Ab in die Luftpolsterfolie

von Simone Kaempf

Berlin, 21. September 2016. Jeder Abschied ist ein Moralexperiment. Wie umgehen mit der Veränderung, dem Aufbruch, dem ungewissen Neuen, wo bleibt man nun? Das ist existenzielle Schwerstarbeit neben all dem Aussortieren, Verpacken, Kisten schleppen, Abschrauben, Bohren. Und dann auch noch der Schreckensmoment, wenn die Schmutzränder an den leeren Wänden Zeugnis abgeben von einem vergangenen Leben.

Inventur im Kunstfundus

Solche Spuren, die abgehängte Bilder hinterlassen, hat Anna Viebrock reichlich im Bühnenbild dieses Abends untergebracht: ein hoher musealer Raum mit großen Atelierfenstern und hellen Parkettstellen dort, wo einst Möbel standen. Ein Nadelstich, ein Seitenhieb auf "aussortierte Kunst", den vieldiskutierten Intendantenwechsel samt den anstehenden Veränderungen an der Berliner Volksbühne – und doch funktioniert dieses Ambiente unabhängig davon wie geschaffen für "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter". Denn Marthaler wäre nicht Marthaler, würde er die Realitätspartikel nicht in allgemeingültigere Erzählungen von Vergänglichkeit, Lebens- und Liebes-Sehnsüchten überführen.

BekannteGefuehle6 560 Walter Mair h"Was wir noch zu sagen hätten ..." Marthalers illustres Ensemble © Walter Mair

Der Titel verweist auf Botho Strauß, zielt jedoch auf das zwölfköpfige Schauspieler-Ensemble: lauter bekannte Gesichter, Sophie Rois, Olivia Grigolli, Ueli Jäggi oder Jürg Kienberger, die Marthaler zusammengetrommelt hat. An diesem Ort wohl zum letzten Mal. Etwas vom melancholischen Abschiedsstück steckt in diesem Abend. Und fast so etwas wie eine Handlung strukturiert sich in den Mini-Szenen: die Geschichte eines Hausmeisters, der Kunstwerke in den Fundus ein- und wieder auszuräumen hat. Marc Bodnar spielt ihn mit graukitteliger Ungerührtheit, be- und entlädt einen Möbelhubwagen mit Kisten und Kartons in allen Größen. Schwerstarbeit, denn es ist der Mensch selbst, der Künstler, der hier verpackt und verstaut wird; lebende Last mit knitterfreien Anzügen, scheußlichen Perücken und umzugs-inkompatiblem Eigensinn.

Zum Schluss ein leises "Danke ..."

Der Mensch entsorgt wie alter Hausrat: Den Schauspielern schenkt das markante Auftritte. Magne Håvard Brekke etwa rollt aus Luftpolsterfolie wie ein Teppich und klopft sich erstmal kräftig den Staub aus der Hose, Jürg Kienberger erscheint unter den Filzdecken, in die auch sein Spinett gehüllt ist. Olivia Grigoli kauert sich in einen Umzugskarton, den der Hausmeister mit Knirschen zusammendrückt. Und herausstechend Irm Hermann als stets süffisant lächelnde Diva mit Alters-Sexappeal, die so theatralisch aus der Instrumentenbox steigt, dass selbst Bodnar ihr respektvoll die Hand reicht. Szenen, die den Schauspielern ein Denkmal setzen und in denen auch eine großartige Selbstironie aufblitzt: Diese Künstler wollen einfach nicht abtreten. Ihr Hausmeister lässt sich für jeden etwas einfallen, um den Widerstand zu brechen: ein huldigender Handkuss für Irm Hermann, in Handgreiflichkeit bändigt er dagegen die störrischeren Exemplare. Die Lacher des Publikums haben alle auf ihrer Seite.

Nach dem Anfangsfuror gewinnen die ruhigeren Töne Oberhand. Der Abend wird leiser, inniger und erhabener. Wie die Schauspieler "Kyrie Eleison" singen als verbundene Schicksalsgemeinschaft oder Mahlers "Ich bin aus tiefem Traum erwacht", ist anrührend schön. Sprache, Musik, Spiel ergänzen sich auf erlesene Weise, was einen überhaupt nicht melancholisch, sondern beflügelt zurücklässt. Abschied verklärt, das mag schon sein: Aber dies ist einer der großartigsten Marthaler-Abende seit langem. Zum Schluss klingen kurz die Akkorde jenes kirchenmusikalischen "Danke", das sich in Marthalers "Murx" in die Höhe steigerte. Ist verdammt lange her, gilt immer noch als das anbetungswürdige Referenzstück. Aber das Zitat passt schon, den Vergleich braucht "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter" nicht scheuen.

Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter
Regie: Christoph Marthaler, Bühne, Kostüme: Anna Viebrock, Licht: Johannes Zotz, Ton: Klaus Dobbrick, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Stefanie Carp.
Mit: Hildegard Alex, Tora Augestad, Marc Bodnar, Magne Håvard Brekke, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Altea Garrido, Olivia Grigolli, Irm Hermann, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Sophie Rois, Ulrich Voß.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"'Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter' ist ein lustiger, pointierter und gleichzeitig maximal melancholischer Marthaler", schreibt Hannah Lühmann von der Welt (22.9.2016).

"Ein wahres Theaterfest als Anfang vom Ende, kein theatralischer Abschiedsfestakt. Ein lustvoll-anspielungsreiches 'Lebt wohl' und ein zartes Sichaufbäumen gegen alle Vergänglichkeit“, jubelt Hubert Spiegel in der FAZ (23.9.2016).

Andreas Klaeui vom SRF (26.9.2016) sah einen "flirrende(n) Abend". "Marthaler zelebriert einen Abschied, aber auch eine Ära, und vor allem die Kunst, seine Kunst – und der Zuschauer fühlt sich reich beschert."

Auch Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (22.9.2016) ist begeistert: "Marthaler hätte brillanter den Leerraum nicht markieren können, den sein Abschied von der Volksbühne und das verordnete Ende dieser Volksbühne im Berliner Kulturbetrieb hinterlassen werden."

"Man würde gerne etwas von der Schönheit und dem Glück dieser Theaterminuten mit sich nehmen, dann hätte man immer einen Vorrat an Hoffnung und Vertrauen ins Leben", schreibt Peter Laudenbach in der SZ (23.9.2016) über eine Szene des Abends. Marthalers Inszenierung wirke wie ein trauriges, komisches, hochvirtuoses Echo seines frühen Meisterwerks 'Murx den Europäer'.

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (22.9.2016) über die Schauspieler/Exponate des Museums: "In Form von Liedern entfahren ihnen möglichst unauffällig Sehnsucht, Trauer und Wehmut: Herzzerreißend die mehrstimmig gesungene Händel-Arie 'Lascia ch’io pianga mia cruda sorte'. Ironisch das im Pianissimo zerdehnte 'Brüder zur Sonne zur Freiheit'. Niederschmetternd Nietzsches, von Mahler vertontes 'Trunkenes Lied'."  Seidler schließt: "Dunkel. Jubel. Nicht wecken, bitte."

Es gebe musikalisch wie schauspielerisch sperrigere, kantigere Marthaler-Abende als diesen, aber es gebe keinen, der derart selbstbezüglich wäre, meint Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (23.9.2016). "Es ist, als sei die Marthaler-Welt geschrumpft, verpuppt in Melancholie. Die bitteren Nebentöne sind nicht zu überhören."

"Marthalers Theater, diesmal beinahe ohne Dialog, will mit Feuereifer unzeitgemäß sein, entzieht sich dem Modernitätsdiskurs mit anrührend unspektakulärer, bisweilen geradezu apathischer Clownerie", analysiert André Mumot von Deutschlandradio Kultur (21.9.2016).

"Es ist einer der besten Marthaler-Abende der letzten Jahre geworden. Feiner Rhythmus, alles bestens abgestimmt und balanciert. Fast schon altersmilde. Melancholisch und liebevoll in seiner Bosheit, wenn überhaupt", schreibt Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (23.9.2016).

"All diese Bilder von Trauer, Vergänglichkeit, von der Altersschwäche der Utopien, sind (...) so genussvoll mottenzerfressen und mit dem Stoizismus der Clownerie inszeniert, dass man dauernd lachen muss", schreibt Kartin Bettina Müller von der taz (23.9.2016).

Kommentare  
#1 Bekannte Gefühle ..., Berlin: zum Lachen und WeinenMaximilian 2016-09-22 13:58
Das war ein toller, intelligenter, poetischer und berührender Abend, an dem ich lachen und weinen musste. Marthaler hat mit seinen Schauspielern, Tänzern und Musikern ein Team - über die gesamte Zeit seines Schaffens - gebildet, das meisterhaft ist. Diese Meister hat er in Szene gesetzt, ihnen einen Rahmen gebaut und sich uneitel vor den Beteiligten und seinem eigenen Werk von Murx bis heute vor Frank Castros Volksbühne verneigt. Besser geht's nicht!
#2 Bekannte Gefühle, ..., Berlin: leiser AbendPhilipp 2016-09-22 14:28
Ein sehr leiser Abend! So leise, dass jedes Rascheln der hauchdünnen Programmzettel nervt. Appell daher an die neue Intendanz: Nur noch dickes Papier. Oder nur noch laute Abende.
#3 Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter, Berlin: KorrekturRedaktion 2016-09-23 09:55
In der früheren Version des Texts war von einem Cembalo die Rede. Ein Kommentator hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass es sich – präziser – um ein Spinett handelt.
Danke für den Hinweis
die Redaktion
#4 Bekannte Gefühle ..., Berlin: Danke!Dorit Hartmann 2016-09-25 15:45
DANKE - für diesen schönen Abend !
"Du musst dich im Zweifel für das Richtige entscheiden" hörte ich gestern Irm Hermann auf der Bühne sagen. Am Abend in der Volksbühne gewesen zu sein war genau das Richtige!
Endlich wieder Jürg Kienberger !, aber auch Jäggi, Grigolli und Brekke aus der frühen "Murx"-Besetzung "garniert" mit Sophie Rois, Irm Hermann, Ulrich Voß und all den anderen großartigen Schauspielern.
Ein melancholischer, ein tröstlicher Abend - DANKE !
#5 Bekannte Gefühle, ..., Berlin: larmoyantTheaterfreund 2016-09-26 00:40
"Ein melancholischer, ein tröstlicher Abend" schreibt Dorit Hartmann. Nicht eine Spur von Trost fand ich selbst aber in diesem Abend.

Derweil es natürlich einen doppelten Boden gibt, der das Ganze auch auf allgemeinerer Ebene deutbar macht, las ich ihn in erster Linie klar und eindeutig als einen mit Insider-Pointen gespickten Kommentar aufs verordnete Ende der Volksbühne.

Zeigt sich dabei einerseits, dass die Marthaler-Routinen seit "Murx" zu einem abrufbaren, geradezu akademischen System geworden sind (Theaterwissenschaftler schreiben inzwischen ihre Doktorarbeiten darüber und wenigestens an diesem Abend findet man in nicht einer Sekunde irgendwie Neues), so bleibt dies hier doch aber aufgefangen, indem, wenn ich das richtig verstehe, nicht nur "Murx", sondern die gesamte Arbeit Marthalers an der Volksbühne in versteckten Zitaten Revue passiert. (Nicht alles davon habe ich gesehen, aber was ich gesehen habe, habe ich in Anspielungen wiedererkannt.) Eher ein routiniertes Fingerspiel also im Abruf von Stilmitteln und Methoden, im vollen Bewußtsein, dass die eigene Kunst, auf die zitathaft hier selbst rekurriert wird, inzwischen zu klassisch gewordener "Schule" wurde.

Gewünscht hätte ich mir eine Dramaturgie, die manche der bitteren, der bösen und der aufbegehrenden Momente, von denen es doch ein paar sehr schöne gibt, nicht - da hat Dorit Hartmann recht - am Ende doch wieder in Marthaler/Mahlerischem Weltschmerz nivelliert. Ach, der Marthaler und seine Melancholie!

Das Ende mit "Danke" (als großem Bogen zurück zu "Murx", aber eben auch als versöhnliche Geste eines "Es war schön, aber nun ist es vorbei, tschüss, liebes Publikum") bricht allem die Spitze, was dem Abend zeitweilig Triftigkeit gibt und ihn hinaushebt übers Larmoyante. Es sind dies gerademal fünf Sekunden, aber als Schlusspointe bleiben sie in ihrer platten Versöhnlichkeit entscheidend.
#6 Bekannte Gefühle, ..., Berlin: LeserkritikKonrad Kögler 2016-09-26 16:25
Ja, es gibt sie durchaus, die kleinen Perlen, die an diesem Abend für Glücksmomente sorgen. Danke, dass wir erleben durften, wie Sophie Rois ihre Mitspieler zu einem Chorgesang von Händels „Lascia ch’io pianga“ oder wie sie ganz in Schwarz und mit Sonnenbrille ein italienisches Chanson singt. Danke, dass wir die große Fassbinder-Diva Irm Hermann mal wieder erleben durften, wie sie über die Bühne schreitet und angewidert-spöttisch die Glückskekse-Sprüche vorliest, die wir aus dem China-Restaurant um die Ecke kennen.

Diese Momente sind aber rar. Ansonsten schlurft der Abend über weite Strecken so vor sich hin wie auch die von Abschiedsschmerz gebeugten Gestalten auf der Bühne.

Komplette Kritik: daskulturblog.com/2016/09/26/bekannte-gefuehle-gemischte-gesichter-christopher-marthalers-abschied-von-der-volksbuehne-mit-wenigen-gluecksmomenten/
#7 Bekannte Gefühle, Berlin: ein ganz großer AbendSascha Krieger 2016-09-28 10:45
Ein fast rebellisches “Kyrie Eleison”, ein inniges “Lascia ch’io pianga mia cruda sorte”, ein herzbluterfülltes “In einem kühlen Grunde”, ein tiefschwarz erschütterndes “Ich bin aus tiefem Traum erwacht” durchbrehcen die Stille und akzentuieren sie. Sophie Rois bellt italienische Lieder, als ginge es um alles. dabei ist nichts zu retten in diesem Labor menschlicher Geworfenheit, in diesem Ballsaal der Geister der Vergangenheit, in dem Lächerlichkeit kein seltener Gast ist, das Publikum über die grotesken Versuche des Weitermachens lacht – aber auch mit den traurigen Narren, die sich nicht verdrängen lassen. Und doch ist da Leben, vielleicht nicht mehr in dem verstaubten “Exponaten”, aber in der Kunst, die sie repräsentieren. Im Spiel, im Tanz, in der Literatur und in der Musik. So leer dieser Raum ist, so erfüllt ist er von dem, was nicht mehr verschwindet, was sich nicht vertreiben lässt, auch wenn es vielleicht unsichtbar ist. Der Abend ist auch ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kraft von Kunst und Kultur, die verbindet, vermenschlicht, die Empathie und Verständnis fördert, die Sinn gibt, die Gegenwart mit ihren Wurzeln verbindet, uns sagt, wo wir herkommen und wohin wir gelangen könnten, wenn wir es uns nur zutrauten. Ein melancholischer, berührender und doch so unfassbar leichter, heller Abend. Am Ende scheint kurz der “Danke”-Chor auf, mit dem einst Marthalers legendärer Murx-Abend endete. Dann wird es schwarz und bleibt doch so unendlich hell. Am Ende schenkt Christoph Marthaler “seiner” Bühne noch einen ganz großen Abend. Man möchte weinen und lachen zugleich.

Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2016/09/28/5852/
#8 Bekannte Gefühle ..., Ruhrtriennale: Sophie Rois Herr Müller 2018-09-03 13:13
Die Wiederaufnahme im Ruhrgebiet spielt sich allerdings ohne Sophie Rois ab.
#9 Bekannte Gefühle ..., Ruhrtriennale: wunderbarManfred Böll 2018-09-03 15:30
Ja Herr Müller,aber auch ohne Sophie Rois, die übrigens hervorragend ersetzt wurde,ist es ein ganz großer, wunderbarer und unvergesslicher Abend.
#10 Bekannte Gefühle..., Ruhrtriennale: vertretenJürgen Bauer 2018-09-04 07:31
Eine Sophie Rois kann man nicht ersetzen, nur vertreten ;-)
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