Das Wort ist Wort geblieben

von Tim Slagman

München, 27. September 2014. Im Anfang, wir wissen es längst, war das Wort. Insofern gehört auch das Theater zu den Schriftreligionen, und gerade in den Stücken von Elfriede Jelinek hebt sich die Sprache stets noch hinaus über ihre menschlichen Träger. Sie kreiert Textflächen, die diesen Namen tatsächlich verdienen, weil sie Ernst machen mit der Auflösung von Figurensubjekten in Sprechautomaten: Es wird nicht nur durcheinander, sondern zumeist auch einfach unheimlich viel gequasselt bei Jelinek.

Prozessakten und Bibelmotive

Das titelgebende schweigende Mädchen in Jelineks neuem Stück erweist sich paradoxerweise als Glücksfall für diese Methode. Beate Zschäpe verweigert seit Beginn des NSU-Prozesses bekanntlich die Aussage, und anders als Christine Umpfenbach und Azar Mortazavi, die am Münchner Residenztheater in "Urteile" die Angehörigen der Mordopfer im Modus der Dokumentartheaters zu Wort kommen ließen, montiert Jelinek Prozessprotokolle, Medienberichte und biblische Motive zu einer Polemik, die um das Nichtwissen kreist und implizit natürlich um das Verstehen-Wollen und die gleichzeitig das Terroristentrio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in einer provozierenden Volte zur neuen heiligen Erlöserfamilie erklären lässt.

das-schweigende-maedchen-8 560 ju ostkreuz xIm Konservatorium: Thomas Schmauser, Wiebke Puls, Benny Claessens, Risto Kübar
© Julian Röder / JU Ostkreuz

Johan Simons, der mit "Das schweigende Mädchen" bereits zum siebten Mal ein Stück von Jelinek inszeniert (zuletzt FaustIn and out 2014, Die Straße. Die Stadt. Der Überfall 2012), macht aus diesem Stoff ein schwarz-weißes Endspiel. Nachdem Stefan Hunstein sich im voll ausgeleuchteten Saal seine Wut und Irritation von der Seele geschrien und geschwitzt hat über die, "die nichts hören, nichts sehen, aber alles wissen" wollen, fällt die Dunkelheit auf den Zuschauerraum, und es entsteht Bewegung nur noch aus dem Auf- und Abgang der Prozessteilnehmer, dieser Propheten, Engel, einer Christusfigur und eines Richtergottes, und aus den Gesten, mit denen Steven Scharf, Wiebke Puls und Benny Claessens ihre Kuttenkapuzen nach vorne werfen, um unter ihnen zu verschwinden oder sie nach hinten ziehen, um, nun ja, zu prophezeien: "Wahrlich, ich sage euch, was einer gesagt hat."

Erbschuld, Erbsünde, Erbschaftsamt

Johan Simons jedenfalls hat gesagt, man könne diesen Text eigentlich gar nicht spielen, darum lässt er ihn von den Schauspielern vorlesen, ihre Skripte stehen auf Notenständern, auf dem Podest hinter ihnen steht "Konservatorium", eine Fassade im Bühnenhintergrund heißt "Erbschaftsamt", konservativ, konservieren, Erbschuld, Erbsünde – so ähnlich funktionieren die Jelinekschen Assoziationsketten, die allzu oft ins Nichts führen und manchmal wunderbar punktgenau ins Ziel treffen: "Die Wahrheit spricht nicht, daher entspricht ihr alles."

Ausgerechnet im Stück über eine Schweigende fällt dieser programmatische Satz, der die Wahrheit am Rand der Sprache verortet, sie damit zugleich auslöscht und diese Auslöschung beklagt. Und ist es nicht das Wesen der Engel und Propheten, dass sie diese Wahrheit durch ihre Verkündigungen erst erzeugen? Von dem, was auf der Bühne verhandelt wird, kann also alles bedeutungsvoll sein und alles wahr oder nichts von alledem, es geht um elf Waffen und einen Schalldämpfer, es geht um ausländerfeindliche Ressentiments, um abgehängte Landstriche in den neuen Bundesländern, um die Jungfrau, die gleich zwei Söhne hatte.

das-schweigende-maedchen-5 560 ju ostkreuz xErkundungen der Wahrheit: mit Annette Paulmann, Hans Kremer, Steven Scharf,
Thomas Schmauser, Wiebke Puls, Benny Claessens, Risto Kübar © Julian Röder / JU Ostkreuz

Gertrud Schilde an der Violine, Salewski am Synthesizer und Sachiko Hara am Piano, sitzen auf, neben und unter dem "Konservatorium" und lassen diese wortreichen Erkundungen immer wieder schrill und tröpfelnd ins Bedrohliche abgleiten. Solch kleinen affektiven Inseln beweisen eindrucksvoll, wie anstrengend ein Jelinek-Text sein kann, der nur auf sich selbst zurückgeworfen bleibt. Der Abend hat zweifelsohne ein schlüssiges Konzept, das sich aber nach wenigen Minuten selbst erklärt und bestätigt hat. Hier bräuchte es fortan Bilder, die die Sprache entlasten, und eines davon gelingt Simons auch zum Ende: Thomas Schmauser, der als Richter die Nacht noch stets vom Prozesstage scheiden konnte mit seinem penetranten "Guten Morgen!", muss da feststellen, dass die Wörter doch keine Macht mehr haben. Es endet in Finsternis.


Das schweigende Mädchen
von Elfriede Jelinek
Uraufführung
Regie: Johan Simons, Musiker: Gertrud Schilde, Salewski, Sachiko Hara, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Carl Oesterhelt, Licht: Wolfgang Göbbel, Dramaturgie: Tobias Staab.
Mit: Benny Claessens, Stefan Hunstein, Hans Kremer, Risto Kübar, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Steven Scharf, Thomas Schmauser.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de



Kritikenrundschau

Als "Text von schier biblischer Wut und Wucht, Anklageschrift, Geschichtsstunde und Totenklage zugleich, zusammenmontiert aus Medienberichten, Aktenbefunden und Fakten, mythologisch und religiös aufgeladen bis zur Wunderlichkeit", erscheint dieses neue Werk aus der Feder Elfriede Jelineks Christine Dössel auf der Onlineseite der Süddeutschen Zeitung (28.9.2014, im Print in einer etwas längeren Fassung 29.9.2014). Johan Simons verweiger Bilder und Spiel. "Stattdessen packt er Jelineks Text bei seiner musikalischen Struktur, nimmt ihn als Partitur und macht aus dem Gerichtsprozess ein nachtschwarzes Oratorium." Der Abend im Ganzen ziehe "Kraft aus seiner Zartheit, seiner Menschlichkeit, seiner Ruhe und Konzentriertheit schöpft. Aus seiner Vergegenwärtigung des Todes. Der Toten. Was hier geleistet wird, ist intensive Trauerarbeit."

"Ein starkes Stück", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (29.9.2014). Als Puzzle von Diskursfragmenten mische der Text "Prozessprotokolle, Wirtschaftsprognosen, Bibelstellen und griechische Tragödie zum xenophoben Tratsch-und-Klatsch-Kränzchen". Der erfahrene Jelinek-Regisseur Johan Simons verhänge ein Bildverbot. Doch es entstünden Bilder im Kopf: "Zu Beginn erklimmt Stefan Hunstein die Bühne, ein hoch erregter Bürger und Bote, den Skandal des letzten dieser Morde voller Angstlust herausschreiend: das Internetcafé, die Blutlache, ein V-Mann, der nichts gehört und nichts gesehen haben will. 'Haben Sie wirklich nichts mitbekommen? Kann das sein? Echt?' Die Frage sitzt."

"Die Schauspieler lesen den Text ab und treten in Distanz dazu," schreibt Jeannette Neustadt in der Welt (29.9.2014). Das Textgewirr verwehre sich der Betroffenheit, nur selten mache es Platz für Emotionen oder Provokationen. "Doch schält man sich aus den Kammerspielen in das Theater auf der Straße davor, derzeit bespielt von ebenfalls folkloristisch anmutenden Oktoberfest-Dirndln, merkt man, dass dieser Abend einen ziemlich dicken Mantel von Beklommenheit zu werfen vermag."

Von einem "ungeheuren, pausenlosen Wortdurchfall" spricht Gerhard Stadelmaier in der FAZ (29.9.2014), einem "Kalauer-Evangelium nach Elfi", in welchem er "über Textflächen bis zum Erbrechen" rutschen musste. "Denn je mehr die Zeugin oder die Angeklagte Beate Z. schweigt, desto mehr erbricht die Dramatikerin stellvertretend für sie: Worte, Worte, nichts als Worte." Die kalte Ungeheuerlichkeit der Morde kontere Jelinek mit einer "ungeheuerlichen Heiligung". Da die Banalität der Bösen bei ihr "die große Bibelsegnung" erhalte, "die wohl sehr kritisch und sarkastisch gemeint ist, aber voll in die Entlarvungshose geht". Auf der Bühne der Münchner Kammerspiele, "wo sie in einem Restbestand der Jelinekschen Wortflut herumplantschen", riecht es Stadelmaier zufolge "schwer nach Schmock: Man will hier wohl irgendwie die deutsche Kultur als mitschuldig an den Morden entlarven – lebt aber offenbar ganz gut von ihr". Am Ende hört der Kritiker "jubelnden Gesinnungsbeifall" ausbrechen.

"Zschäpe schweigt - und Jelinek schreibt, schreibt, schreibt, insgesamt 224 Seiten lang": diese Rechnung macht Tobias Becker auf Spiegel-online (29.9.2014) auf, aus dessen Sicht dem Abend die Ratlosigkeit über die NSU-Morde tief eingeschrieben ist. Johan Simons trete "kräftig auf die Bremse, wieso auch immer, und nimmt seinen Regisseursfuß knapp zwei Stunden lang nicht mehr runter". Er habe den Text nicht nur radikal gekürzt. Auch versage er ihm die szenische Umsetzung. "Aus einem Hochenergie-Stück wird ein lähmend langsames Oratorium".

"Der Hauch von Orff'schem Schulwerk, der diese Inszenierung durchweht, wird vom Bühnen-Ambiente verstärkt," schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (29.9.2014), der Stück und Inszenierung als "ein irritierend-intuitives Porträt des Gegenwartsbewusstseins" empfindet. "Das Podium der Musiker trägt die Aufschrift 'Konservatorium'. Und ganz im Hintergrund steht eine Art selbstgebastelter Pappkarton-Tempel mit der Inschrift 'Erbschaftsamt'. Die Erinnerung an Turnhallen-Aufführungen der Theater-AG, die das weckt, sorgt – wohl ungewollt – für herrliche ironische Brechungen."

"Und doch, es funktioniert," schreibt Annette Walter in der taz (30.9.2014). "Vor allem, weil dieser Text durchweg mit sich selbst hadert. Ein gelungenes Mittel, um Jelineks Entsetzen über das Belogenwerden nach den jahrelang publizierten falschen Medienberichten über die Migranten-Morde zu transportieren, die Täuschung über Sprache, sei es vor Gericht oder im Privaten." Kokett entlarve sich die Autorin selbst als Unwissende: "Sie merken es schon, dass ich nichts weiß und nur so daherrede, eine Spaziergängerin der Sprache."

Kommentare  
#1 Das schweigende Mädchen, München: durchschaubarachherrje 2014-09-28 18:43
mein gott, ein sehr durchschaubarer langweiliger ansatz, ohne szenischen zugriff, ohne haltung. dröge. ich freue mich sehr auf streitbare arbeiten nach der simons "ära" bei lilienthal.
#2 Das schweigende Mädchen, München: auf die Schlange Musik starren@achherrje 2014-09-28 23:45
Das stimmt. Immer mehr verstecken sich die Regisseure hinter dem langweiligen "Konzertansatz". Und alle starren auf die Musik, wie auf eine Schlange. Das ist ein Sichretten in die Abstraktion. Das ist überflüssiges Theater mit erhobenem Zeigefinger noch dazu. Es ist schade, dass Johan Simons zu mehr nicht mehr fähig zu sein scheint, nachdem er doch früher mit ZT genau das Gegenteil praktizierte.
#3 Das schweigende Mädchen, München: makabres Kabarettberndsteets 2014-09-29 01:15
Jelineks makabres Kabarett, von Simons Truppe gekonnt interpretiert, aber ohne dem Thema NSU gerecht zu werden.
#4 Das schweigende Mädchen, München: langweiligZad Zaddy 2014-09-29 02:13
Wenn Simons nicht weiß, wie man einen Text spielen soll, dann soll er sich bitte einen anderen suchen. Zumal dieser Text auch längst nicht die Fokussiertheit und Sprachkraft anderer Jelinek-Texte hat.

Der Abend war mangels inszenatorischen Zugriffs schlicht langweilig.
#5 Das schweigende Mädchen, München: selbstgefälliger AbgesangPappsatt 2014-09-29 11:37
Seit Jahrzehnten buchen die größten und denkfaulsten Theater für jedes offensichtliche Problem der jüngsten Vergangenheit Elfriede Jelinek, die brav und verlässlich ihren aufgewärmten Eintopf mit kleinen Kotzbrocken liefert. Jelinek kann über alles schreiben und über alles gleich, ob über Natur- oder Finanzkatastrophen, Atomreaktoren, den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, Nazis. Ist eh eine Suppe, Sippe, Strippenzieher, Zieharmonika, altes Lied (diese Kalauer sind maschinell hergestellt). Ein selbstgefälliger Abgesang auf die Möglichkeiten des Dramas, Probleme in Konstellationen zu überführen und gesellschaftliche Verfahrensweisen und Strukturen aufzuzeigen. Stattdessen das gemischte Gerede vom trunkenen Medien-Stammtisch. Keine Handlung, kein Drama, ein Eintopf aus Halbverdautem. Die ewige Bestätigung der kleinbürgerlichen Einsicht, dass die da oben reden, was sie wollen, alles mit allem zusammenklebt und eh nichts zu machen ist. Danke, reicht schon. Pappsatt.
#6 Das schweigende Mädchen, München: auf dem SockelStaw 2014-09-29 13:16
Mal in die Runde gefragt. Ist das vielleicht nicht mehr ein Simons als ein Jelinek Problem?
Wenn man die Texte dieser Autorin, die diese ja auch immer als Spielmaterial zur Verfügung stellt, so sehr auf einen Sockel stellt und ihn auf seine Musikalität und nicht auf seine Reibung untersucht, muss er dann nicht alles bösartig funkelnde und verstörende verlieren? Vor allem wenn die erste Haltung zu diesem Text eine Betroffenheit über die Opfer zu sein scheint. Müsste man dazu nicht einen anderen Text befragen?
#7 Das schweigende Mädchen, München: wie in der DDRjoseph 2014-09-29 14:08
mal wieder hat dieses wunderbare theater mit seinem wunderbaren ensemble ein in meinen augen am ende seltsam entrücktes stück gezeigt, politik in der kunst so vorsichtig wie wir das früher in der ddr ertragen mußten. feines kunsthandwerk, betroffenheitstheater für gute menschen, still und betroffen den kopf schüttelend beim verlassen. ich kam mir vor, als würde ich einem 2-tägigen insider-workshop für spirituelle transzendenz,selbstliebe und emotionsarbeit zuschauen. pardon.
#8 Das schweigende Mädchen, München: ich stauneich staune 2014-09-30 21:48
da schreibt eine nobelpreisträgerin ein stück über eine schweigende nsu-täterin, da bekommt ein geltungssüchtiger salafistenprediger die talkshown bühne für sein wildes demagogisches geschwafel...
ehre wem ehre gebührt oder wie?
ich staune
#9 Das schweigende Mädchen, Gastspiel Berlin: LeerstelleSascha Krieger 2015-06-17 14:14
Johan Simons, so erzählt er im Programmheftinterview, hält den Text für nicht inszenierbar. So lässt er ihn lesen, nicht ohne Rollen anzudeuten. Da ist ein Richter, die Engel des Herrn, die Propheten, der meist stumm kauernde Jesus. Dahinter drei Musiker auf einer Bühne (Muriel Gerstner), die Jelineks Version des von den Mördern erfundenen „Spiels“ „Pogromly“, eine Nazi-Version von Monopoly, darstellt. Mal suchend, mal scharf dissonant, untermalen und untergraben sie den nicht endenden Wortschwall, der nirgendwo hin kann, weil er kreist und seine Mitte doch nicht fassen kann. Der Grund mag fest sein, doch der Untergrund ist es nicht, der (Migrations-)Hintergrund schon gar nicht. Der Text steht im Mittelpunkt und auch um ihn kreisen sie, stellen ihn in Frage, versuchen es mit Ernst, bürokratischer Pedanterie, ironischer Distanz und können die Leerstelle auch nicht füllen. Aber sie vermögen sie sichtbar zu machen und hörbar. Immer wieder bricht die Stille herein, bis am Ende der Richter sein „Guten Morgen!“ in den leeren Raum ruft. Die Wahrheit, um die sich alles dreht, bleibt nicht greifbar, aber sie ist da, in diesem schwarzen Loch im Zentrum, in den zehn ausgelöschten Leben, der Kultur des Wegsehens und Umschreibens der Realität, im Nicht-Sein-Können dessen, was nicht sein darf. In uns, in Deutschland.

Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2015/06/17/die-wahrheit-spricht-nicht/
#10 Das schweigende Mädchen, Gastspiel Berlin: rumpelnden RatlosigkeitK.K. 2015-06-17 16:38
Die Autorentheatertage, das Festival für Gegenwartsdramatik am Deutschen Theater Berlin, wählten in diesem Jahr den rechtsextremistischen Terror des NSU als ihr Schwerpunktthema.

Den Auftakt der Gastspiel-Reihe machte Das schweigende Mädchen der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die mit ihren Textflächen ein regelmäßiger Gast des Festivals ist.

Ausgangspunkt ihrer Assoziationen ist der NSU-Prozess am Münchner Landgericht: Zeugen, die sich merkwürdigerweise an nichts erinnern können; andere Stimmen, die beteuern, wie sympathisch das NSU-Trio immer aufgetreten sei; die fassungslosen Eltern; im Zentrum der Richter Manfred Götzl und eine konsequent jede Aussage verweigernde Beate Zschäpe. Dies bildet den Grundstock von Jelineks jüngster Collage.

In ausschweifenden Bögen vermischt sie dieses authentische Prozessmaterial mit Gedankenfetzen und Diskursschnipseln: über Deutschland als Export- und Fußballweltmeister, über die Identitätssuche der Menschen in den fünf ostdeutschen Ländern nach der Wende, über Mythen und deutsche Geschichte. Das Ganze wird mit biblischen Motiven angereichert: Beate Zschäpe erscheint als Jungfrau Maria, die beiden Uwes (Böhnhardt und Mundlos) als Erlöser, die den nationalistischen Traum vom deutschen Reich verwirklichen sollen. Eine Christusfigur und Propheten mischen sich neben dem Richter in den vielstimmigen Chor. Gemeinsam lesen sie die Textmassen wie von einer Partitur auf Notenständern ab, begleitet von Synthesizer, Violine und Piano, inmitten eines Bühnenbildes, das an Heidegger und das menschenverachtend-rassistische Gesellschaftsspiel “Pogromly” anspielt.

Diese schier nicht enden wollende Suada springt von Kalauern zu Allegorien und zurück, sie kreist um das entscheidende Rätsel: Wie konnte es geschehen, dass mitten in deutschen Großstädten zwölf Jahre lang eine Mordserie stattfand, die als “Dönermorde” abgetan und deren rechtsextremistisches Motiv nicht erkannt wurde? Was ist von einem Verfassungsschutz zu halten, der die Verfassung nicht ausreichend schützt?

Johan Simons, der regieführende Intendant der Münchner Kammerspiele, kam resigniert auf eine Probe, wie bei der Einführung berichtet wurde: Dieser Text sei nicht zu inszenieren. Die Textmasse wurde zwar von 224 auf 42 Seiten gekürzt. Anders als Nicolas Stemann, der mit seinem mutigen Zugriff auf Jelineks Flüchtlingsdrama Die Schutzbefohlenen überzeugte, lässt er dem Redeschwall ansonsten freien Lauf und das Publikum mit diesem Assoziationsgewitter allein.

Das Ergebnis ist ein zweistündiges Kreisen um Ungereimtheiten und offene Fragen: ein von kurzen Momenten des Schweigens durchbrochenes Rauschen, das nicht zum Kern der Wahrheit durchdringt und sich stattdessen in die nächste Gedankenschleife flüchtet. In seiner rumpelnden Ratlosigkeit gleicht der Abend dem realen Prozess vor dem Münchner Landgericht, der nach der großen Aufregung um das missglückte Akkreditierungsverfahren seit mehr als zwei Jahren als mediales Hintergrundrauschen andauert, sich immer wieder an denselben Fragen abarbeitet und sie doch nicht zu fassen bekommt. Die Person, die am ehesten zur Wahrheitsfindung beitragen könnte, schweigt beharrlich.

kulturblog.e-politik.de/archives/25237-nsu-schwerpunkt-bei-den-dt-autorentheatertagen-jelineks-das-schweigende-maedchen-mein-deutsches-deutsche-land-und-die-luecke-in-der-koelner-keupstrasse.html
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