Kolumne: Experte des Monats - Dirk Pilz über Uwe Tellkamp, der im Dresdner Kulturpalast wusste, was er sagt
Knallharte Politik
von Dirk Pilz
14. März 2018. Diesmal eine Anmerkung zu Uwe Tellkamp. Es ist bereits viel zu seinem Dresdner Auftritt gesagt worden, auch von mir. Ich will nicht wiederholen. Aber es geht mir darum, wie jetzt die Causa Tellkamp diskutiert wird. Es ist bezeichnend.
Noch einmal zur Erinnerung: Uwe Tellkamp hat im Gespräch mit Durs Grünbein und der Moderatorin Karin Großmann unwidersprochen allerlei Lügen verbreitet. Ein Beispiel, das auffälligste: Er hat von "Mainstream-Medien", einem "Gesinnungskorridor" und einem "linksliberalen Lügenkartell" gesprochen. Er hat sich beklagt, dass man nicht "ohne Furcht" seine Meinung sagen könne. Das ist nicht nur deshalb falsch, weil er in Dresden einmal mehr sehr lang und sehr ausgiebig hat seine Meinung sagen dürfen, und zwar gänzlich furchtlos, nämlich begleitet von viel Applaus und Zustimmung. Es ist auch falsch, wenn man auf die jetzigen Beiträge in dieser sogenannten, im übrigen abermals auffallend weißmännerdominierten Tellkamp-Debatte schaut – die Meinungen und Wahrnehmungen gehen weit auseinander. Man lese, nur als Beispiele, die Verlautbarungen von Tilman Krause, Simon Strauß, Johan Schloeman oder Jens Bisky. Sie sind sehr verschieden.
Entweder er hat keine Ahnung – oder er lügt
Noch ein Beispiel aus den Aussagen, die Tellkamp ohne die Angabe von Belegen oder Begründungen als Tatsachen hingestellt hat: Kaum ein Flüchtling, der nach Deutschland komme, sei verfolgt, sondern Wirtschaftsmigrant; 95 Prozent wanderten in die Sozialsysteme ein. Das ist nachweislich falsch, und entweder hat Tellkamp keinerlei Ahnung, wovon er spricht – oder er verbreitet absichtlich Lügen. Und Lügen sind keine Meinung, sondern: Lügen.
Und auch dies ließe sich noch anführen: Mit dem Islam werde laut Tellkamp eine Religion importiert, die "mit unserer Auffassung von Werten, speziell dem Rechtssystem, nichts am Hut habe". Er hat in diesem Zusammenhang von einem "Großexperiment im Land" gesprochen und also unterstellt, dass "der Islam" mit "unserem" Rechtssystem unvereinbar sei. Das kann man nur behaupten, wenn man von allen innerislamischen Debatten um das Verhältnis von Religion und Staat, also auch von den dezidiert demokratiebejahenden, reformislamischen Positionen absieht und überdies dem Großteil der in diesem Land lebenden Muslimen pauschal unterstellt, gegen Staat und Demokratie zu sein. Das ist so offensichtlich falsch, dass man die Aussage Tellkamps nur als vorsätzliche Herabsetzung und Stigmatisierung Andersgläubiger verstehen kann.
Wer derlei Dinge verbreitet, kann nicht anders als Lügner bezeichnet werden, es sei denn, man verabschiedet jeden Wahrheitsanspruch und damit jeden Anspruch an ein aufschließendes, erkenntnisförderndes, vertrauensstiftendes Gespräch. Wer solche Lügen wie Tellkamp überdies als politische Meinung ausgibt, ist Populist, und weil es Aussagen sind, die im politischen Spektrum auf der rechtspopulistischen Seite vertreten werden, ist es Rechtspopulismus. Um das festzustellen, muss man kein Linker sein.
Je deutlicher der Riss, desto größer der Hass
Aber was geschieht jetzt in dieser Debatte um Tellkamp? Das Lügen wird in alle Richtungen entschuldigt und relativiert. Es wird über den "Maßstab der Nation", das ostdeutsche Befinden oder Moral gesprochen. Man müsse auch über Grünbein reden!, ruft es hier, und über die Moderatorin!, dort. Ohnehin müsse man alles richtig einordnen (hat Tellkamp damals im "Eisvogel" nicht schon komische Sachen geschrieben? Und spielt nicht komischerweise im "Turm" die Politik kaum eine Rolle?). Und es gibt, wie immer, natürlich auch jene vorgeblich politisch Abgebrühten, die sich ohnehin nicht die Finger schmutzig machen mögen und sich aus der Debatte raushalten zu meinen können, weil diese Debatte, klar doch, sowieso ganz falsch und niveaulos und erbärmlich und hysterisch ist.
Das sind nicht nur Positionen einer bequemen Überheblichkeit, sie wirken, als ginge es ihnen vor allem darum, ja nicht zu genau und zu lang bei dem entscheidenden Punkt zu bleiben: eben bei dem Versuch, das Lügen als Meinen auszugeben. Es gibt ohne Zweifel viel zu reden über Ostdeutschland, Moral und meinethalben Nation. Aber darum geht es in diesem Fall nicht. Man sollte deshalb, wenn das sprichwörtliche Reden mit den Rechten (und über sie) überhaupt einen Sinn haben soll, bei diesem entscheidenden Punkt bleiben. Denn was ist das politische Ziel solchen Lügens? Was ist die Absicht?
Diese hat dankenswerterweise der Propagandist der Neuen Rechten, Götz Kubitschek, unmissverständlich (und unwidersprochen) im Rahmen der Dresdner Diskussion auf den Punkt gebracht, indem er die rhetorische Frage stellte, ob nicht der Riss, der durch die Gesellschaft gehe, "unbedingt" sein müsse, weil "alles auf den Tisch" gehöre: "Ich bin strikt dafür, dass der Riss noch tiefer wird, dass die Sprache noch deutlicher wird." Das entspricht vollumfänglich der rechtsextremen politischen Strategie: Je deutlicher der Riss, desto größer der Hass, desto verfestigter die Ressentiments – die sich politisch bestens instrumentalisieren lassen.
Es geht um Politik
Es sind eben nicht bloße Rempeleien, die da in Dresden stattgefunden haben, wie Durs Grünbein jetzt sagt. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus, dem Neofaschismus, dem Rassismus ist kein Wettstreit in der Habermas’schen Arena des Argumentenaustauschs. Es geht um Politik, knallharte, rücksichtslose, kalte Politik.
Das sollten auch all jene bedenken, die naiverweise hoffen, man könne diese politischen Absichten irgendwie aussitzen. Jene, die glauben, man müsse den Rechten auch im Parlament eine Chance geben, sie seien schließlich demokratisch gewählt, als belebe der Einzug dieser Rechten in die Parlamente den politischen Diskurs, wie es der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf glaubt. Jene, die immerfort fürchten, die Rechten würden durch Kritik dämonisiert und stark gemacht. Sie sind so stark, weil ihnen nicht entschieden zuwider gesprochen und gearbeitet wurde. Sie sind so stark, weil ihre Absichten fortwährend entschuldigt oder verharmlost werden.
Er wusste, was er sagt
Deshalb: Wer so wie Tellkamp spricht, macht sich mitschuldig an einer Politik der Spaltung. Nein, das ist keine Stigmatisierung, wie es jetzt reflexhaft allerorten heißt, vom sächsischen Ministerpräsidenten bis zum Kommentar im Deutschlandfunk. Tellkamp wird nicht in die AfD-Ecke gestellt, er hat sich selbst dort platziert. Er wusste, was er sagt, und er wusste auch, von wem er dafür Beifall bekommt.
Bezeichnend ist aber, dass in diesem Zusammenhang von einer Ecke gesprochen wird, denn das menschenverachtende, rassistische, herabsetzende Denken sitzt in keiner Ecke, sondern in der Mitte, unter den feinen Leuten, den Gebildeten und Kulturliebenden, die sich für unbescholten und unbeteiligt halten. Auch das offenbart diese Debatte einmal mehr. Und das ist es, worüber zu reden ist: Der Schoß ist sehr fruchtbar wieder, aus dem all das kriecht.
Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.
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immer weniger wird zugehört, immer weniger werden auch kontroverse meinungen akzeptiert oder ausgehalten. sind wir, ist unsere demokratie so schwach??? die Reaktionen von herrn Pilz (und kollegen) erinnert mich sehr an die parole aus animal farm: "zwei beine gut, vier beine besser!"
ich vernmisse in Ihrer Kolumne "Knallharte Politik" Ihre fundierten Beweise.
Das Sie anderer Meinung sind ist völlig legitim, aber dann reden Sie doch mit Herrn Tellkamp und liefern Sie Fakten und korrekte Zahlen.
Es drängt sich die Frage auf - woher Sie ihre Informationen beziehen?
Da halten sich doch die Tellkamps die Bäuche vor Lachen und wiederholen ihre Lügen einfach nur, weil sie wissen, man schenkt ihnen Gehör und applaudiert ihnen aus Lust. Lust an der Lüge als eigene Haltung, weil man sich im Gesinnungskrieg befindet und der ernährt sich aus sich selbst heraus, und die Wahrheit hat darin traditionell keinen Platz.
Es ist die eigene Eitelkeit, das sich „jenes Falsche“ erlauben können, der Genuss des Widerstands, der Anfeindung, des eigenen Opfertums. Man opfert sich an der Gesinnungsfront und wird dafür noch einmal geliebt von den eigenen Leuten und schöpft den Genuss am Hass der Feinde noch einmal in vollen Zügen aus. Ein Husar der Lüge sein zu dürfen, das ist so aufregend. Diesen immerwährenden sinnlosen Kampf auskosten zu können, das ist der Sinn solcher Auftritte.
Und da werfen Sie anderen die Bequemlichkeit des Hochmuts vor, weil sie sich enthalten. Es wird, wie immer, keine Sieger in diesem politischen Krieg geben. Diese Anfeindungen wurden doch nun in den letzten zwanzig Jahren fein säuberlich vorbereitet. Man durfte sie erwarten, wenn man ein sensibles Gespür für Zeitgeschehen hatte. Eigentlich wunderte man sich, in seiner inneren Emigration, in die man zurückgedrängt wurde, über das lange Ausbleiben des längst zu Erwartenden. Nun ist es also da und wiederholt sich fleißig, weil es sich der Reaktionen sicher sein kann.
Die Vergeblichkeit ist nicht auf der Seite der Tellkamps, die Melancholie, die schwebende Trauer bleibt dort aus. Sie bedienen sich der nackten Lust und finden in jeder gegenteiligen Resonanz Befriedigung. Warum machen Sie sich zum Popanz derlei Lüste und Begierden?
Da ist keine Hoffnung. Keine auf Besserung. Keine auf Wahrheit. Dieser Anspruch ist obsolet. Es geht darum in der Vergeblichkeit nicht die Heiterkeit zu verlieren, das Menschliche, dort mit Texten und Reden anzusetzen. Das berühmte Strampeln im Moor treibt einen nur tiefer hinein in den Morast. Lassen Sie das doch, bitte! Man kann sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen und sei er noch so aufrichtig. Es ist die Zeit für heitere Vergeblichkeit, schwebende Trauer und „erhabene“ Melancholie, bis der Lustschauer dieses politischen Krieges vorüber gezogen ist. Dann kann man wieder wirklich produktiv arbeiten.
Bei den abgebrüht Überheblichen bis hin zu den verständnisvollen Trivial-Habermännern gibt es eine untergründige Übereinstimmungsgemeinschaft, dass man die Zukunft erahnen kann, wenn man in den Rückspiegel schaut.
Dass daraus ein starker Arm würde, der Stillstand oder gar Rückschritt produzieren kann, wird nicht etwa dadurch ausgeschlossen, dass sich mit diesen Gefreiten im Geiste niemand gemein machen möchte. Im Grunde sind es gestalten wie Spahn die retten. Der pinkelt vom 10 Meter Turm ins Becken, weil für ihn die Leute da unten ohnehin alles Nichtschwimmer sind. Das ist das schöne an der freien Marktwirtschaft, dass sie eine Kluft schafft zwischen Arm und Reich. Nichts finden wir mehr zum Kotzen als die Armut der anderen. Deswegen bringt der Storch keine Babies. Die sieht im Rückspiegel die herrliche Villa Krupp, gemeint war aber Jerichow im Klützer Winkel.
www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2016.pdf?__blob=publicationFile
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Mir scheinen 95% auch unrealistisch, aber auf der Grundlage von "mir scheinen ..." können wir ja wohl kaum diskursiv vorankommen, oder? Deswegen tun aufgeklärte Argumentator/inn/en, zumal wenn Sie die Gegenseite der Lüge bezichtigen, gut daran, nicht nur Gegenbehauptungen aufzustellen, sondern härteres Datenmaterial als Zeuge aufzurufen.
Andernfalls stecken wir in der "Ja - Nein - Doch"-Spirale. Und aus der müsste man als selbsterklärt aufgeklärt doch herauswollen, oder?
PS: Schon allein aus Multiplikatorgründen wäre hier Gegenevidenz besser als ein fortwährendes Hinundherschieben einer Beweispflicht.
Fakt danach bleibt: Selbst wenn Tellkamp undoder seine Quellen als Einwanderungsgründe ausschließlich "Humanitäre Gründe anerkennen - so liegen die allein bei 9,6 % der insgesamt Zugewanderten. Da kann dann die 95% nicht stimmen... Es gibt einige Signifikanzen, die möglicherweise die "gefühlte" überproportionale Zuwanderung aus rein auf unsere Sozialsysteme abzielenden Gründen bestärken mögen: so ist der Anteil von aus Erwerbstätigkeitsgründen bei eingewanderten Syrern, Irak, Afghanistan und Eritrea so gut wie 0, der Anteil der aus Bosnien Zugewanderten liegt jedoch bei 36,8 %, der der eingewanderten Amerikaner ist recht hoch, der Inder bei immerhin 21 % und auch aus dem Iransind 2,9 % wegen Erwerstätigkeit zugeandert... Bei den Indern deckt sich der Prozentsatz der Zugewanderten aus Erwerbstätigkeitsgründen als einziges Drittland mit dem Prozentsatz der von dort Zugewanderten aus familiären Gründen - was für einen geordneten Familiennachzug spricht. Der Anteil, der aus Afghanistan, Eritrea, Iran, Irak und der Türkei ZUgewanderten, die sich im Aufenthaltsgestattungsstatus oder im Status der Duldung befinden ist extrem hoch zwischen 56,3% für Afhganistaner und 17,% Türken... Auffällig ist ebenso, dass der Auswanderungsdruck aus Afghanistan und Eritrea beinahe gleich auf vier angegebene Gründe verteilt ist, wobei Studium, Erwerbstätigkeit oder Schulbesuch gar nicht messbar vorkommen: zwischen 53,6 und 56,3 % sind gekommen und werden zunächst geduldet, 31,4 bis 32 % machen Angaben zu ihren Gründen, die weder familiär, noch humanitär noch Erwärbtätigkeitsgründe sind und deshalb unter Sonstige zusammengefasst werden. Von insgesamt 100 % Zuwanderern 2016 entfallen auf humanitäre Gründe, Studium, Ausbildung und Schule, Erwerbstätigkeitsgründe und familiäre Gründe, die für jeden, der selbst einer Erwerbsarbeit nachgeht, Familie hat, studiert oder eine Schule besucht 42,6 % der Zugewanderten. Die wird er weder beklagen noch überhaupt in seinem Alltag als störend empfinden. Es sei, er hat selber keinen Ausbildungsplatz, keine Erwerbsarbeit, selbst keinen Familienzusammenhalt oder gar keine Familie oder selbst Probleme mit gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung als Mensch mit einer unbekannten oder mangelhaft bekannten Biografie... Der restprozentsatz, also mehr als 50 % der Zugewanderten hat aber lediglich "sonstige" Gründe und zwar ganze 36,3 % und 22,6 % haben immerhin angaben gemacht, die sie in den Status der Aufenthaltsgestattung befördert haben und der Duldung, der sie in der Tat berechtigt, an unseren Sozialsystemen zu partizipieren ohne beispielsweise denselben Kontrollen und Sanktionen ausgeliefert zu sein, wie es beispielsweise deutsche Hartz 4-Bezieher jeden Alters sind...
Nun wäre das alles leichter zu regeln, würde man den Einzug der Zuwanderer und deren Familiennachzug geordneter organisieren zum einen. Und zum anderen sich die Anwendung der Sozialsysteme im eigenen Land selbstkritischer anschauen und nachbessernd regeln. Ich meine nachbessernd nicht unbedingt in der Höhe der zu zahlenden Leistungen.
Allerdings wurde Kubitschek von Durs Grünbein widersprochen, wie ich finde. Und Kubitschek hat - wie oft, wenn man ihm widerspricht - heftig reagiert. Im Video ungefähr bei 1:45:35.
service.destatis.de/DE/karten/migration_integration_regionen.html
service.destatis.de/DE/karten/migration_integration_regionen.html#ALQ_AUSL
"links" greift die Macht an - das kann auch Stalinismus 2018 sein
Er meint, der Roman "Der Turm" sei auffällig frei von der Darstellung politischer Motivationen. Der Roman wurde sehr lautstark gelobt (mir war es zu lautstark: Ich habe ihn nicht gelesen) und wurde verfilmt und mehrfach auf die Theaterbühnen gehoben. Könnte es nicht sein, das "Unpolitische" ist der demokratischen Öffentlichkeit eben recht gewesen?
Jetzt - Jahre später - wird der Autor politisch auffällig. Mit Meinungen, die bei Teilen seiner Zuhörer nicht auf Zustimmung stoßen.
Mich interessiert die Frage, wie es zu dieser Meinungsveränderung kommt, oder anders: Wie entstehen in Deutschland politische Meinungen? Welche Erfahrungsunterschiede spielen eine Rolle? Sollen wir Ossis unkritisch in
einen Jubel für Gesamtdeutschland einstimmen - mit den immer noch anderen Erfahrungen, die wir zu machen haben und machten? Ist es nicht gerade die Kenntnis von Unterschieden und Widersprüchen, die Auseinandersetzung und Bewegung befördert?
Wer dominiert die Bildung politischer Meinungen in Deutschland?
Wie verhalten sich die Personen, die man allgemein zur "Politischen Klasse" zählt, zur Bildung ihrer Meinungen? Und wie werden diese Meinungen verbreitet, und wie und von wem kommentiert?
Mir scheint (aber vielleicht irre ich mich), in beinahe allen Disputen dieser Art und mit solchen Anlässen wird viel zu wenig nach den Ursachen und Wurzeln gefragt. Mit einem Streit darüber, wo die richtigen Zahlen zu finden sind, wird man der Sache nicht beikommen; und auch mit moralisierenden Wertungen nicht.
Aber möglicherweise meinen viele Diskutanten, die Ursachen seien bekannt,
aber nicht zu benennen -
da daran nichts zu ändern sei?
?
Mit nachdenklichen Grüßen
Peter Ibrik
a) Welche Zahl stimmt dann? Bitte konkret und mit Quelle. "Tellkamp übertreibt" haben schon Dirk Pilz und #7 behauptet ohne Quellen zu nennen.
Außerdem: Bitte bitte Uwe Tellkamp fragen, woher seine Angabe kommt. Ansonsten kommen wir überhaupt nicht weiter, denke ich.
b) Falsch! Klick auf "Kurz erklärt" liefert:
"[...] Außerdem leben in den östlichen Flächenländern anteilig besonders viele Ausländerinnen und Ausländer, die sich seit weniger als zwei Jahren in Deutschland aufhalten. Viele von ihnen sind als Schutzsuchende nach Deutschland gekommen und sind vermutlich noch nicht im gleichen Maße in den Arbeitsmarkt integriert wie Ausländerinnen und Ausländer, die sich schon länger in Deutschland aufhalten."
Es hat mit der Frage aus Nummer #13 insofern zu tun, als dass es nicht nur Mechanismen in Bezug auf die Sozialsysteme gibt, sondern auch auf die Arbeitsmarktsituation als solcher. Das zu analysieren halte ich für notwendig, um einer Antwort zu #13 näherzukommen.
@20: Sie schreiben "Mit einem Streit darüber, wo die richtigen Zahlen zu finden sind, wird man der Sache nicht beikommen [...]" Aha, dann machen wir also ohne Zahlen weiter und jeder kann nach Gutdünken seine Anekdötchen als allgemeingültig behaupten??
Meine Meinung: Allein mit Zahlen kommt man nicht weiter. Aber ohne Zahlen geht gar nichts.
es gibt VERSCHIEDENE statistiken (doch das ist ein anderes problem, welches man von vw-abgaswerten und den arbeitslosenstatisk weiß) ... hier eine statistik von der csu zum thema:
www.cicero.de/innenpolitik/csu-und-asylbewerber-die-ein-prozent-luege/60034
Was sollen diese sinnlosen kontraproduktiven Schuldzuweisungen? Fest steht: Wir müssen DRINGEND gesamtinnerdeutsch mit den richtigen Zahlen über die richtigen gefühlten Zustände reden! Und wir müssen dies tun, bevor wir das europäisch bereden. Wenn wir das hier nicht integrativ lösen, wird es Europa auch nicht lösen können-
natürlich eine von der csu interpretierte statistik - also von einem politiker - über die es keine aufregung gab, wie jetzt bei einem schriftsteller.
und übrigens:
"In der langen Geschichte der Auseinandersetzungen um die Äußerungen von Schriftstellern und Intellektuellen stellt der Fall Tellkamp allenfalls eine Randnotiz dar. Martin Walser (für seine Moralkeulen-Rede in der Frankfurter Paulskirche zur Debatte zum Berliner Holocaust-Mahnmal) und Peter Handke (für seine Haltung zum Serbien-Konflikt) befanden sich über Monate im Gegenwind politischer Debatten, in denen auf zum Teil sehr unerfreuliche Weise auch deren soziale Integrität angegriffen wurde." – Quelle: www.berliner-zeitung.de/29868680 ©2018
@ Unsänfte: Es klingt paternalistisch, was Sie da schreiben. Und zwar schon ganz allgemein deshalb, weil Sie in Ihrer Argumentation Menschen in nur zwei Kategorien einteilen wollen, die "Zugewanderten" und die "Angestammten". Als ob die "Angestammten" ein natürliches Recht auf ein homogenes "Nationalvolk" hätten.
Das ist postmoderne Begriffsschieberei.Es gibt auch einen Wald, und nicht nur einzelne Bäume.
@Inga: "Als ob die "Angestammten" ein natürliches Recht auf ein homogenes "Nationalvolk" hätten."
Vielleicht kein natürliches, aber ein GESETZTES Recht. Nennt sich Verfassung oder Grundgesetz. Und das unterscheidet nach Rechten und Pflichten sehr entschieden zwischen Staatsvolk und nicht zum Staatsvolk Gehörenden.
Für mich ist - abgesehen vom Grundgesetz - jeder sozial angestammt, der an einem Ort solange lebt, gelebt hat, bis er dort eine neue Generation in die Welt gesetzt hat bzw. eine neue mit-erlebt. Also beispielsweise die im Westen Deutschlands weit verbreitet italienisch-stämmige und die türkischstämmige sesshaft gewordene Community zählt für mich sozial zur angestammten Bevölkerung in Deutschland, auch dann wenn sie nicht bundesdeutsch eingebürgert sind und deshalb in Statistiken als Ausländer gelten. Es ist mir auch wurscht, ob das Grundgesetz das auch genauso sieht. Es könnte ja beispielsweise nachgebessert werden. Wenn in den Statistiken die Nichteingebürgerten der jeweiligen regionalen Bevölkerungen nach wie vor als Ausländer gezählt werden, erhöht das den prozentualen Anteil von Ausländern erheblich und dann verwischt das die Erhebungen zum ganz neuen Ausländeranteil mit ungeklärten Migrationshintergründen was die gesamtdeutsche Verteilung betrifft, erheblich. Ich unterscheide also wesentlich in angestammte Bevölkerung einschließlich längst sozialisierter ehemaliger Wirtschafts-Migranten und und angestammte, durch Mangel an innerdeutscher Wertschätzung benachteiligte Bevölkerung einschließlich nicht sozialisierter, traumatisierter Migranten, die wegen der wesentlich nicht-wirtschaftlich motivierten Migration auch wesentlich schwerer sozial integrierbar sind als die einst aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik gerufenen Migranten. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gab es im wesentlichen keine Gast-Arbeiter, außer zur Ausbildung. Es musste sie auch nicht geben, weil es zum Beispiel auch für Frauen sehr früh in der DDR nahezu Vollbeschäftigung gegeben hat. So war der Hausfrauenanteil z.B. in der weiblichen Bevölkerung bereits in den fünfziger Jahren, als er in der prosperierenden Bundesrepublik gerade seine schönsten paternalistischen Nachkriegs-Blüten trieb, bereits sehr gering. Es gab eher als in der Bundesrepublik die Normalität, dass Frauen auch in traditionellen, sogenannten Männerberufen ausgebildet werden konnten z.B. Es gab sehr frühe Einblicke und praxisnahe reguläre Erprobung von Schülern in die diverse Berufs- und Arbeitswelt, die weit über ein zweiwöchiges Praktikum in der 9. Klasse hinausging. Für männliche und weibliche Schüler ohne Unterschied. Und das alles hat ja was mit den Frauen der am weitesten verbreiteten dortigen Mittelschicht gemacht. Auch mit den Männern hat das was gemacht, dass die Frauen früher - bei allen auch in der DDR bestehenden Ungerechtigkeiten der Doppelbelastung und ungerechten Bezahlung- finanziell unabhängiger, berufspraktisch erfahrener und daher gesamtgesellschaftlich gesehen auch sozial-politisch einflussreicher waren als ihre jeweils gleichaltrigen Schwestern im Westen der heutigen Bundesrepublik. Während in der Bundesrepublik ab Ende der 60er Jahre die gebildete junge Generation den Aufstand gegen das Wirtschafts-Bürgertum und seine Institutionen probte, vollzog und dieses Bürgertum durch ein Nachfolge-Bildungsbürgertum ablöste, das heute den sich in Gefahr sehenden breit gewordenen sozialen Mittelstand bildet, hatte sich in der DDR das Kleinbürgertum von der "Diktatur des Proletariats" emanzipiert und einen neuen, kleinbürgerlichen Mittelstand gebildet, dem es zum Statuserhalt an einer Weltläufigkeit mangelte, die selbstbestimmtes Lernen und damit Bildungsaneingnung sozial unzumutbar verhindert hat - das sind keine Märchen, das ist in Kürze zusammengefasst der innerdeutsche Status quo. Und mit dem haben wir uns aktiv auseinanderzusetzen.
www.deutschlandfunkkultur.de/das-anwachsen-der-expertenschar-experten-sind-teil-der.1264.de.html?dram:article_id=414461