Sündenböcke und der Stoff, aus dem Legenden sind

von Sabine Leucht

München, 13. April 2018. Etwas Besseres als die Willenskundgebung der CSU gegen seine Vertragsverlängerung hätte Matthias Lilienthal gar nicht passieren können. Denn seit er diese offiziell zum Anlass dafür genommen hat, seine Intendanz der Münchner Kammerspiele über 2020 hinaus nicht zu verlängern, sind ihm kulturpolitische Aufschreie und Solidaritätsbekundungen sicher. Die Debatte über das, was er in bis dato gut zweieinhalb Spielzeiten in München auf die Beine gestellt hat, ist in sichere Fahrwasser zurückgekehrt: Hier das konservative München, dort die Berliner Avantgarde, das alte deutsche Sprech- gegen das internationale Performancetheater, Museum gegen lebendige Veränderung, schwarz gegen bunt. Und noch klarer: Politische Einmischung gegen die Freiheit der Kunst. Wer könnte sich da ernsthaft auf die andere Seite schlagen?

 Verschiedene politische Positionen

Zugegeben, es klingt reichlich lahm, wenn nun Marian Offman für die Münchner CSU die "Sündenbock"-Rolle von sich weist. "Wir sind nicht schuld, dass er geht", sagte er gestern in der Dringlichkeitssitzung des Kulturausschusses im Münchner Rathaus. Die Entscheidung, Lilienthals Vertragsverlängerung nicht zu unterstützen, sei "still" gefallen, nur dem Kulturreferenten Hans-Georg Küppers verkündet worden und "dann haben wir in der Presse davon gelesen".

Matthias Lilienthal Kammerspiele 268 Sima DehganiIntendant Matthias Lilienthal © Sima DehganiNun ja, immerhin hatte anschließend Richard Quaas (CSU) via Facebook das Ende dieser "x-beliebigen Experimentierbühne" bejubelt. Aber verantwortlich dafür, dass der Zampano in Lilienthal nun gerade dem Hasenfuß nachzugeben scheint, sind sicher andere Erwägungen als die Angst vor der CSU, die im Münchner Stadtrat ohnehin keine Mehrheit hat.

Mit zwei Anfragen hatte sich der Kulturausschuss am Donnerstagnachmittag zu beschäftigen: Die erste stammt von der Fraktion Die Grünen/Rosa Liste, die angesichts der jüngsten CSU-Äußerungen den Konsens über das Theater als Experimentierort in Gefahr sieht. Und die Fraktion der FDP treibt um, dass Namen potenzieller Lilienthal-Nachfolger*innen in den Feuilletons und auf Facebook zirkulieren, aber nicht im Stadtrat, wo sie hingehören.

Déja-vu: Quo vadis Kammerspiele von 2004

Während Küppers das Gros von Wolfgang Heubischs (FDP) Fragen schnell abhaken kann – wird es eine offene Ausschreibung für den oder die Neue geben (nein) oder gezieltes Ansprechen geeigneter Kandidat*innen (ja) – und dem Stadtrat versichert, dass er ihn auf dem Laufenden hält, beantwortet sich Florian Roths Frage von allein. "Ist jetzt hier Kulturkampf angesagt?", will der Grüne wissen. Nein! Nur ein wenig parteipolitisches Farbe-Bekennen. So holte Roth eine CSU-Anfrage von 2004 heraus mit dem Titel "Quo vadis Kammerspiele?“ (Zur Erinnerung: Damals sorgte gerade Frank Baumbauer in München für Unruhe) und fährt der SPD an den Karren, dass sie zu Lilienthals Verzicht "im Nachhinein schade sagt", anstatt "sich andere Mehrheiten zu suchen".

Kaufmann3 560 DavidBaltzer Bildbuehne uNicolas Stemanns "Der Kaufmann von Venedig" aus dem Jahr 2015: ein Abend, der ein Aushängeschild sein sollte, aber wie schlechte Perfomance-Nachhilfe rüberkam © David Baltzer

Die SPD sagt in Gestalt von Klaus Peter Rupp dann nochmal schade, verweist auf den Zuwachs an jungen Zuschauern und darauf, dass der Erfolg eines Theaters sich nicht an wirtschaftlichen Kriterien messen lässt. Das wiederum geht in Richtung CSU, für die Offman die Sache mit dem Experiment inzwischen relativiert – lustigerweise nicht ohne von seinem "Spießrutenlauf in bürgerlichen Kreisen" zu berichtet, wo offenbar die Angst umgeht, die an Lilienthals Experiment Beteiligten könnten das "Sprechtheater verlernen" (sic!). Aber: "Selbstverständlich sieht auch die CSU- Fraktion das Theater als Ort des Experiments, allerdings nur des künstlerischen, nicht des finanziellen."

Pro und Contra Experimentierort

Die Zahlen sind bekannt: Nur 63 % Auslastung plus Abo-Rückgänge. Von einer "finanziellen Misere", mag nach Lilienthals Klageandrohung hingegen keiner mehr sprechen. Nur Küppers, der sie klar verneint.

kueppers c Alessandra SchellneggerHans-Georg Küppers, Münchens Kulturreferent. 
© Alessandra Schellnegger

Es ist schon fast tragisch, dass eine kulturpolitisch so ahnungslose Fraktion wie die CSU sich nun Matthias Lilienthals Kapitulation auf die Fahnen schreiben darf. Andererseits leistet der Gang der Ereignisse schon jetzt der Legendenbildung Vorschub. So spricht der Lilienthal-Besteller und –Nach-wie-Vor-Befürworter Küppers vollmundig davon, dass die Kammerspiele in den letzten Jahren "mit völlig neuen Inhalten und Inszenierungsformen den deutschen Theaterdiskurs geprägt" hätten und fällt dabei in eben jene superlativistische Behauptungsrhetorik, die es Lilienthal in München unnötig schwer gemacht hat, weil er in die Stadt und in ihr Theater hineingepoltert ist, als hätte es Popkultur, Internationalität, ästhetische und inhaltliche Experimente hier zuvor nie gegeben.

Schwarzweißmalerei

Und genau das ist jetzt die Gefahr: Dass der künstlerische Aufschrei gegen die Politik in eine ganz ähnliche Schwarzweißmalerei wie diese verfällt und neben den tollen Abenden, die es zweifelsohne gab, zum Beispiel die maßlos arrogante Performance-Nachhilfe in Nicolas Stemanns Der Kaufmann von Venedig vergisst oder das saloppe Negieren struktureller Unterschiede zwischen freier Szene und Stadttheater, das die wohl schlechtesten Arbeiten von She She Pop und Gob Squad hervorgebracht hat. Dass es wunderbares Performancetheater gibt und inhaltlich wie ästhetisch unterkomplexes, und dass der Grat zwischen Programm-Diversität und Beliebigkeit schmal ist. Aber Lilienthal hat in den letzten zweieinhalb Jahren dazugelernt. Und wenn man sich von der oder dem Neuen, die oder den Küppers bis Ende 2018 zu finden hofft, etwas wünscht, dann nicht weniger Risiko, aber mehr Fingerspitzengefühl!

 

Mehr dazu:

Intendant Matthias Lilienthal verlässt 2020 die Münchner Kammerspiele - Meldung vom 19. März 2018

Protestbrief für Lilienthals Münchner Kammerspiele - Meldung vom 5. April 2018

 

 

Kommentare  
#1 München und Lilienthal: EinspruchNikolaus 2018-04-15 23:45
Dass She She Pop die "wohl schlechteste(...)" Arbeit an den Kammerspielen hervorgebracht hat, ist einerseits eine "maßlos arrogante" Behauptung, die hier ohne jedes Argument gebracht wird, andererseits auch schlicht Unsinn: "50 Shades of Grey" war ein Abend, wie ihn She She Pop so vorher noch nicht geschafft hat, mit sehr viel neuen Experimenten mit den digitalen Medien, mit einer sehr kalkulierten Untersuchung dessen, was man als "post-faktisches Ich" (Theater Heute) bezeichnen könnte und mit einer großen Spannung durch das Zusammenwirken von Schauspielern und Performern.
Und natürlich hätte Lilienthal "etwas Besseres" passieren können: Dass nämlich die Politik erkannt hätte, dass hier im Stadttheater das gemacht wird, was kurzfristig Zuschauer kostet, langfristig aber dessen Zukunft eröffnet: Die Integration neuer Künstler*innen wie Rabih Mroué ins Ensemble, die Öffnung des Hauses für Künstler wie Felix Rothenhäusler, Alexander Giesche, Trajall Harrell, die in ihren Arbeiten längst die unproduktive Trennung von Performance und Schauspiel hinter sich gelassen haben, Choreographien mit Schauspielern erarbeiten und Spieler aus anderen Bereichen der Kunst auf die Sprechtheaterbühne holen, die intelligente Art der Öffnung des Hauses für Geflohene, die "Schwarzkopie" Anta Helena Reckes und die mit ihr verbundenen Debatten über die Diversifizierung der Institution Stadttheater - es gäbe so vieles zu erwähnen, was ganz und gar nicht selbstverständlich ist und den CSU-Politikern hätte auffallen müssen, soweit sie denn Kultur-Politiker sind. Aber vermutlich halten sie es halt doch mehr mit Heimat-Geschwurbel als mit Kultur. Und dazu allerdings passt nicht, was Lilienthal versucht (hat).
#2 München und Lilienthal: Demo am 18.4.Max Kuhlmann 2018-04-16 10:01
Die Münchner haben noch Gelegenheit, sich zu zeigen: Etwa auf der Demo für Matthias Lilienthal auf dem Marienplatz am Mittwoch, den 18.4. um 19.00 Uhr! Auch wenn man in München gerne sagt: "Wir lassen die Politik machen", sollte man auch einmal deutlich werden. Auch der Schlusssatz von Sabine Feucht, es gehe um "Fingerspitzengefühl", ist doch etwas fraglich. Braucht Kunst und Kultur Fingerspitzengefühl?
#3 München und Lilienthal: Kammer! Jetzt!Christian Steinau 2018-04-16 10:09
Ich lebe erst seit sechs Monaten in München. In dieser Zeit war jeder
Besuch in den Münchner Kammerspielen ein Erlebnis. Jede Aufführung war
eine Aufforderung sowohl über das Theater, aber auch über die Stadt
München nachzudenken. Ich habe z.B. "Trommeln in der Nacht", "Tiefer
Schweb", "Caspar Western Friedrich" und "Hellas München" gesehen und war
begeistert.

Diese Vielfalt, diese Lebendigkeit eines Stadttheaters, diese
Auseinandersetzung mit anderen Künsten weit über das Theater hinaus: Das
war schlicht und weg großartig. Auch die Diskursveranstaltungen, die ich
gesehen habe, waren alles andere als unterfordernd. Die Veranstaltung in
der Reihe "Episode" zu der neuen Staffel von "Twin Peaks" mit dem
Kulturkritiker Danilo Scholz war auf einem Niveau, auf das jede Stadt in
der Welt neidisch sein könnte.

Da ich mich in meiner Dissertation mit der Konstruktion ästhetischer
Werturteile auseinandersetze, verfolge ich die Debatten um die Münchner
Kammerspiele seit längerem aufmerksam. Mein Eindruck deckte sich nicht mit
dem Gros der vorherrschenden Meinungen. Ich habe auch die Empfindung, dass
sich manche Verantwortliche in der Münchner Stadtgesellschaft mit einer
dominanten Meinung abgefunden haben, die sich nicht mit meinem Erleben in den Aufführungen und Veranstaltungen deckt. Das ist eine Verkürzung der
ästhetischen Debatte, das ist eine Beschneidung der Möglichkeit dessen,
was durch Kunst im allgemeinen und Theater im Besonderen möglich ist.

Es geht in diese Fall nicht um Matthias Lilienthal, sondern um die - wie sie schreiben - Ahnungslosigkeit der CSU in Sachen Kulturpolitik.

Vor diesem Hintergrund habe ich als Zuschauer nach der Sitzung des
Kulturausschusses und dem Rücktritt Chris Dercons die Initiative ergriffen
und einen Termin am kommenden Mittwoch Abend vor dem Marienplatz reserviert.

Am Mittwoch. 18.04. von 19-22 Uhr werden wir deshalb auf dem Marienplatz ein Bekenntnis zur „Kammer! Jetzt!“ und eine Positionierung aller politischen Parteien zum Thema einfordern.

Möglichst viele kulturelle AkteurInnen der Stadt können dabei zu Wort
kommen und ihre Visionen für ein Stadttheater formulieren, das als solches
die Stadt zu repräsentieren vermag, das für die Vielfalt der Biographien
und Lebensentwürfe der Stadt steht. 

Mittlerweile stehe ich mit anderen Zuschauerinnen und Zuschauern,
Theaterwissenschaftlern, Kulturschaffenden und den Initiatoren der
Petition an den Stadtrat und des offenen Briefes in Kontakt die meine
Initiative begrüßen und unterstützen.

Kammer! Jetzt!
Zur Zukunft der Münchner Kammerspiele
Mi., 18. April 2018, 19–22 Uhr
Marienplatz München



Kulturpolitische Grabenkämpfe sind in München angekommen. Konservative und Wirtschaftsliberale fordern Konventionalität in der Kunst. Ein Angriff auf das Theater als unabhängigen Ort des Aufbruchs und des Experiments. Progressive politische Kräfte scheinen unterdessen den kulturpolitischen Richtungsstreit zu verschlafen und kommentieren allenfalls lustlos die Entwicklungen der Münchner Kulturpolitik.

Wir werben und kämpfen für ein Stadttheater, das als solches die Stadt zu repräsentieren vermag, das für die Vielfalt der Biographien und Lebensentwürfe der Stadt steht. Ein Theater, das seine Geschichte als Ort ästhetischer Experimente fortschreibt. Wir fordern ein Bekenntnis der politischen Parteien zugunsten der Kammerspiele als einem Haus, das die Internationalität und Diversität der Stadt spiegelt und als Stadttheater Ort der Begegnung sein will.

www.facebook.com/events/183030185661607/?active_tab=about
#4 München und Lilienthal: abwegigChristoph 2018-04-16 11:37
"Mein Eindruck deckte sich nicht mit dem Gros der vorherrschenden Meinungen. Ich habe auch die Empfindung, dass sich manche Verantwortliche in der Münchner Stadtgesellschaft mit einer
dominanten Meinung abgefunden haben, die sich nicht mit meinem Erleben in den Aufführungen und Veranstaltungen deckt. Das ist eine Verkürzung der ästhetischen Debatte, ..."

Entscheidungen, die Ihrem Empfinden zuwiderlaufen, sind deswegen keine Verkürzung der ästhetischen Debatte. Sich mit einer "dominanten" Meinung abzufinden, gehört zur Demokratie. Wie das Demonstrationsrecht natürlich auch, insofern ist gegen diesen Impuls ja gar nichts zu sagen. Trotzdem frage ich mich, wofür/gegen hier demonstriert wird? Schließlich wurde Herr Lilienthal nicht von der CSU abgesetzt, er hat das Handtuch geworfen. Jeden Respekt vor diesem Schritt, aber offenbar hat Herr Lilienthal die Entscheidung getroffen, ob nun aufgrund von Hinterzimmerdruck (was unschön wäre) oder aufgrund persönlicher Karriereerwägungen oder weil er selbst den Glauben an sein Münchener Projekt verloren hat. In jedem Fall scheint er mir nicht gerade kämpferisch gestimmt - soll man nun also den sprichwörtlichen Hund zum Jagen tragen? Das erscheint mir abwegig.
#5 München und Lilienthal: endlich sachlichChris 2018-04-16 12:33
Ich war froh, diesen Artikel zu lesen. In dieser klischeebeladenen Diskussion bemüht er sich endlich mal um Differenzierung! Egal, wie man den Abend von SheShePop fand: Es gelingen und misslingen Abende an den Kammerspielen. Eine experimentelle Herangehensweise ist ein wichtiger Baustein in der Münchner Theaterlandschaft. Experiment, wenn es ein solches ist, kann und muss auch scheitern dürfen. Aber das hat nichts mit schlecht betreuten und schlampig hingeworfenen oder undurchdachten Produktionen zu tun, egal welchen Formats oder welcher Herangehensweise. Deshalb sollte man Lilienthal die Chance geben, mit einer neuen starken Dramaturgie im Haus seine "learnings" umzusetzen. Denn das eigentlich Enttäuschende ist, dass er selbst dieses Schwarzweissdenken befördert und Klischees wie eine "Öffnung des Hauses" oder die konservative Mentalität, gegen die er ankämpfe, zur Ausrede für die oft nicht gut funktionierende Dramaturgie im Haus nimmt. Die Kammerspiele haben ein linksintellektuelles und liberales Publikum, das sich seit Baumbauer stark verjüngt hat und für sehr vieles offen ist, aber nicht für Unterkomplexität.
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