Bühne wie eine allegorische Schädelstätte aus einem barocken Trauerspiel, während der Fabrikangestellte Ahmad das Leid der syrischen Zivilbevölkerung artikuliert."

Packend findet Britta Heidemann von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (14.8.2018) das klassische, monolog-lastige Dokumentartheater, weil sich in den Erzählungen der vier Figuren zunehmend "Verflechtungen und Widersprüchlichkeiten" offenbarten. Die Wirren des Bürgerkriegs würden in den Selbstdarstellungen der Protagonisten spürbar: "Jeder von ihnen kann sich erklären, hat lautere Absichten, macht nichts falsch. Und doch prallen Interessen aufeinander, werden Grenzen überschritten, bröckelt die Wahrheit mit jedem Satz dahin. In den (leider seltenen) Szenen der Interaktion explodiert ausdrucksstark das ganze Drama eines Krisenherds." Lang dauere der Beifall für "einen aufklärerischen Abend", so Heidemann.

Zu viel gesprochen, zu wenig gespielt – so fasst Nadine Kreuzahler vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (28.9.2018) ihren Eindruck von "The Factory" zusammen. "Wenn die Darsteller dann doch spielen, wirkt es wie eine Bebilderung des Gesagten: hier mal eine Tanzeinlage, da eine nachgestellte Entführungsszene, hier ein Bekenntnis vor der Kamera oder eine Selfie-Parodie. Aber das Stück besteht vor allem aus Textflächen", so Kreuzahler. "Man kann gar nicht so schnell begreifen, wie man lesen muss. Das ist schade, weil der Stoff nicht die Wucht entfalten kann, die er verdient hätte." Wichtig sei die Inszenierung dennoch, als "aufklärerisches Theater, das die Verstrickung von internationalem Geld und Warlords auf Kosten von ganz normalen Menschen zeigt".

"Im Ganzen bleibt der Wirtschaftskrimi im Vagen", befindet Christian Rakow in der Berliner Zeitung (28.9.2018). Was auf den ersten Blick wie dokumentarisches Theater anmute, lasse "die Kerntugenden des Genres vermissen: die genaue Schilderung von sozialen und politischen Verhältnissen". Der Abend dringe nicht zur Welt vor, "nicht zur konkreten Lage in Syrien, zu den Konfliktparteien und ihren Zielen", so Rakow. Er biete lediglich "eine unausgeleuchtete, wiewohl suggestive Allegorie fürs Große und Ganze": dass "die Fabrik eine Miniatur war: von Syrien und allem, was da geschieht".

Der "größere Zusammenhang" der Verwicklungen des Westens in der syrischen Zementfabrik von Lafarge werde "kaum deutlich", schreibt Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (9.10.2018) nach der Berlin-Premiere dieser Inszenierung. Wie bereits in der Berliner Vorgängerarbeit "Iphiegenie" vermisst der Kritiker "eine klare Dramaturgie, auch Spannungsaufbau. Einzig der finale Monolog Ahmads kommt dem nahe."

 

Kommentare  
#1 The Factory, Berlin: Fülle von InfosKonrad Kögler 2018-09-28 13:33
Der 1 h 45 Minuten kurze Abend bietet eine Fülle von Infos. Das Wort dominiert, bis auf die Videowand von Bissane Al Charif und die Live-Musik von Saleh Katbeh lenkt nichts von den Monologen ab. Zu den wenigen wirklich eindringlichen Szenen zählt der Schluss-Monolog von Ahmad, der zwischen einem Minenfeld aus Bauhelmen von seiner Flucht aus Syrien erzählt.

Im „Talking Heads“-Stil referieren die Spieler*innen die Standpunkte und Erinnerungen der realen Personen, die sie verkörpern. Informativ, aber trocken wie Schwarzbrot wird Statement an Statement gereiht. Ein Kontrast zum furiosen Spielzeit-Auftakt mit Anne Teresa de Keersmaekers „Brandenburgischen Konzerten“ aus der Delikatessen-Abteilung.

Komplette Kritik: daskulturblog.com/2018/09/28/the-factory-volksbuehne-dokumentartheater-kritik/
#2 The Factory, Berlin: seltsam verzwergtSascha Krieger 2018-09-30 12:04
Wo der Autor die Geschichtsversionen mit einiger Offenheit neben- und gegeneinander stellt, bezieht der Regisseur klar Stellung. Ahmad ist der einzige, der zu beginn und am Ende keine zementartige Maske trägt, er ist die ehrliche Haut, das beklagenswerte Opfer, der Spielball der Interessen. Von denen wir viel zu wenig erfahren. The Factory bleibt bei den individuellen Geschichten und persönlichen Schicksalen. Doch wo in der Konzentration auf das Konkrete in Iphigenie das große Ganze zumindest aufschien, erscheint es hier seltsam verzwergt. Auch weil Abusaada die Geschichten auf Distanz hält, sie in karikaturhaftem, plakativ exemplarischem Rollenspiel verpackt, die Figuren zu Thesenträgern, zu Stereotypen degradiert, die jedoch in ihrem Selbstbezug kaum einen Blick auf die Strukturen von Macht und Menschenverachtung erlauben, um die es doch eigentlich geben soll. Die intriganten Hampelmänner stehen im Licht, die Drahtzieher bleiben im Schatten. In der Mitte der Bühne von Bissane Al Charif steht eine Art Betonbunker mit Einschusslöchern. Das System des Vertuschens bleibt stehen, egal wie viel Textwüsten über die Lafarge-Ermittlungen an die Betonmauer projiziert werden.

Das Lafarge-Fiasko bleibt ein erschrckendes, aber eben auch ein wenig lachhaftes Schelmenstück, das zur Empörung aufruft: gegen die skrupellosen Kriegsgewinnler und die profitgierigen Konzernbosse. Wir als dies zulanssende gescellschaft, bleiben außen vor, mit uns hat das nichts zu tun, wir dürfen uns mitempören – wohlfeil und konsequenzlos. Erst ganz am Ende bröckelt die Fassade: Da liegen von Taschenlampen erleuchtete Bauarbeiterhelme auf der Bühne, an die waren Opfer von Gewalt und Raubtierkapitalismus gemahnend, erzählt Kur als einsame Stimme in die Stille hinein vom einsamen Überleben, der Flucht aus der Fabrik und dem Land, gibt den Opfern, den Betroffenen, den Held*innen ein Gesicht, eine Stimme, ein Licht in der Dunkelheit. Ein berührender Moment, ein wahrhaftiger und unmittelbarer – nach eineinhalb Stunden blutleerer Politrevue, die dieser wahnwitzigen, unfassbaren Geschichte viel zu wenig entspricht. Und die doch gehört werden sollte. In den Händen eine*r anderen Regisseur*in vielleicht?

Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2018/09/30/maskierte-wahrheit/
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