Activation! Vibration!

von Jürgen Reuß

Freiburg, 1. Juli 2016. Im Foyer gibt es Ohrstöpsel. Auf der Großen Bühne mag es laut werden, das Publikum darf wegfiltern. Es wird wummern, und wummern muss es, wenn Doris Uhlich das Ergebnis eines zweiwöchigen Crashkurses in technogetakteter Philosophie des Fleisches für 35 Freiburger Freiwillige der Öffentlichkeit präsentiert.

Boom2 560 Maurice Korbel uHyper, Hyper! (Ensemble) © Maurice Korbel

Nebel wabert, Beats hämmern, ein DJ-Pult thront, ein Mensch wippt sich ein. Der Techno ergreift erstmal den Profikörper von Doris Uhlich, der wenig mit den Erwartungen an einen professionellen Tanzkörper gemein hat. Andere Körper kommen dazu, in sportlich bunter Kleidung, schwingen und zucken sich ein, mal individuelle Tanzatome, mal Kontaktmoleküle, später Formationsreigen. Die Intensität steigt, wird auch im Publikum spürbar. Der "Körper als Epizentrum der Handlung" nennt Uhlich das, ruft es irgendwann auch in der Wummerschuppenweltsprache in den vibrationsgeschüttelten Raum: "A body is a brain, boom tschak! The body is the epicentre for action, activation, vibration, hyper hyper!"

Erstaunliches Schwabbeln

Und das in kurzer Zeit zusammengewürfelte Bühnenepizentrum erzeugt tatsächlich erstaunlich intensive Wellen. Auf eine Phase freien Zuckens zu Red Hot Chili Peppers "Give it away", dem "Verausgab dich"-Mottosong des Abends, folgt eine Sequenz in Doris Uhlichs Fetttanztechnik, ein etwas züchtigeres Echo aus ihrem früheren Stück "more than naked", bei dem die erstaunlichsten Körperpartien rhythmisch ins Schwabbeln gebracht werden.

Besonders in den Formationen überträgt sich die Energie aus der Technotankstelle aufs Publikum. Aufgepeitschte, hippe Großstadtkellerrituale ballen sich zu archaisch anmutenden Horden, die mal in bedrohlichem Bühnenrot wie Zombies aufs Parkett zustampfen oder sich Kommunen-mäßig anarchisch vor der hinteren Bühnenwand schütteln, während der Raum mittels einer mechanischen Lasersimulation ins Schwanken gebracht wird. Das hat dann vielleicht sogar ein utopisches Moment: Wenn man Marschtakt nur ausreichend hochpitched und phrasiert, erzeugt man möglicherweise weniger einen soldatischen Drohmob als eher eine verschwenderische Brown'sche Urhordenbewegung.

Immer in Bewegung bleiben!

Es gab auch Menschen im Publikum, die diese stampfende Masse als bedrohlich empfanden, wie beim Publikumsgespräch herauskam. Die Mehrheit bedankte sich aber für ein Intensitätserlebnis der besonderen Art. Einer der Tänzer war sogar ganz glücklich darüber, dass ihn der Tanzworkshop endlich mit einem Handbuch zu seinem bisher ohne Handbuch ausgelieferten Körper ausgestattet hat.

Uhlichs Körperphilosophie hat Knarf Rellöm früher mal so ausgedrückt: "Move your ass and your mind will follow." In den Gesichtern der Tanzenden konnte man eine gewisse Bestätigung dafür lesen. Genügend Popobewegungen im Publikum für eine infektiöse Geistesübertragung waren zwar nicht zu erkennen, aber die Spiegelneuronen tanzen ja auch mit, wie die Hirnforschung weiß.

 

Boom - Tanzhappening für eine kritische Masse.
von Doris Uhlich (Choreografie / Workshopleitung)
Bühne: Alexander Albiker, Ton: Julien Guiffes, Dramaturgie: Veit Arlt.
Mit: Eva Bachtanian, Nina Baldinger, Miriam Beneragama, Sabine Bindemann, Barbara Bode, Vibhuta Braun. Gabriele Bürgl Moravcik. Faris Butsche Hassine, Clara Debour, Silvia Disch, Susanne Eule, Carol, Ann Galego, Isabelle Gussmann, Dirk Harms, Michael Hartmann, Helma Haselberger, Helma Herkenrath, Kiran Hug, Lutz Kriegel, Mats Kriegel, Britta Kuppek-Kaase, Yocelyn Lang, Inga Lau, Amish, Daniel Leßmann, Lina Mangold, Marlene Muth, Martina Nönninger, Willie Ohlerth, Silvio Paasch, Ida Pöttiger, Kirstin Ratti, Dieter Michael Saha, Elke Schott, Abhinava Staubrook, Ole Seutter, Vera Sterk, Marie Töpfer, Juri Witke, Angelika Zizmann.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.theater.freiburg.de

 

Kritikenrundschau

"Techno strebt nach Entgrenzung, er macht aus Tänzern Maschinen, die zu minimalistischen Beats pulsieren. Sieht man gut 30 sich im gleichen Rhythmus bewegen, ist das ziemlich mitreißend", schreibt Annette Hoffmann in der Badischen Zeitung (4.7.2016). 'Boom' sei nicht ohne pathetische Verheißungen, so als würden diese 30 nicht nur für die Zuschauer, sondern für eine ganze Stadt therapeutisch ihre Körper befreien. Jedoch: "Gegen Ende verliert das Tanzhappening den Spannungsboden und wirkt mehr eskapistisch als kritisch."

Kommentare  
#1 Boom, Freiburg: einfache Worte genügenZuschauer-Fan 2016-07-03 10:47
Lieber Herr Reuß,
es ist beeindruckend, wie ausführlich Sie BOOM besprechen und vorstellen. Ihre facettenreiche Darstellung hat einen gewissen Nachteil: Weite Strecken sind so unverständlich geschrieben, dass sie selbst jemandem, der wie ich in der Vorstellung war, alle Gehirnwindungen abverlangen - dennoch verstehe ich nicht so recht, was Sie sagen wollen. Es gibt einen alten Spruch: Weniger ist oft mehr. Will man verstanden werden, was Sie offensichtlich für Ihren Beitrag voraussetzen, genügen einfache Worte, die beim Leser oder Rezipienten ein Nachdenken und eine weitere Reflexion hervorrufen.
#2 Boom, Freiburg: Wie Techno ohne RauschCharlie Fonk 2016-07-05 11:53
Ich habe "Boom" nicht gesehen, sonder nur den Trailer, dafür aber "more than naked" erlebt und leite mir aus der offensichtlichen Ähnlichkeit ab, auch über "Boom" sprechen zu können. Genauso wie Techno ohne (Drogen)Rausch nicht funktioniert, bleibt außer Langeweile nicht viel übrig, wenn man diesen bewegten oder sich stumpf bewegenden Körpern lediglich zusieht. Und dass hier Knarf Rellöm mit "Move your ass and your mind will follow" zitiert wird, sagt eigentlich alles. Der Spruch hat nämlich einen Vorgänger, geschaffen von George Clinton alias Funkadelic alias Parliament, einer wahren Tanzbewegung aus den 70ern mit Tiefgang, Philosophie und großartigem Witz: P-Funk. Dort heißt es: "Free your mind... and your ass will follow."
Schade, dass man Geld bezahlen soll, um sich das anzusehen. Meine Empfehlung: Geht lieber in einen Technoclub und tanzt selber mit - wenn euch das was gibt. Und das Theater Freiburg sollte wieder mehr Stücke auf die Bühne bringen, die den Geist befreien, meinetwegen mit Laien, aber dann auch mit Niveau.
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