Der Beat des Untergangs

von Falk Schreiber

Hamburg, 16. September 2016. Es ist etwas passiert. Ein Terroranschlag vielleicht, ein Unglück oder ein Amoklauf, jedenfalls ist die Leuchtschrift "Happy New Year" auf die leere Bühne gestürzt, und Karin Neuhäuser muss ein Tatort-Absperrband aufwickeln. Und Neuhäuser wickelt. Und wickelt. Es ist etwas passiert, aber jetzt passiert erst einmal fast nichts mehr, Neuhäuser wickelt ein Band auf und spricht dazu einen typischen Jelinek-Text: eine Suada, die vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt beziehungsweise vom Ressentiment auf die Wut und von der Wut auf den Hass. Fast zwanzig Minuten dauert dieser Motzmonolog, ein endloses Reinsteigern in die eigene Übermenschlichkeit, getragen von Selbstüberschätzung bei gleichzeitigen Minderwertigkeitskomplexen: "Wir wollen Veränderung für dieses Land … Nationales Interesse, ohne nationalistisch zu sein, das dürfen wir nicht ...", Motzmotzmotz, ewig so weiter.

Es braucht eine überaus präsente Schauspielerin, die es durchhält, solch einen unerträglichen Textschwall praktisch ohne szenische Aktion über die Bühne zu bringen. Eine Schauspielerin wie Karin Neuhäuser.

Elfriede Jelineks Charlie-Hebdo-Unbehaglichkeit "Wut" wurde vergangenen April von Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, das Recht der ersten Nacht bei Jelinek-Texten hat das Hamburger Thalia also verloren. Einfach nachspielen wollte man das Stück allerdings nicht, also nahm man Simon Stephens' Szenenfolge "Rage", die sich als konkrete Antwort auf Jelineks unkonkrete "Wut"-Rede lesen lässt: kurze Schlaglichter auf Basis einer Fotoreportage Joel Goodmans, die Feierleichen während einer aus dem Ruder gelaufenen Silvesterparty in Manchester zeigt. Somit hat man in Hamburg wenigstens eine halbe Uraufführung an Land gezogen, und mit dem regelmäßigen Stephens-Interpreten Sebastian Nübling einen hochkarätigen Regisseur gleich mit (obwohl dieser in Hamburg eigentlich dem Schauspielhaus verbunden ist, das Thalia also unschön einen Star aus der Nachbarschaft abgeworben hat, aber egal).

Zu Stephens' sozialrealistischem Höllenritt fällt Nübling deutlich mehr ein, da gibt es Interaktionen, da wird gekotzt und gepinkelt, da treibt ein dumpfer Beat die Figuren in den Untergang. Sobald aber Jelinek gespielt wird, steht der Text im Vordergrund, wird mal chorisch gesprochen, mal monologisiert. Ein sehr musikalisches Theater entwickelt sich, wobei bei Stephens die Schauspielerstimmen die Rolle der Rhythmusinstrumente übernehmen, während sie bei Jelinek eher Melodieträger sind.

Wut02 5600 c krafftAngerer uAn Sylvester ist in Manchester Ausnahmezustand © Krafft Angerer

Ein wenig höhepunktlos zieht sich das über rund zwei Stunden hin (insbesondere Jelineks Vorlage ist massiv gekürzt – in München dauerte sie alleine schon dreieinhalb Stunden), aber grundsätzlich ist die Kopplung der beiden Stücke stimmig. Was bei "Wut" im Inneren der Figuren dräut, drängt in "Rage" an die Oberfläche: "In mir ist etwas, das muss raus", stöhnt Sebastian Zimmler einmal. "Aus meinem Körper." Und dann übergibt er sich. Eine Qualität des Doppelabends besteht darein, dass hier einiges offen bleibt für Interpretationen: Ist die formulierte Misanthropie aus "Wut" die ständige Verletzung der Zukurzgekommenen? Und die Kreatürlichkeit aus "Rage" die Gewalt, mit der diese Zukurzgekommenen dann um sich schlagen? Ist "Wut" geprägt vom Islamismus, und steht "Rage" für einen konkreten Anschlag? Oder spricht in "Wut" Pegida, und in "Rage" sehen wir die rassistischen Pogrome aus Heidenau?

Die Interpretationen schillern, wie Marina Galic schillert, als sie sich einem leider schon ziemlich abgestürzten jungen Mann (Sven Schelker) anbietet, mit Sirenengsang: "I hate the fucking muslims." Etwas später brüllt Franziska Hartmann in Richtung der tanzenden Marie Löcker: "Wenn du nicht 'Frohes neues Jahr' in unserer Sprache zu uns sagst, dann schneide ich die dein scheißbraunes Gesicht von deinem Scheißschädel, ich schwörs dir!" Sowas kommt von sowas, ja. Aber die Inszenierung macht nicht den Fehler, Ursache und Wirkung bis ins Letzte zu erklären, sie konstatiert nur einen Verfall. Einen Verfall von Umgangsformen, von Zivilisation, nicht zuletzt von politischer Struktur: Die Typen, die auf Goodmans Silvesterfotos in Rausch und Gewalt versinken, sind dieselben, die ein halbes Jahr später für den Brexit stimmen werden. Überhaupt, Silvester, war da nicht auch noch was in Köln? Irgendwie hängt alles mit allem zusammen.

Am Ende dieses so klugen wie schwer auszuhaltenden Schauspielerabends singen alle "Auld Lang Syne", es bildet sich ein tatsächlich wohlklingender Chor, und auch die Leuchttafel blinkt wieder. Schön. Vielleicht wird doch noch alles gut? Aber Vorsicht – kurz zuvor sinnierte Neuhäuser: "Das Problem ist – wie üblich – dass uns niemand liebt." Vor den Ungeliebten, vor den Zukurzgekommenen muss man Angst haben.

 

Wut/Rage
von Elfriede Jelinek / Simon Stephens, Deutsch von Barbara Christ (Rage)
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Evi Bauer, Kostüme: Pascale Martin, Musik: Lars Wittershagen, Licht: Jan Haas, Dramaturgie: Julia Lochte
Mit: Kristof Van Boven, Marina Galic, Julian Greis, Franziska Hartmann, Marie Löcker, Karin Neuhäuser, Sven Schelker, Sebastian Zimmler
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Wie Sebastian Nübling sein achtköpfiges Schauspieler-Ensemble führt und choreografiert, bereitet puren Spaß", jubelt Werner Theurich auf Spiegel-Online (17.9.2016). "Die Exkurse über Religion, Terror, Philosophie und Gesellschaft, für die meistens Jelinek zuständig ist, kontrastieren bestens mit den zwischenmenschlichen brutalen Brüchen und Konfrontationen, die Stephens serviert."

"Nüblings Idee, Jelinks Monolog mit den Szenen von Stephens zu verknüpfen, geht überraschenderweise wunderbar auf. Die deprimierende Orgie dieser Jugendlichen wirkt wie eine Mikrostudie zu Jelineks Allgemeinbefund", findet Heide Soltau vom NDR (17.9.2016). Nüblings Umgang mit den Texten deute auf eine erfrischende Distanz zu Jelinek hin.

"Bei Jelinek und Stephens darf das Publikum ermattende zwei Stunden lang die emotionale Ursuppe rational Minderbemittelter auslöffeln", schreibt Stefan Grund in der Welt (19.9.2016). Die unkanalisierten Wutausbrüche und Nulldialoge namenloser Nichtfiguren ermüdeten nach einer halben Stunde. "Doch geht es im Thalia mit seinem tapferen Ensemble immer so weiter, ohne jede Entwicklung."

Die Verschachtelung der Stücke von Jelinek und Stephens funktioniere "trotz ihrer unterschiedlichen Machart" "überraschend gut", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.9.2016). Sebastian Nübling jedoch ergehe sich "abermals in einer schweißtreibenden, rhythmisch-gymnastischen Inszenierung, die von der Fitness des Ensembles lebt und weniger von dem, was die Figuren wahrhaftig umtreibt". Und wenn dann am Ende "die Frage aller Fragen" von der Bühne komme: "Schlaft ihr?", dann möchte man antworten: "Noch nicht", so Bazinger. "Aber die da oben auf der Bühne sollten es auch nicht übertreiben."

Für Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (28.9.2016) passt Stephens' Text zu Jelineks "epischer Zweifelsprosa so gut wie die Sex Pistols zu Wagner". Und: "Weil diese geradezu feindlichen Stil-Verwandten trotz identischen Themas selbst von einem erfahrenen Theatertherapeuten wie Sebastian Nübling unmöglich in ein produktives Geschwistertreffen gezwungen werden können, entscheidet er sich leider für die Entwaffnung beider Kontrahenten durch Ironie."

 

Kommentare  
#1 Wut/Rage, Hamburg: ius primae noctisZeitblom 2016-09-17 12:12
Nicht, dass es etwas zur Sache täte (wie übrigens auch die vermeintliche Schauspielhaus-Bindung Nüblings), but remind me: wann hatte das Thalia denn - abgesehen von der Salzburg-Coproduktion von Stemann - je das ius primae noctis bei Jelinek-Texten?
#2 Wut/Rage, Hamburg: genötigt?Inga 2016-09-17 14:17
@ Zeitblom: Sie müssen schon sehr alt oder antiquiert sein. Oder warum verwenden Sie in Bezug auf einen Text diesen Begriff aus dem Bereich der Sexualität? Oder hat da jemand eine Frau genötigt?
#3 Wut/Rage, Hamburg: nachgefragtInga 2016-09-17 14:18
Und warum verwendet es Falk Schreiber?
#4 Wut/Rage, Hamburg: KoproduktionenFalk Schreiber 2016-09-17 14:45
@Zeitblom: "Die Kontrakte des Kaufmanns", "Ulrike Maria Stuart" und "Die Schutzbefohlenen" waren Thalia-Produktionen, teils als Koproduktion.
#5 Wut/Rage, Hamburg: Information der IntendanzJoachim Lux 2016-09-17 15:38
Information

Das Thalia Theater hatte in der Tat nie das ius primae noctis in Sachen Jelinek. Wie im übrigen auch kein anderes Theater. Das Thalia hat in den letzten Jahren als Uraufführung "Die Kontrakte des Kaufmanns ( in Koproduktion mit Köln), die Uraufführung von "Abraumhalde" in Kombination mit Lessings Nathan sowie in Koproduktion mit Theater der Welt "Die Schutzbefohlenen" uraufgeführt. Aber auch die Münchner Kammerspiele haben bzw. demnächst Düsseldorf wird einen neuen Jelinektext uraufführen. Das Thalia hat aber hat - und daraus entsteht zurecht der Eindruck einer besonderen Pflege der Autorin - im Laufe der letzten Jahre auch Texte nachgespielt, wie das Prinzessinnendrama "Jackie" oder "Winterreise".

Und zum Wechsel von Nübling: Nübling hat in der Zeit von Karin Beier ein einziges Mal dort inszeniert, bevor er jetzt am Thalia arbeitete. Genauso wie zuvor Herbert Fritsch ein einziges Mal am Thalia gearbeitet hat, bevor er ans Schauspielhaus wechselte. Solche Bewegungen sind selten, aber sie kommen vor.
Joachim Lux
#6 Wut/Rage, Hamburg: es fehlt analytische SchärfeKonrad Kögler 2016-09-17 19:02
Auffällig ist vor allem die Ratlosigkeit der Figuren, die den ganzen Abend prägt. Die Phänomene, die hier beschrieben und durch den Assoziationsmixer gewirbelt werden, sind vielleicht noch zu frisch und überfordernd. Falk Richter hat allerdings schon vor einem Jahr mit "Fear" an der Schaubühne einen genauer beobachtenden Abend produziert. "Wut/Rage" springt zu konfus durch das allgemeine Unbehagen: mal zur AfD, dann zu den Islamisten, zwischendurch immer wieder in die Club-Szene.

Lohnenswert ist vor allem ein Blick ins Programmheft: Dort ist ein Auszug aus Carolin Emckes Rede zu lesen, die sie zur Eröffnung der Ruhrtriennale gehalten hat. Die Ratlosigkeit ist dort mit mehr analytischer Schärfe und stärkeren Bildern als in diesem Theaterabend am Thalia beschrieben.

Ausführlichere Kritik mit Link zu Carolin Emckes Rede: daskulturblog.com/2016/09/17/wut-rage-sebastian-nuebling-ueberschreibt-am-hamburger-thalia-elfriede-jelinek-mit-simon-stephens/
#7 Wut/Rage, Hamburg: mit ChuzpeZeitblom 2016-09-17 23:53
Hoppla, zuviel der Aufmerksamkeit für UA- und Regisseur-Karussellsbetrachtungen, wie auch für halbwegs originelle Entlehnungen aus der Haushaltung der Römer. Die Chuzpe, eine solch brachiale (im positiven Sinne) Inszenierung als Spielzeiteröffnung zu wählen kommt m. E. dabei ebenso zu kurz, wie das fulminante Début (war es?) Kristof van Bovens, der dem Abend in der 2. Hälfte mit geradezu beklemmender Intensität seinen Stempel aufdrückte. Bleibt nur noch die Frage: wie steht Alvis Hermanis zu all dem?
#8 Wut/Rage, Hamburg: Stemann-JelinekZeitblom 2016-09-18 00:05
@Falk Schreiber: Sie haben natürlich recht, aber das resultierte doch wohl mehr aus der Verbindung Stemann-Jelinek als aus der Verbindung Thalia-Jelinek, die schon vorher (Das Werk) und weiterhin (Nathan/Crassier/Bataclan) Bestand hatte/hat. Aber jetzt verliere mich in etwas, das nach meiner Beurteilung 'nichts zur Sache tut''. Das ist nicht schön.
#9 Wut/Rage, Hamburg: blassKonrad Kögler 2016-09-18 01:14
@Zeitblom:
Kristof van Boven spielte schon in der vergangenen Spielzeit am Thalia, u.a. in Percevals "Früchte des Zorns".

Ich stimme Ihnen zu, dass er ein hervorragender und zurecht schon in der Münchner Simons-Ära preisgekrönter Schauspieler ist.

Gestern fand ich ihn aber vergleichsweise blass, vor allem gemessen an seinem fulminanten Auftritt bei Meg Stuarts "Tanz im August"-Gastspiel an der Volksbühne. Dort hatte er ein Solo zur Debatte um Chris Dercon und der Zukunft des Hauses.
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