Wir alle werden sterben

von Tobias Prüwer

Dresden, 16. Juni 2017. Die Stimme verabschiedet sich. Im Guckkasten verlischt das Licht, jenes im Zimmer glimmt auf. Zeit zu gehen und die letzte Station in "Nachlass" zu verlassen. Als Acht-Kammer-Spiel realisiert Rimini Protokoll diesen Nachdenkraum über die letzte Reise am Staatsschauspiel Dresden. Grüppchenweise werden die Zuschauer für Minuten in verschiedene Lebenswelten geworfen und mit individuellen, in ihrer Tiefe variierenden Reflexionen über den Tod konfrontiert.

Die Zeit läuft ab, die Lebensminuten verrinnen beim Warten. Wie ein Hotelfoyer tut sich die begehbare Installation beim Eintreten auf. Die Decke des Ovals zeigt eine digitale Weltkarte mit simulierter Sterberate. Sekündlich ploppt irgendwo ein weißer Punkt auf, der Leichenzähler rückt weiter. Acht Schiebetüren geben wechselnd den Weg in die Kammern des Todes frei. Countdowns signalisieren, wann der Zugang möglich ist. In der Reihenfolge hat man freie Wahl.

Die letzten Dinge

Jede Kammer ist einem Menschen gewidmet, eine einem Ehepaar. Via Audio-, manchmal mit zusätzlicher Videoeinspielung berichten sie über ihr Leben und ihre Sicht auf das Sterben – als Personen sind sie nicht anwesend. Die aufwendig konstruierten Räume sind Orten ihres persönlichen Umfelds exakt nachgebildet. Durchs Fenster einfallendes wechselndes Tageslicht wird imitiert, bis zum Puzzlespiel im Regal ist Küche mit Eckbank eingerichtet.

Nachlass3 560 Samuel Rubio uEines der Zimmer in Rimini Protokolls "Nachlass" © Samuel Rubio

Ich nasche türkischen Honig in einem Gebetsraum ("Bitte Schuhe ausziehen!"), springe im Keller eines Basejumpers mit ihm in den freien Fall. Wasser bietet mir ein schwäbelnder Bankchef an. Realistisch wirkt der Raum fast bis ins Detail, die Dokumentenmappe auf dem Schreibtisch ist leer. Ebenso ungefüllt sind die Kartons in einem Archivraum, wo man herumstöbern darf. Die Hinterlassenschaften einer EU-Botschafterin sind nigerianische Fetische, Bücher und Akten, aber als leere Attrappen erweisen sich die unteren Kisten. Und die Abzüge eines leidenschaftlichen Fotografen sind pixelig-schlechte Ausdrucke eingescannter Bilder. Ich meine, den im Programmheft zitierten Walter Benjamin ächzen zu hören, von Kunstwerk, Reproduktion und so. Ist das hier also doch eine Simulation? Und wenn, spielt das eine Rolle?

Was bleibt? Was fehlt?

Man kann es lässlich finden, dass nicht jedes Detail echt ist. Das gruselige Gefühl, in den Dingen Toter zu wühlen, verschwindet natürlich. Aber was ist das für ein "Nachlass"? Die Räume sollen an die Menschen erinnern – nicht alle von ihnen sind tot –, aber nur ein bisschen? Zur die Installation antreibenden Frage "was bleibt?" gesellt sich ein "was fehlt?". Und die stellt sich nicht nur auf materieller Ebene.

Nachlass1 560 Samuel Rubio uBlättern in den alten Familienfotos in "Nachlass" © Samuel Rubio

Natürlich trifft mich die Konfrontation mit dem Tod, wenn eine Dame von geplanter Sterbehilfe spricht. Wenn jemand anderes meint, er sage nicht, was sein Kind alles angestellt hat, schießt es in meinen Kopf: "Okay, warum sprichst du das an, wenn du ein paar Minuten Zeit hast, Gedanken über das Leben und Sterben festzuhalten?" Nach Durchmessen aller Räume und dem Warten zwischendrin, kommt der Eindruck der Beliebigkeit auf. Das wird jedes der dargestellten Individuen mit Recht verneinen, aber was ihnen wichtig ist oder war, muss nicht mich betreffen. Ist dieser Begegnungsraum mit Todesgedanken für Leute gemacht, die keine Freunde, niemanden zum Gespräch haben?

Anwesenheit der Abwesenheit

Wir werden alle sterben. Darüber lohnen Gedanken, aber wahllose? Das eingeölte Rimini-Protokoll-Konzept, "Experten des Alltags" einzubeziehen, stößt hier an Grenzen. Schließlich ist jeder in Fragen nach den letzten Dingen so ein Experte – ohne jede Erfahrung. Dasein ist Vorlaufen zum Tode. Bei aller Empathie betrifft einen kein anderes Leben und Sterben so wie das eigene. Heidegger hat dafür den verquasten, aber passenden Ausdruck von der "Jemeinigkeit des Todes" gefunden. Gewiss, die persönlichen Räume ohne ihre Protagonisten drücken deren Fehlen aus, sind eine Anwesenheit der Abwesenheit. Aber von ihnen; ich kann mich nicht in meine Abwesenheit versetzen. Das ist das Paradox im Nachdenken über den Tod: Es bleibt notwendigerweise abstrakt.

Das Grundproblem des dokumentarischen Theaters verstärkt sich hier. Ein berührendes fiktives Schicksal kann mehr auslösen als ein echter, mies vorgetragener Lebenslauf. Wenn es sich dann mit dem Tod noch um eine existenzielle Ebene handelt, verschärft sich das. Hier haben echte Menschen über ihren Tod nachgedacht: Warum macht man da keine Doku drüber? "Wozu als Theater?", frage ich mich.

Aus Neurologen-Sicht

Bei meinem "Nachlass"-Erlebnis habe ich Glück mit der Reihenfolge: Auf der letzten zufällig gewählten Station führt ein Neurologe allgemeinere Exitus-Reflexionen auf. Ja, führt auf: In seinem Raum – auf einen naturalistischen Umgebungsbau wurde verzichtet – positionieren sich die Besucher sitzend um einen Guckkasten. In diesem werden die Blicke inszeniert: Man schaut ins Dunkel, sieht dann Fotos, kurz blitzen die Gegenüber auf. Währenddessen meditiert der Arzt über das Hirnschrumpfen im Alter. "Hat es bei Ihnen bereits begonnen?", fragt er, "Wissen Sie, wer sie sind?" Und ob man ohne Ich-Bewusstsein weiter leben will. Das sind intensive, fast überfrachtete Minuten, die mich mit Nachhall fordern, auch dank hier eingesetzter Theatermittel.

Nachlass – Pièces sans personnes
Deutsche Erstaufführung
von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi, Dominic Huber)
Konzept: Stefan Kaegi und Dominic Huber, Text: Stefan Kaegi, Szenografie: Dominic Huber Video: Bruno Deville, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Eine Koproduktion Produktion von Théâtre de Vidy, Lausanne mit dem Staatsschauspiel Dresden
www.staatsschauspiel-dresden.de
www.vidy.ch

 

Kritikenrundschau

Der Zuschauer wird scheu, erstaunt oder ergriffen zum Augen- und Ohrenzeugen, wie Menschen freimütig, klar, gefasst und zuweilen mit leisem Humor über den Tod sprechen, schreibt Lilli Vostry in der Dresdner Morgenpost (20.6.2017). Fazit: "Ein Theatererlebnis, das man nicht so schnell vergisst."

Stefan Kaegi und Dominic Huber ist mit ihrer Installation aus Sicht von Sebastian Thiele von der Sächsischen Zeitung (19.6.2017) "eine äußerst facettenreiche, tiefsinnige und lebensnahe Annäherung" an das Thema Tod gelungen. Sie lüden nicht nur zum Hören und Ergriffensein ein. Die Besucher dürften selber in Kisten wühlen, Fotos ansehen oder türkischen Honig naschen.

Von einer "szenische(n) Installation über Gevatter Tod" spricht Andreas Herrmann in den Dresdener Neuesten Nachrichten (17.6.2017): acht Schicksale hinter acht Türen, hinter denen der Tod mitunter "so greifbar wie unnütz" daherkomme, "dass Frohmut über den eigenen alltag aufkommt, in dem man dem Lebensrisiko einigermaßen vernünftig Paroli bietet."

Die Orientierungsläufe von Rimini Protokoll führen uns oft nicht bloss ins Dickicht der Welt, sondern auch ins Dunkel der eigenen Seele, schreibt Alexandra Kedves im Tages Anzeiger (9.11.2016). "Und niemals sind wir dort tiefer hineingezogen worde als eben im scheinbar seelenlosen Versuchlabor von 'Nachlass'" In den knappen Clips auf der Bühne scheinen wir alle diese Menschen auf der Schwelle des Todes irre gut kennen zu lernen - und unsere Angst. 

Anlässlich der Premiere am Theatre Vidy-Lausanneh schrieb Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (16.9.2016): "Zu besichtigen sind Zimmer und gleichzeitig kleine Stücke, deren Protagonisten wir einzig ab Band hören." Die Türen öffnen sich und lassen ein paar Zuschauer ein, "in jeweils rund acht Minuten ermöglichen die Kämmerchen einen Blick in ein persönliches Umfeld und eine Lebensgeschichte." Die Abwesenden kämen einem nahe darin. Der Abend ermöglich die paradoxe Erfahrung ist, "dass wir gerade im Moment der Gegenwart des Todes auch des Lebens gewahr werden – und geradezu beschwingt, wenn auch melancholisch, den Parcours verlassen".

 

 

Kommentare  
#1 Nachlass, Dresden: beliebigSascha Krieger 2017-07-03 11:42
Im Gegensatz zu Situation Rooms, wo sich der Besucher in unterschiedliche Rollen hineinbegab, Stellung beziehen musste, sich auseinandersetzte mit der Person, der Haltung, in die er gerade schlüpfte, ist Nachlass ein passiver Zuhör- und Zuschauraum. Man betrachtet auf dem Küchentisch liegende Fotos, probiert türkischen Honig, schaut in Karton mit Kunst, Souvenirs und Akten und ist doch nie Teil dieser Räume. Die Geschichten, denen das vereinzelte oder in Gruppen gefasste Publikum zuhört, sind eben nicht immersiv, bleiben auf Distanz, so sehr sie nahegehen könnten oder es in einem anderen Kontext sogar würden, etwa im Rahmen eines Dokumentarfilms. Hier, in einer Mischung aus Installation und Dokumentartheater gerät die einseitige Narration, die nur in eine Richtung führt, mit dem auf Interaktion oder zumindest Unmittelbarkeit ausgerichteten Medium aneinander und führt dazu, dass die Distanz zum Gehörten und Gesehenen größer ist, als er es in einem Medium wäre, das genau auf diese Form der Kommunikation ausgerichtet ist. Die Abwesenheit des Zuschauers als Akteur zieht eine Wand ein, die der immersiven Absicht dieser Arbeit widerspricht.

Zumal viele der Erzählungen meist an ihren Oberflächen bleiben. Leben werden nacherzählt, menschliche Charaktere en miniatur skizziert, doch die Auseinandersetzung mit dem, worum es hier gehen sollte, ist oft sehr blass. Der Tod bleibt abstrakt, eine ferne Gefahr oder ein selbstverständlicher Endpunkt, nichts, was schreckt, verwirrt, verunsichert. Fast alle erzählenden wirken abgeklärt, im Reinen mit sich, dem Leben, dem Tod, bieten keine Reibungsfläche und keine Identifikationsmöglichkeit. Da sind keine Brüche, in welche der Besucher hineingreifen oder gar hineinfallen könnte, nichts, was ihn hineinzöge in das Zwielicht zwischen Dasein und Verschwinden, nichts, was ihn zwänge, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Stattdessen hört man zu, mal gebannter, mal gelangweilter, mal amüsierter, verlässt den Raum und lässt das dort erzählte Leben hinter sich, ohne dass es Spuren hinterlassen hätte, weil es nie Leben werden konnte. Und so wird der Warteraum schnell vom Reflexionsort, an dem der Mensch mit sich und den eigenen Ängsten alleingelassen ist, und vom metaphorischen Wartesaal Leben, der nur die Zeit bis zum Tod zu füllen versucht, zum zunehmend nervigen Zeitverlustapparat.

Eine Ausnahme gibt es jedoch: den Raum des Neurochirurgen. Er ist eher abstrakt gehalten. Bis zu sechs Besucher*innen setzen auf weißen Schemeln und schauen in einen Guckkasten in der Mitte. Dort erzählt der pensionierte Arzt von sich, lässt sein Altern in Bildern erleben, und von seinem Spezialgebiet, der Demenz, der Selbstauflösung von Geist und Bewusstsein, dem graduellen Verschwinden des Ich. Dabei starrt der Besucher mal ins Dunkel, dann aufs Gegenüber, verschwimmen Gesichter, reale, projizierte ineinander, überlagern sich. Das Ich, das Bewusstsein um die eigene Identität, für den Arzt die Essenz des Lebens, gerät ins Straucheln, kippt ins Ungewisse, verschwimmt in Unsicherheit. Da ist sie, die existenzielle Verunsicherung, die mit dem Nachdenken – oder dessen Verweigerung – über den Tod einhergeht, die verwurzelt ist in der kaum jemals fasslichen Ironie, dass Leben nur möglich ist, weil es wieder ausgelöscht werden wird. Da ist auch – endlich – die Frage danach, was Leben denn ausmache, welche Rolle dabei spielt, wie wir uns unser selbst und der Welt bewusst sind. Und schließlich jene nach dem Nachlass: nicht materiell und pragmatisch, sondern ganz substanziell: Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr ich bin? Aufwühlende acht Minuten in eineinhalb Stunden weitgehender Beliebigkeit.

Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2017/07/03/was-bleibt/
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